Biennale mit OO-Effekt
Von Siegfried Forster · 18.09.2007
Frankreichs aufregendste Kunstbiennale trägt den verrätselten Titel "00s – The History of a Decade that has not yet been named". Abseits von Kunst- und Stilrichtungen will die 9. Biennale unser Jahrzehnt, das als Kunstepoche noch keinen Namen trägt, vom Nullpunkt aus betrachten. Neu ist dabei, dass es fast so viele Kuratoren wie Künstler gibt.
In der Sucrière, der alten Zuckerfabrik am Saône-Ufer, empfängt uns Jean-Pascal Flavien mit einem lebenden Ziegenbock, der toter Mann spielt. Etwas weiter hält Urs Fischer mit Hilfe eines lila leuchtenden Luftballons einen Kehrbesen magisch in der Schwebe.
Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla aus Puerto Rico blasen mit kakophonisch verjazzter Militärmusik aus einem Bunker den Biennale-Marsch: Ein virtuoser Bogen von der virtuellen Kunst-Avantgarde des Westens zur zentrumslosen, aber konkreten Global-Art, bemerkt Hans Ulrich Obrist, einer der beiden Biennale-Kuratoren:
"Wenn es einen Begriff gibt, der für mich dieses Jahrzehnt fasst oder in diesem Jahrzehnt eine wirklich große Rolle spielt, dann ist es der Begriff des Archipels. Ein Archipel – wie das ja auch Edouard Glissant beschreibt - ist eine Situation, wo man nicht eine Globalisierung hat, die Differenzen zum Verschwinden bringt. Man hat einen globalen Dialog, der aber Differenz produziert. Glissant nennt das mondialité."
Zwei Etagen höher betreten wir einen vollkommen abgedunkelten Raum. Beschallt von apokalyptischer Musik, die an Teufels-Austreibung erinnert. Über einen abfallenden Fußboden tasten wir uns zu einem minimal beleuchteten schwarzen Quadrat. Es ist weder eine Hölle noch das Mekka der Kunst, sondern eine Installation des Südafrikaners James Webb. Die Musik, die uns fast zum Wahnsinn treibt, ist nichts anderes als das Geräusch des Fahrstuhls der größten Goldmine Südafrikas. 00, eine Biennale mit OOOO-Effekt. Eine Biennale abseits von Kunst- und Stilrichtungen, die unser Jahrzehnt vom Nullpunkt aus betrachtet und sich zwischen Versuchsballon und schwarzem Loch bewegt.
"Es gab immer wieder Versuche: die Jahre 00... aber es gab noch nicht diesen Namen wie in den 60er, 70er, 80er, 90er Jahre, dass man diese Dezennien benennen könnte. Und deshalb auch hat Trisha Donnelly, die amerikanische Künstlerin, hier für Lyon eine Hymne komponiert, wo sie quasi diese 00 mit einem S phonetisch zu OOOOOOs, damit wird dieses Dezennium zu den Jahren OOOOOOs."
Ein Jahrzehnt, das noch keinen Namen, aber bereits Künstler und vor allem Kuratoren gefunden hat. Beim interaktiven Video- und Schatten-Spiel der Inderin Shila Gupta hageln den Besuchern Häuser und Glockenklänge auf den Kopf, bei der Biennale hagelt es an Kuratoren. 130 Biennalen existieren weltweit. Lyon wollte nicht einen weiteren Kuratoren auf das globale Kunst-Karussell setzen, sondern änderte die Spielregeln. Statt eines Masterplans gibt es nun multiple Selbst-Organisation, bekräftigt Thierry Raspail, der künstlerische Leiter der Biennale:
"Unsere Idee lautete: Wir haben 49 Kuratoren, die alle nur einen einzigen Künstler aussuchten. Einen Künstler, den sie besonders gut kennen und hinterfragen. Dadurch können wir innerhalb dieser Globalisierung wieder eine Nähe finden. Eine Globalisierung, die ansonsten nur auf das Entfernte, das sich Entfernen setzt. Das ändert vieles. Denn diese Biennale hat eine Struktur, die gleichzeitig global und individuell ist. Mit einer neuen künstlerischen Geographie."
"Selling out" – Ephemer-Künstler Tino Sehgal betreibt "Ausverkauf": verkörpert von einer blonden Striptease-Tänzerin als Bonus für die Besucher im zweiten Stock. Die Choreographen Annie Vigier & Franck Apertet lassen nackte Tänzerinnen und Tänzerinnen sich stundenlang durch einen Saal schlängeln. Begleitet von Betonsäulen und Aborigines-Techno und auf Einladung von Pierre Bal-Blanc – einer der 49 Gast-Kuratoren:
"Der Tanz kann innerhalb der zeitgenössischen Kunst eine Freiheit im Hinblick auf den Raum finden. Hier sind die Besucher frei, sie können herumlaufen, der Besucher hat ein vollkommen anderes Zeitverständnis.
(...) Für Freunde der plastischen Kunst kann der zeitgenössische Tanz eine völlig andere Praxis des Körpers vermitteln. Im Bereich der plastischen Kunst läuft die Vermittlung über ein Objekt, während hier direkt der Körper gefragt und anwesend ist. Die Präsenz und die Mobilität des Körpers ist für die plastischen Künstler etwas Neues."
Nichts weniger als ein neues Koordinaten-Netz will die Lyoner Biennale der Kunstwelt also verpassen. Auch Literatur-Schreck Michel Houellebecq darf daran teilnehmen. Von Rosemarie Trockel assistiert, zelebriert er lustvoll, wie widerlich sogenannte gottgewollte Natur sein kann. In abgedunkelten Schaukästen führt er vor, wie ein prähistorischer Bär einen Säugling zerfleischt, die Menschen stehen ohnmächtig daneben. Als Kontrapunkt dient Cao Fei. Der Star der neuen chinesischen Künstler-Generation verwandelt ein Militärzelt mit bunten Wipfeln und Steinbrocken in eine Video-Kapelle. Eine fiktive Reise vier junger Chinesen: wackelige Bilder und raue Dialoge rund um Sex, Drogen und Banalitäten – on the road in China – in Lyon 2 - 007.
Service:
Die Internationalen Kunstbiennale in Lyon findet vom 19.9.2007 bis 6.1.2008 statt.
Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla aus Puerto Rico blasen mit kakophonisch verjazzter Militärmusik aus einem Bunker den Biennale-Marsch: Ein virtuoser Bogen von der virtuellen Kunst-Avantgarde des Westens zur zentrumslosen, aber konkreten Global-Art, bemerkt Hans Ulrich Obrist, einer der beiden Biennale-Kuratoren:
"Wenn es einen Begriff gibt, der für mich dieses Jahrzehnt fasst oder in diesem Jahrzehnt eine wirklich große Rolle spielt, dann ist es der Begriff des Archipels. Ein Archipel – wie das ja auch Edouard Glissant beschreibt - ist eine Situation, wo man nicht eine Globalisierung hat, die Differenzen zum Verschwinden bringt. Man hat einen globalen Dialog, der aber Differenz produziert. Glissant nennt das mondialité."
Zwei Etagen höher betreten wir einen vollkommen abgedunkelten Raum. Beschallt von apokalyptischer Musik, die an Teufels-Austreibung erinnert. Über einen abfallenden Fußboden tasten wir uns zu einem minimal beleuchteten schwarzen Quadrat. Es ist weder eine Hölle noch das Mekka der Kunst, sondern eine Installation des Südafrikaners James Webb. Die Musik, die uns fast zum Wahnsinn treibt, ist nichts anderes als das Geräusch des Fahrstuhls der größten Goldmine Südafrikas. 00, eine Biennale mit OOOO-Effekt. Eine Biennale abseits von Kunst- und Stilrichtungen, die unser Jahrzehnt vom Nullpunkt aus betrachtet und sich zwischen Versuchsballon und schwarzem Loch bewegt.
"Es gab immer wieder Versuche: die Jahre 00... aber es gab noch nicht diesen Namen wie in den 60er, 70er, 80er, 90er Jahre, dass man diese Dezennien benennen könnte. Und deshalb auch hat Trisha Donnelly, die amerikanische Künstlerin, hier für Lyon eine Hymne komponiert, wo sie quasi diese 00 mit einem S phonetisch zu OOOOOOs, damit wird dieses Dezennium zu den Jahren OOOOOOs."
Ein Jahrzehnt, das noch keinen Namen, aber bereits Künstler und vor allem Kuratoren gefunden hat. Beim interaktiven Video- und Schatten-Spiel der Inderin Shila Gupta hageln den Besuchern Häuser und Glockenklänge auf den Kopf, bei der Biennale hagelt es an Kuratoren. 130 Biennalen existieren weltweit. Lyon wollte nicht einen weiteren Kuratoren auf das globale Kunst-Karussell setzen, sondern änderte die Spielregeln. Statt eines Masterplans gibt es nun multiple Selbst-Organisation, bekräftigt Thierry Raspail, der künstlerische Leiter der Biennale:
"Unsere Idee lautete: Wir haben 49 Kuratoren, die alle nur einen einzigen Künstler aussuchten. Einen Künstler, den sie besonders gut kennen und hinterfragen. Dadurch können wir innerhalb dieser Globalisierung wieder eine Nähe finden. Eine Globalisierung, die ansonsten nur auf das Entfernte, das sich Entfernen setzt. Das ändert vieles. Denn diese Biennale hat eine Struktur, die gleichzeitig global und individuell ist. Mit einer neuen künstlerischen Geographie."
"Selling out" – Ephemer-Künstler Tino Sehgal betreibt "Ausverkauf": verkörpert von einer blonden Striptease-Tänzerin als Bonus für die Besucher im zweiten Stock. Die Choreographen Annie Vigier & Franck Apertet lassen nackte Tänzerinnen und Tänzerinnen sich stundenlang durch einen Saal schlängeln. Begleitet von Betonsäulen und Aborigines-Techno und auf Einladung von Pierre Bal-Blanc – einer der 49 Gast-Kuratoren:
"Der Tanz kann innerhalb der zeitgenössischen Kunst eine Freiheit im Hinblick auf den Raum finden. Hier sind die Besucher frei, sie können herumlaufen, der Besucher hat ein vollkommen anderes Zeitverständnis.
(...) Für Freunde der plastischen Kunst kann der zeitgenössische Tanz eine völlig andere Praxis des Körpers vermitteln. Im Bereich der plastischen Kunst läuft die Vermittlung über ein Objekt, während hier direkt der Körper gefragt und anwesend ist. Die Präsenz und die Mobilität des Körpers ist für die plastischen Künstler etwas Neues."
Nichts weniger als ein neues Koordinaten-Netz will die Lyoner Biennale der Kunstwelt also verpassen. Auch Literatur-Schreck Michel Houellebecq darf daran teilnehmen. Von Rosemarie Trockel assistiert, zelebriert er lustvoll, wie widerlich sogenannte gottgewollte Natur sein kann. In abgedunkelten Schaukästen führt er vor, wie ein prähistorischer Bär einen Säugling zerfleischt, die Menschen stehen ohnmächtig daneben. Als Kontrapunkt dient Cao Fei. Der Star der neuen chinesischen Künstler-Generation verwandelt ein Militärzelt mit bunten Wipfeln und Steinbrocken in eine Video-Kapelle. Eine fiktive Reise vier junger Chinesen: wackelige Bilder und raue Dialoge rund um Sex, Drogen und Banalitäten – on the road in China – in Lyon 2 - 007.
Service:
Die Internationalen Kunstbiennale in Lyon findet vom 19.9.2007 bis 6.1.2008 statt.