Bibliotheken suchen ein neues Image

"Ein Ort für Menschen, nicht für Bücher"

Besucher der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin sitzen zwischen Bücherregalen.
Wie sieht die Zukunft der Bibliotheken aus? © dpa / picture alliance / Tim Brakemeier
Von Heinz-Jörg Graf · 15.01.2018
Einst als Ort der Wissensaneignung geschätzt, verändert die Bibliothek angesichts des digitalen Wandels dramatisch ihren Charakter. Früher standen die Bücher im Vordergrund, heute sind es die Besucher. Die Bibliothek wird zum Treffpunkt.
Wie ein Riesen-Ufo sieht das kantige Gebäude aus. Seine gläserne Außenhaut saugt den Blick ein und streut ihn nach innen. An der Decke glitzern unzählige Strahler, die Etagen leuchten warm, an den Fenstern stehen Sessel, Stühle und Tische. Der Blick von drinnen auf das Wasser nach draußen muss großartig sein.
"Dokk1" ist die größte öffentliche Bibliothek Skandinaviens. Sie steht im dänischen Aarhus, am ehemaligen Dock1. Dort, wo man früher Schiffe reparierte, werden heute Bücher ausgeliehen. Die Bibliothek ist allerdings mehr als eine Buchausleihe. Es ist das erste Haus am Platz, kein Hotel, sondern ein Bürgertreffpunkt ersten Ranges. 30.000 Quadratmeter - gut vier Fußballfelder groß - kann "Dokk1" bespielen. Zwei Drittel davon sind für Bücher reserviert, ein Drittel nehmen Arbeitsplätze und Veranstaltungsräume ein oder Spielflächen in der Kinderbibliothek.
Kulturzentrum und Bibliothek Dokk 1 in Aarhus
Kulturzentrum und Bibliothek: Dokk 1 in Aarhus© picture alliance/dpa / Robert B. Fishman
Das Ufo steht auf Betonfüßen. Eine breite Gangway führt zu einem kleinen Eingang. Durch die Schiebetür muss man fast hindurchzwängen, um in das Innere des Ufos zu gelangen. Dahinter empfängt ein geräumiges Foyer die Besucher.
An der Information wartet Rolf Hapel, der Ufo-Kapitän und Bibliotheksdirektor.
"Die Idee für dieses Gebäude war, dass es multifunktional angelegt sein sollte. Das ist seine DNA. Das Haus sollte sich an alle möglichen Arten von Zukunft anpassen können. Wer weiß, ob es in 50 Jahren noch Bücher gibt oder nicht. Vor allem sollte es ein Ort für Menschen sein, nicht für Bücher. Das ist der springende Punkt. Wir brauchen einen Ort, wo man sich aufhalten kann. Das ist uns mit diesem Gebäude gelungen."

Salon- statt Bücherei-Atmosphäre

Das Innere des Ufos ist ein großer, weiter Raum, ein heller, lichtvoller Ort, nur mit Holz und Beton gestaltet. Zwischen den Bücherregalen: kleine Sofainseln zum Lesen und Schmökern. Salon- statt Bücherei-Atmosphäre.
Obwohl die Nachfrage nach E-Books in Aarhus steigt, ist die Ausleihe von gedruckten Büchern nicht gesunken. Als Leitmedium der Wissensvermittlung verliert das Buch dennoch an Bedeutung. Jedenfalls spielt es in Aarhus nicht mehr die erste Geige.
"In einer Bibliothek geht es nicht um Bücher. Die meisten Menschen denken das, aber das ist ein Missverständnis. Nein, es geht um Wissenserwerb und um kulturelle Erfahrungen, die man in der Bibliothek sammeln kann. Bücher sind wie ein Instrument, mit dem man lernt. Sie sind Mittel zu einem Zweck, aber sie sind nicht der Zweck selbst. Und heute sind sie eben auch nicht mehr die einzigen Lernmittel. Es gibt viele andere, nicht nur Bücher."
Während im Erdgeschoss die Erwachsenenbibliothek und die Veranstaltungsräume untergebracht sind, liegen in der ersten Etage die Kinder- und Jugendbibliothek, die Werkstatträume und die Spielestraße.

Spielerisch Wissen aneignen

Gaming ist eine Wissensquelle, die für Ralf Hapel heute gleichwertig neben das Buch tritt.
"Also das ist unsere Spielestraße. Der Fußboden ist interaktiv konzipiert, da liegen ungefähr 15 verschiedene Spiele drauf. Es gibt Lern- und Spaßspiele. Heute ist es so, dass Wissenserwerb zunehmend spielerisch abläuft. Die Struktur, wie Netzinhalte interaktiv aufgebaut sind, die hat man sich von Spielen abgeschaut und geklaut. Durch Spielen lernt man, wie man – interaktiv - Beziehungen herstellt. Das wollen wir nutzen. Diesen Lernprozess wollen wir ermöglichen."
Gaming erweitert auch den Berufshorizont der Bibliothekare.
"Wir bieten Spielebauen als Lernaktivität an. Einer unserer Kinderbibliothekare kennt sich mit Spielen bestens aus. Er weiß, wie man sie entwickelt. Deshalb bieten wir Kurse für Kinder an, wie sie ihre eigenen Spiele kreieren können."
Nicht nur Spiele bietet "Dokk1" an, auch sogenannte "Maker spaces". Das sind Werkräume, in denen Kinder und Jugendliche unter Anleitung örtlicher Ingenieurstudenten hämmern, sägen und experimentieren können.

Bibliothek als demokratischer Ort

Im Mittelpunkt der Bibliothek stehen allerdings nicht Spiele und "Maker Spaces". Glanzpunkt sind die vielen Veranstaltungen, öffentliche wie private, die Bürger mit anderen Bürgern in Kontakt bringen.
"Die Bibliothek gehört der Bevölkerung. Sie ist ein demokratischer Ort. Ein Ort, wo man miteinander sprechen und aufeinandertreffen kann. Wo Menschen von anderen Menschen lernen können. Dieser Prozess interessiert uns sehr. Welches Wissen bringen unsere Besucher mit, wenn sie in die Bibliothek kommen? Wie können andere davon profitieren? Und wie können wir – als Bibliothek – das organisieren? Wir sind zum Beispiel eine Partnerschaft mit einer Musikschule eingegangen. Die kommen hier her und spielen manchmal oder veranstalten eine öffentliche Probe für die Besucher. Oder es gibt diese Jurastudenten, die kostenlosen Rechtsbeistand leisten."
Etwa 130 Partnerschaften unterhält die Bibliothek mit örtlichen Initiativen, Schulen und Vereinen. Ihre Räume stellt "Dokk1" auch Privatleuten zur Verfügung.
"Die Menschen in Aarhus können bei uns Räume mieten und Sitzungen abhalten. Kostenfrei. Wenn ein Verein einen Raum für eine Sitzung braucht, schaut er einfach auf unserer Webseite nach, ob einer frei ist und dann bucht er ihn."
Kein Wunder, dass die Besucherzahlen nach oben geschnellt sind, seit das Ufo vor drei Jahren in Aarhus gelandet ist.
"In der alten Bibliothek kamen knapp 500.000 Besucher pro Jahr. In der neuen erwarteten wir etwa 50 Prozent, das heißt, wir rechneten mit etwa 750.000 Besuchern. Im ersten Jahr kamen 1,3 Millionen Besucher und jetzt in unserem dritten Jahr liegen die Zahlen schon um 10 Prozent höher als 2016. Wir kommen mindesten auf 1,4 Millionen Besucher in diesem Jahr."

Licht und Leichtigkeit im "Dokk1"

Zu den Besuchern von "Dokk1" zählen auch Studenten der örtlichen Universität. Die Arbeitsplätze auf der ersten Etage sind begehrt. Meist lernen und büffeln die Studenten in kleinen Gruppen, manche sitzen auch für sich in Sesseln vor der Fensterfront, genießen den Blick auf den Hafen. Er ist tatsächlich großartig. Weit schweift das Auge über das Wasser. Der Besucher wird schnell von einer meditativen Stimmung erfasst. An diesem Ort kann er sich versenken - mit Laptop, in ein Buch oder einfach in sich selbst.
Von den Arbeitsplätzen ist es nicht weit bis zur Kinder- und Jugendbibliothek mit ihren Vorlese-, Spiel- und Tobeplätzen. Aber die einzelnen Bibliotheksreviere mit ihren unterschiedlichen Geräuschquellen kommen sich nicht in die Quere. Sie sind durch verschachtelte Wege und kleine Mauern voneinander abgegrenzt. Die Betonformen beziehen sich aufeinander, fließen spielerisch ineinander über. Eine beschwingte Leichtigkeit durchzieht den Ort.
"Wir haben uns sehr eng mit den Architekten abgesprochen. Wir haben uns Sorgen wegen der Akustik in diesen großen Räumen gemacht. Die Architekten versprachen uns, für eine gute Akustik zu sorgen. Wir waren skeptisch, aber sie haben es geschafft."
Das Vorbild für "Dokk1" steht für Rolf Hapel in Ägypten, im Alexandria der Antike.
"Die Bibliothek von Alexandria stellt man sich normalerweise als einen Ort vor, wo man Bücher und Papierrollen aufbewahrte. Aber tatsächlich war das ein Campus. Dort hielten sich gebildete Menschen auf, die diskutierten und voneinander lernten. Dazu lasen sie die Bücher und Papierrollen. Bücher sind also wirklich nützliche Lernmittel, aber es gibt so viele andere. Nehmen Sie zum Beispiel diese Radiosendung: Wenn man sie hört und mit dem Gehörten in einen inneren Dialog tritt, dann lernt man etwas. Das Radio ist kein Buch, aber eben auch ein Lernmittel."

Köln - die offene Stadtbibliothek

Köln ist durch seinen Karneval berühmt. Aber auch die Kölner Stadtbibliothek ist eine Institution. Sie ist in einem vierstöckigen Gebäude in der Nähe des Hauptbahnhofes zuhause. Die vier ineinander geschobenen Würfel sind ein Blickfang. Hannelore Vogt, die Bibliotheksdirektorin.
"Das Gebäude ist Baujahr 1979. Es wurde als Bibliothek gebaut, es ist ein sehr transparentes Gebäude, fast wie so ein Schaukasten mit sehr viel Glas, wo man von draußen nach drinnen, aber auch von drinnen nach draußen schauen kann."
Die Stadtbibliothek Köln am Abend
Die Stadtbibliothek Köln© picture alliance / dpa / Oliver Berg
Abends, wenn die Würfel hell erleuchtet sind, saugt der Blick sich auch in Köln am Fenster fest. Drinnen Menschen, die zwischen Bücherregalen wandeln oder an Tischen sitzen - lesend, denkend, sich unterhaltend. Während die Häuser ringsum ihr Innenleben verbergen, zeigt es die Bibliothek offen. Als ob ein Film abliefe mit abgestelltem Ton.
Die einzelnen Bibliotheksetagen sind klassisch-streng nach Sachgebieten geordnet. Erste Etage: Geschichte, Politik und Recht oder dritte Etage: Pädagogik, Philosophie und Medizin. Vorfreude, doch im Bauch auch ein leises Grummeln. Bilder von vollgestopften Bücherregalen, eng an eng gestellt, laufen durch den Kopf. Dann die Überraschung.
Von bedrängender Enge auf den Etagen keine Spur. Ein oval geschwungener Empfangstresen lädt zum Nähertreten ein. Freundlich blickende, abwartende Bibliothekarinnen. Die Regale halten gebührenden Abstand voneinander. Auf der Etage vereinzelt Computerstationen für die Recherche. Gedämpfter Ton. Sofainseln auch in Köln, hingesprenkelt zwischen den Regalen. In einer Ecke hat sich ein Mann in einen Soundsessel gefläzt und tippt mit seinem Zeigefinger traumverloren den Rhythmus einer Melodie mit. Eine entspannte Raumatmosphäre. Und Besucher, die sich darin offensichtlich wohlfühlen.

In Workshops Programmieren lernen

Doch diese Aufenthaltsqualität ist nicht der einzige Grund, warum die Kölner Einrichtung vor zwei Jahren zur "Bibliothek des Jahres" gekürt wurde.
"Hallo, hallo, mein Name ist Nau, ich gehöre zum ‚Maker Space‘ der Stadtbibliothek Köln. Dort zeige ich den Kölnern, was ein humanoider Roboter alles kann. Erwachsene und Kinder lernen mich zu programmieren und erfahren mehr über das Thema Robotik. Ich bin das Maskottchen von Vorlesestunden."
"Ich bin für den Nau zuständig."
Lisa Reiche leistet gerade ihr freiwilliges Jahr in der Kölner Stadtbibliothek. Hier bietet sie Programmierkurse an.
"Wir bieten Workshops an, Erwachsenen und Kindern. denen kann man das gut zeigen, da muss man nicht Informatik studiert haben, sondern das ist sehr anwendungsorientiert."
Auch Hannelore Vogt begeistert sich für digitale Zukunftstrends.
"Es ist eines meiner Lieblingsthemen, weil Bibliothek schon immer Wissen vermittelt und sich die Darbietungsform einfach verändert: Sie wird in den letzten Jahren rasant immer digitaler, und es ist unheimlich spannend, die Entwicklung zu beobachten: was ist relevant künftig für Bibliotheken und was ist relevant vor allem für die Bürger, was Digitales betrifft."

Immer am Puls der Zeit

Die Bibliotheksdirektorin hält sich auf dem Laufenden. Sie besucht Fachmessen und liest Trendberichte. Die jüngeren Mitarbeiter beobachten die Szene in der Stadt, messen dort den digitalen Puls der Zeit und registrieren aufmerksam, was angesagt ist. Dann entwickelt ein Mitarbeiterstab Anwendungskonzepte.
"Wir bieten hier Lernzirkel an. Die Menschen nutzen eben neue Lernformen wie E-Learning, aber sie möchten dann auch wieder mit anderen über das Gelernte sich austauschen. Deshalb Lernzirkel, wo man gemeinsam etwas anschaut und sich dann austauscht."
Angebote schaffen, die den Besucher digital an den analogen Ort Bibliothek locken, ist für Hannelore Vogt eine wichtige Aufgabe für die Bibliothek von heute. Mit Buchausleihe allein kann sie bei den Bürgern nicht mehr punkten. In Köln arbeitet man auch mit Schülern zusammen.
"Die heißen bei uns Junior Experten. Wir fragen sie, was könnt ihr Erwachsene lehren, und da haben die eine ganze Latte an Dingen: von Malen mit dem iPad bis hin: Wie mache ich eine Datei für den 3D-Drucker oder wie lege ich sichere Passwörter an, wie stelle ich ein E-Book her? Und diese Schüler geben dann für Erwachsene kostenlose Kurse und geben ihr Wissen weiter."
Auch in Köln gibt es einen "Maker Space", einen Werkraum, in dem Bibliotheksnutzer das Nähen lernen oder die Funktionsweise eines 3D-Druckers studieren können.
"Wir bieten für vieles die Infrastruktur, die Plattform, dass Leute lernen, aber auch ihr Wissen weitergeben können. Das reicht von einem Konzertflügel, den sie hier im Haus nutzen können bis hin zum 3D-Drucker, und die Vermittlung, wie funktioniert der 3D-Drucker - das übernehmen eben Bürger für andere Bürger."
Veranstaltet wurde auch schon ein "Science Slam".
"Wo junge Studierende oder junge Wissenschaftler in ganz lockerer Form in zehn Minuten ein hochkomplexes Thema darstellen müssen und das Publikum dann bewertet und Punkte gibt. Wo man dann einerseits das Publikum aktiviert - es sind nicht nur Konsumenten und hocken da -, aber auch Bürgern – in diesem Fall Studierenden - eine Bühne gibt, ihr Thema zu präsentieren. Super beliebt bei jungen Leuten."

Ein Ort, um gemeinsam zu lernen

Als die Kölner Stadtbibliothek 2015 vom Deutschen Bibliotheksverband zur Bibliothek des Jahres gekürt wurde, hieß es in der Begründung, dass die Bibliothek ihre innovativ-kreativen Ansätze stets in eine klare und stringente Strategie einbinde und dass sie den Mut habe, Neues auszuprobieren. Das gilt auch für den "offenen Montag". Früher war montags wegen Personalmangels montags geschlossen. Hannelore Vogt fuchste das.
"Wir haben ein Konzept entwickelt, dass die Bibliothek jetzt auch ohne Personal genutzt werden kann. Buchausleihe, Medienausleihe und Rückgabe ist elektronisch möglich, und wir haben super positive Erfahrungen damit gemacht. Jeden Montag kommen etwa 1700 Menschen, die dieses Haus als Ort benutzen, die hier lernen, gemeinsam lernen. Auch eine Entwicklung der letzten Jahre, dass gerade junge Leute, in Gruppen hier lernen. Wir können wirklich nur empfehlen: Macht die Häuser auf."
Auch in Köln sind die Besucherzahlen gestiegen. Von 500.000 auf 2,3 Millionen. Seit Hannelore Vogt vor neun Jahren die Leitung der Kölner Stadtbibliothek übernahm.
Das alte Geschäftsmodell der Bibliotheken – die Ausleihe von Büchern – ist heute unter Druck geraten.
Petra Büning leitet bei der Bezirksregierung Düsseldorf die Fachstelle für öffentliche Bibliotheken in Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig kümmert sie sich im Vorstand des Deutschen Bibliotheksverbands um die Belange kleiner und mittlerer Bibliotheken.
"Die Digitalisierung ist eine Herausforderung, wie es sie vorher noch nie gab. Also früher stand das Buch im Mittelpunkt, heute stehen die Menschen im Mittelpunkt, es geht um Vernetzung in der realen Welt, aber auch um Vernetzung in der digitalen Welt. Es geht darum, Partner zusammenzubringen … die Bibliothek wird zu einem offenen System."
Karteikästen in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden 
Karteikästen haben in der Bibliothek längst ausgedient.© imago / JOKER / PetraxSteuer

Abscheid vom Zettelkasten

Digitalisierung ist für Bibliotheken kein Fremdwort. Schon in den 1990er-Jahren fingen sie an, ihre Zettelkästen auf elektronisch umzustellen, sie hatten Datenbanken im Angebot und präsentierten ihre Häuser auf einer Webseite. Doch ihr altes Geschäftsmodell – die Buchausleihe – mussten sie noch nicht in Frage stellen. Erst der Bibliothekar-Tag 2008 in Erfurt rüttelte die Gemüter auf. Christoph Deeg war vor zehn Jahren dabei. Er ist Unternehmensberater und hilft Bibliotheken, den digitalen Transformationsprozess in ihren Häusern zu gestalten.
"Der große Sprung war, als wir in Erfurt eine Zukunftswerkstatt gebaut hatten, wo die Menschen plötzlich Spiele, Gaming, ausprobieren konnten, wo sie sich mit Social Media befasst haben, wo es viele Vorträge gab, und das hatte einen unglaublichen Impakt auf die Bibliothekswelt, einen Schub. Weil, ab da war es plötzlich da: Ein anderes Format. Es war ein Riesenhappening auf dieser Konferenz, und das hat eine große Welle erzeugt."
Plötzlich standen auch große Fragen im Raum.
"Wie muss eigentlich eine Bibliothek als Ort in der Zukunft funktionieren, wenn viele Medienbereiche wegfallen, weil sie digitalisiert zur Verfügung stehen und analog gar nicht mehr angeboten werden. Wenn gleichzeitig das Mediennutzungsverhalten der Menschen sich radikal ausweitet hin auch zu Medien, zu denen Bibliotheken keinen exklusiven Zugang mehr bieten können, also beispielsweise YouTube-Videos. Also, das war ein großer Schub. Es gab eine Fachdiskussion schon vorher, aber ab da wurde es richtig greifbar."

Ludwigshafen - Neustart nach Sanierung

Greifbar ist der Wechsel von einer analogen zu einer analog-digitalen Bibliothek inzwischen auch in Ludwigshafen geworden. Die Stadtbibliothek ist ein Jahr lang saniert, entkernt und modernisiert worden. Dann - im August 2017 – öffnete sie wieder ihre Türen. Mit einem neuen Konzept. Daran hat auch Christoph Deeg mitgearbeitet.
"Wir haben uns überlegt, was müssen an neuen Aktivitäten stattfinden für die Zukunft, wie sind die auch verbunden mit der digitalen Welt, spezielle Angebote für Menschen, die sich einfach nicht trauen, in die Bibliothek zu gehen, weil sie glauben, dass das ein sehr hochtrabender Bildungsort ist. Die sind aber im Digitalen gerne unterwegs."
Die Stadtbibliothek in Ludwigshafen sieht auf den ersten Blick gar nicht einladend aus. Eine mächtige Klinkerfassade blockt den Blick vom Inneren des Gebäudes ab. Die Haus wurde 1962 gebaut. Tanja Weissmann, die Bibliotheksdirektorin.
"Der Bibliotheksgedanke war damals noch ein ganz anderer. Der Architekt hat auch Kirchen gebaut ... In der Eingangshalle konnte man das sehen."
Die sah groß, imposant und etwas weihevoll aus, ein – wie man dachte - passendes Entrée für den Büchertempel der Stadt. Dahinter machte sich drangvolle Enge breit: vollgestellte Regale dicht an dicht. Das hat sich mit dem Umbau der Bibliothek verändert.
"Natürlich spielen Bücher nach wie vor eine große Rolle in unserer Bibliothek, aber wir sehen uns auch als einen Ort, wo sich Leute treffen können und wo eine hohe Aufenthaltsqualität da ist, und wir stellen zunehmend fest, dass sich die Menschen auch länger in der Bibliothek aufhalten als früher."

Neue Räume bieten neue Freiräume

Zum Beispiel in der Jugendbibliothek des Hauses. Die Bibliothekarin Annabell Huwig:
"Wir haben einen tollen, neuen, jungen Raum, wir nennen ihn den Freiraum. Freiraum ist unsere Jugendbibliothek, die haben wir selber eingerichtet, nachdem wir unsere Clubs gefragt haben, was wollt ihr? Also, ein bisschen Vintage stylemäßiug, dass die einfach ihren eigenen Raum haben, der Raum hat Sofas, lauschige Teppiche, dass sie Anreize haben, länger zu bleiben und sich auszutauschen."
Der "Freiraum" gefällt den Jugendlichen. Vor einiger Zeit schnappte Tanja Weissmann ein Gespräch auf. Sagte der eine Jugendliche: Hach, ist aber heute viel los hier. Antwortete der andere: Na ja, die Bibliothek ist ja auch cool.
Dänische Lässigkeit hat nicht nur Köln erreicht, sondern jetzt auch Rheinland-Pfalz. Heute prägt das Innere der Ludwigshafener Stadtbibliothek ein funktionales Design. Es wirkt klar und offen, drängt sich nicht auf. Lädt dezent ein. Bietet Raum.
Die Lust am Lesen wecken – auch in Ludwigshafen ist das nach wie vor eine Hauptaufgabe der Bibliothek. Dabei werden analoge Medien mit digitalen kreativ verknüpft. Etwa in dem Projekt "Spiel mir den Film zum Buch".
"Kinder aus Jugendeinrichtungen konnten sich ein Buch aussuchen, mit dem sie sich beschäftigen wollten. Sie mussten das Buch lesen und konnten es dann szenisch umsetzen in Form von Interviews oder Darstellungen. Das wurde dann als Video aufgenommen professionell. Dann haben wir es in YouTube gestellt. Eine nächste Gruppe konnte aus dieser Auswahl sich wieder ein Buch aussuchen und das in MineCraft, ein Computerspiel, umsetzen. MineCraft ist so aufgebaut, dass man verschiedene Welten aufbauen kann, ganze Städte, wenn man möchte. Die Kinder waren begeistert und unheimlich stolz auf ihre Ergebnisse."
Miray (l) und Denizcan durchsuchen am 14.03.2017 in der Kinderbibliothek im Zukunftshaus Wedding im Paul Gerhardt Stift in Berlin ein Bücherregal nach ihren Lieblingsbüchern.
Die Kinderbibliothek im Zukunftshaus Wedding© dpa/picture-alliance/Gregor Fischer

Kinder werden zu treuen Besuchern

Für ihr Projekt "Spiel mir den Film zum Buch" wurde die Ludwigshafener Stadtbibliothek von der "Stiftung Medienkompetenz" ausgezeichnet. Mehr als über diese Auszeichnung dürften Tanja Weissmann und ihre Mitarbeiter sich allerdings darüber gefreut haben, dass die Bibliothek für die teilnehmenden Kinder inzwischen zu einem wichtigen Anlaufpunkt geworden ist; sie sind zu treuen Besuchern geworden.
Das Herzstück der Ludwigshafener Stadtbibliothek ist die sogenannte Ideenwerkstatt. Sie liegt im vierten Stock. Für Annabell Huwig ist hier die Zukunft der Bibliothek zuhause.
"Es geht darum, dass wir einen Ort haben, wo Leute verschiedene Dinge lernen können, sowohl digitale als auch analoge. Wir haben zum Beispiel Kurse über: Wie nutze ich ein Photoshop Programm? Wir haben Kurse zur Programmierung von Apps, aber auch Kurse zum Nähen, Basteln und zum Bauen."
Das konzeptionell Neue an der "Ideenwerkstatt" ist, dass sie gezielt Communities im Netz anspricht und ihnen in der Stadtbibliothek eine analoge Heimat bietet.
"Das ist toll für die Leute, vor Ort eine Community zu haben, die die gleichen Interessen hat. Na klar ist es schön, auf Facebook darüber zu schreiben, aber vor Ort hast du einfach mehr dieses Gefühl von einer Gruppe zu sein."
Die junge Bibliothekarin weiß, wovon sie spricht. Sie selbst ist eine bekannte Cosplayerin. Auf Facebook hat "Belcassara", so der Künstlername der Bibliothekarin, über 100.000 Follower.
"Cosplaying ist ein Hobby, in dem es darum geht, Kostüme aus verschiedenen Serien nachzunähen. Also, das kann ‚Game of Throne‘ sein, das kann Batmann sein, das kann auch ein Disney Film sein. Wir schneidern die Kostüme nach, stylen uns und machen Fotos, die ähnlich aussehen wie die Charaktere in den Serien."
Cosplayers sind eine große Online-Community. In Ludwigshafen sind sie auch offline aktiv. In der "Ideenwerkstatt".
"Wir bieten den Leuten, die gerne Kostüme machen möchten, bei uns die Möglichkeit, im Cosplay-Klub sich zu treffen. Wir haben die Nähmaschinen, wir haben die Materialien und bei können sie lernen, wie man die Nähmaschine bedient, wie ich anfange, mir ein Schnittmuster zu machen und Ähnliches."

"Bei uns boomt das Leben"

Annabell Huwig ist von der "Ideenwerkstatt" begeistert. Die Zukunft der Bibliothek stellt sie sich so vor:
"Ich möchte gerne, dass ‚in die Bibliothek gehen‘ genauso normal wird wie in den Supermarkt oder ins Kino gehen. Dass jeder sich wiederfindet in der Bibliothek. Dass seine Interessen gewürdigt werden, dass man nicht geheim mit seinen Freunden etwas macht, sondern zu uns kommt, uns sieht wie sein eigenes kleines Wohnzimmer."
"Das ist pure Lebensfreude. Metal drückt einfach Gefühle aus, das ist sehr emotional, und ich denke auch, dass wir ein emotionaler Ort sein möchten. Bei uns boomt das Leben".
Auch in Ludwigshafen drückt sich das in Zahlen aus. Seit Neueröffnung der Bibliothek im August 2017 haben sie sich rasant nach oben entwickelt. Tanja Weissmann:
"Wir haben jetzt 80.000 Benutzer allein in den letzten drei Monaten, über 1300 pro Tag. Das haben wir in den vergangenen Jahren nicht mehr geschafft, also da waren wir deutlich bei 600 Benutzern pro Tag."
Die Bibliotheken erfinden sich gerade neu. Nicht nur in Deutschland, auch in China, Neuseeland oder Indien. Rolf Hapel, der Direktor von "Dokk1" im dänischen Aarhus, empfing 2016 Delegationen aus über 40 Ländern, die sein Bibliothekskonzept kennen lernen wollten. Auch in Ludwigshafen standen schon Gäste vor der Tür: Bibliothekare von Goethe-Instituten in Polen und Ägypten.

Die Bibliotheken und der digitale Wandel

Die meisten treibt die Frage um, wie Bibliotheken in Zeiten digitalen Wandels überleben können. Die Antwort, die sie hören - zumindest in Aarhus, Köln und Ludwigshafen -, ist immer die gleiche: Man möge doch den Bibliotheksort öffnen und den Bedürfnissen der Kunden Rechnung tragen.
Der Unternehmensberater Christoph Deeg.
"Die Buchkultur war ja bis dato eine Buchkultur des Bildungsbürgertums, die ganz auf diese Zielgruppe gesetzt hat, und das wird jetzt massiv aufgebrochen. Man kann nicht mehr sagen, es gibt diesen einen Weg, diese besondere Buchkultur, sondern die ist divers geworden."
Die neue diverse Kultur mutet einerseits modern an. Neben das Buch tritt jetzt auch selbstbewusst das Spiel als Wissensvermittler. Andererseits fühlt es sich auch seltsam rückwärtsgewandt an: Wenn das Heil der Bibliotheken jetzt auch in Näh- und Bastelkursen gesucht wird. Ein Widerspruch muss das nicht sein. Je mehr der digitale Wandel der Gesellschaft seinen Stempel aufdrückt, desto stärker scheint die Sehnsucht nach einem physischen Ort zu wachsen, der eine sesshafte Heimat bietet. Auch nach einem Ort, der in der digitalen Medienflut einen analogen Anker setzt.
Eigentlich gute Zukunftsaussichten für die Bibliothek.
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