Bildung

12 Jahre Schule so gut wie 13

 Die Debatte um das "Turbo"-Abitur reißt nicht ab.
Die Debatte um das "Turbo"-Abitur reißt nicht ab. © dpa picture alliance/ Armin Weigel
Bildungsforscherin Isabell van Ackeren im Gespräch mit Frank Meyer |
Schüler sind nach 12 Jahren Schulbankdrücken genauso fit fürs Studium wie nach 13 Jahren, sagt die Bildungsforscherinnen Isabell van Ackeren. Eine Studie, die sie mit Kolleginnen durchgeführt hatte, zeige auch bei der Persönlichkeitsentwicklung keine messbaren Unterschiede.
Frank Meyer: Die Mehrzahl der Eltern im Westen will ein G9-Abitur für ihre Kinder. Sind Abiturienten aber nach zwölf Jahren tatsächlich schlechter auf ihr Studium vorbereitet als nach 13 Jahren? Das wollten Bildungsforscherinnen an der Universität Duisburg-Essen wissen. Eine von ihnen ist die Professorin Isabell van Ackeren, und die ist jetzt in Essen für uns im Studio. Guten Tag, Frau van Ackeren!
Isabell van Ackeren: Guten Tag, Herr Meyer!
Meyer: Sie haben 3500 Erstsemesterstudenten an Ihrer Universität befragt, die hatten teilweise Abitur nach zwölf Jahren, teilweise nach 13 Jahren. Sie wollten feststellen, welche Kompetenzen diese Studierenden haben. Was war denn das Ergebnis?
von Ackeren: Wir haben fachliche, personale und soziale Voraussetzungen für das Studium mittels eines Fragebogens erhoben, und die Untersuchung weist auf keine substanziellen Unterschiede zwischen G8- und G9-Absolventen hinsichtlich der Studieneingangsvoraussetzungen hin. Den einzigen Unterschied – und das war jetzt wirklich erwartbar – sehen wir im Alter. Die Mehrheit der G8-Absolventen ist 18 Jahre alt, wobei wir auch noch einen großen Anteil 19-Jähriger haben, nur ganz wenige, die noch nicht volljährig sind, und bei G9 haben wir den Durchschnitt eben bei 19,6 Jahren. Also das ist der einzige zentrale Unterschied.
Meyer: Und ansonsten bei den Kompetenzen, da macht ein Jahr Schule überhaupt keinen Unterschied?
Abiturnoten verglichen
von Ackeren: In der Tat, wobei man bei den fachlichen Kompetenzen sicherlich auch noch mal differenzierter hinschauen kann. Wir haben erst mal grundlegend die Abiturnoten verglichen, haben aber weiterhin auch Kollegen der Sprachdidaktik an unserer Hochschule einbinden können, die führen regelmäßig Sprachkompetenztests in der Studieneingangsphase durch, also zum Textverstehen und zur Textproduktion von Studierenden. Und hier zeigen sich auch keine Unterschiede zwischen G8- und G9-Absolventen. Im kommenden Semester würden wir gerne auch noch Mathematikkompetenzen in den Blick nehmen, weil wir auch noch mal mit einem Schwung G8-Absolventen rechnen. Offensichtlich haben viele das Jahr jetzt auch genutzt, ins Ausland zu gehen oder andere Dinge zu tun.
Meyer: Jetzt kommt ja viel Widerstand gegen das Abitur nach zwölf Jahren oder G8 von den Eltern, die dann auch gar nicht mit den Kompetenzen ihrer Kinder argumentieren, sondern sagen, es bleibt zu wenig Zeit für anderes im Leben, für Musik oder Sport oder was auch immer. Und weil zu wenig Zeit bleibt, ist mein Kind gestresst. Das konnten Sie mit Ihrer Art Untersuchung auch nicht widerlegen, oder?
von Ackeren: Ja, dazu haben wir eine andere Untersuchung durchgeführt. Gemeinsam mit Kollegen der Universität Bochum haben wir Oberstufenschüler in Nordrhein-Westfalen im doppelten Abiturjahrgang wieder mit Fragebogen befragt zur Freizeitnutzung und eigenem Belastungserleben. Insgesamt fällt erst mal auf, dass die Schüler in G8 die Schulzeitverkürzung deutlich positiver bewerten als G9-Schüler, die von außen auf G8 schauen. Wir haben ein interessantes Freizeitverhalten: Die befragten G8-Schüler sind häufiger im Sportverein als die G9-Schülerinnen und -Schüler. Im musischen Bereich ist es ausgeglichen und auch beim sozialen Engagement. Einen Unterschied sehen wir: Wir haben deutlich mehr G9-Abiturienten, die regelmäßig in der Woche einem Nebenjob nachgehen, und das betrifft deutlich weniger G8-Schüler. Als es gibt offensichtlich Luft für den Nebenjob, und bei G8 eben weniger.
Meyer: Wir haben vor Kurzem mit einem anderen Bildungsforscher hier im Deutschlandradio Kultur gesprochen über diese Fragen, mit Heinz Elmar Tenorth, und er meint, dass bei diesen Diskussionen über die Dauer der Schulzeit die besondere Lebensphase, in der diese jungen Menschen nun einmal sind, dass die zu wenig berücksichtigt wird.
Heinz Elmar Tenorth: Das ist in der Phase, in der Jugendliche sind, die in die Adoleszenz kommen, das ist die wesentliche Krise vor dem Erwachsenwerden, da entwickelt man politisches und gesellschaftliches Bewusstsein. Wenn da die Zeit fehlt und die Ruhe, diese Adoleszenzkrise institutionell im Schonraum durchzubringen, dann geht ganz viel schief, und das merkt man langfristig und systematisch.
Meyer: Was sagen Sie zu dem Argument, dass die Schule den Jugendlichen in dieser Lebensphase auch Zeit bieten müssen, Freiraum bieten müsste, um ins Erwachsenenleben zu finden?
Positive Erfahrungen in ostdeutschen Bundesländern
von Ackeren: Das ist sicherlich eine grundsätzliche Perspektive, die richtig ist. Auf der anderen Seite kann man sagen: Es gibt ja positive Erfahrungen, wenn wir auf die ostdeutschen Bundesländer schauen, wo wir Leistungsergebnisse in den Blick nehmen können, keine Unterschiede sehen, aber auch international ist das zwölfjährige Abitur oder der entsprechende Abschluss auch Standard. Und wenn man sich mit Schulleitern beispielsweise unterhält oder auch mit Lehrkräften, dann wird dort auch berichtet, dass es gute Möglichkeiten gibt, mit G8 umzugehen und die Schule so zu gestalten, dass Schülerinnern und Schüler auch hinreichend viele Freiräume haben. Also offensichtlich kommt es auch ein Stück weit auf die einzelschulische organisatorische Gestaltung an.
Meyer: Ja, da argumentieren Sie wieder mit der Leistung, aber der Punkt, auf den Herr Thenorth ja sich bezogen hat, ist ja die Frage: Was heißt das für die Persönlichkeitsentwicklung, wenn diese Lebenszeit verdichtet wird bis zum Abitur? Er meint ja offenbar, dass man da auch Zeit braucht, Freiraum braucht, einfach um die Persönlichkeit zu entwickeln und auszureifen. Können Sie so was mit Ihren Studien überhaupt erfassen?
von Ackeren: Also wenn wir auf die Studie schauen zu den Studienanfängern, dann sehen wir keine Unterschiede in der Persönlichkeitsentwicklung, also am Ende der Schulkarriere sozusagen, und beim Freizeitverhalten sehen wir das auch nicht. Wir haben auch etwas früher schon gefragt, wir haben unter anderem die Schulen begleitet, die jetzt wieder auf G9 gegangen sind in Nordrhein-Westfalen, und sehen hier auch keine Unterschiede in der Bewertung der unterschiedlichen Schulzeit, die zur Verfügung steht. Also wenn man objektiv auf die Daten schaut, können wir das so nicht sehen.
Meyer: Und wie erklären Sie sich diesen großen Widerstand der Eltern, zum Teil ja auch der Lehrer gegen das G8-Abitur – in Westdeutschland, muss man ja immer sagen?
von Ackeren: In der Tat. Also das ist ein stark westdeutsch geprägter Diskurs. Ich glaube, es hat ein Stück weit zu tun mit insgesamt gestiegenen Bildungsaspirationen, also Erwartungen, was die eigenen Kinder erreichen sollen. Mit dem Gymnasium werden wohl die besten Karriereoptionen auch verbunden. Gleichzeitig ist die Frage der Schulzeit offensichtlich in der Wahrnehmung der Eltern mit besseren Fördermöglichkeiten verknüpft, wenn es mit G9 verbunden ist. Also G9 signalisiert den Eltern möglicherweise mehr Zeit für Übung, individuelle Förderung und letztlich größerem Schulerfolg.
Meyer: Vielleicht haben die Ängste der Eltern ja auch gar nicht so viel mit der Schule selbst zu tun, sondern mit dem Leben und der Arbeitswelt danach, dass man denkt, Arbeitsdruck, Konkurrenz, Stress, das wird noch schlimm genug im Job dann später. Da soll wenigstens die Zeit davor für mein Kind noch so eine Art Schutzraum sein.
Eltern wollen G8 reformieren, aber keinesfalls zurück zu G9
von Ackeren: Das kann durchaus ein Argument sein. Wie gesagt, es ist eine Perspektive, die in Westdeutschland stark formuliert wird. In ostdeutschen Bundesländern gibt es die Klagen so nicht, weil es offensichtlich ja auch eine andere Tradition gibt, ein anderes kulturelles Gedächtnis, könnte man vielleicht auch sagen, wo es eine andere Perspektive auf Schulzeit gibt. Das findet sich ja international auch. Also insofern nehme ich auch insgesamt einen differenzierten Diskurs wahr. Also die Elternverbände in Nordrhein-Westfalen sprechen sich zum Beispiel dafür aus, G8 zu reformieren, aber keinesfalls zu G9 zurückzukehren und stattdessen sehr viel stärker auf die Bedingungen an der Einzelschule zu schauen, was die Organisation von Hausaufgaben angeht oder die Rhythmisierung des Schulalltages.
Meyer: Jetzt werden wir ja wahrscheinlich die Situation bekommen, dass es viele verschiedene Angebote nebeneinander gibt, an einzelnen Schulen sogar, dass es G8-Gänge gibt und für andere Schüler G9 angeboten wird. Man könnte ja auch einfach sagen, das ist ein Zuwachs an Wahlmöglichkeiten – eigentlich gut in einem föderalen Land, oder?
von Ackeren: Ja. Es gibt andere Stimmen, die sagen, der Flickenteppich wird immer größer. In der Tat – der ist aber auch jetzt schon sehr groß, auch im gymnasialen Bereich. Wir haben schon unterschiedliche Lehrpläne in den Bundesländern, aber auch jede Schule hat wieder ein eigenes, schulinternes Curriculum. Die Stundentafeln unterscheiden sich, wir haben eine unterschiedliche Abfolge von Unterrichtsfächern, teilweise auch auf Einzelschulebene. Das heißt, entscheidend ist immer mehr die Einzelschule vor Ort. Das heißt, für mich aber auch, wenn man zum Beispiel die Schule wechselt, auch das Bundesland wechselt, dass es zunehmend wichtiger wird, zu beraten, zu schauen, welche Kompetenzen bringen Schülerinnen und Schüler mit, und dass sich die Gymnasien auch zunehmend damit auseinandersetzen müssen, dass sie individuell fördern müssen.
Meyer: In vielen westdeutschen Bundesländern geht es zurück zum Abitur nach 13 Jahren. Die Schüler sind nach 12 Jahren Schule genauso kompetent wie nach 13 Jahren. Das hat eine Untersuchung an der Universität Duisburg-Essen ergeben. Die Professorin Isabell van Ackeren hat diese Studie durchgeführt. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
von Ackeren: Ja, vielen Dank für Ihr Interesse!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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