Urbaner Wandel
Innenansicht der Stuttgarter Stadtbibliothek am Mailänder Platz, entworfen von dem koreanischen Architekten Eun Young Yi. © picture alliance / NurPhoto / Michael Nguyen
Moderne Bibliotheken: multifunktional und sozial

In Zeiten der Digitalisierung brauchen immer weniger Menschen eine reine Bücherausleihe. Dieser Wandel hat Bibliotheken völlig neue Chancen eröffnet: Sie sind zu Treffpunkten und Oasen des Verweilens geworden, mit vielerlei weiteren Funktionen.
In den letzten Jahren sind immer mehr Stadt-, Museums- und Unibibliotheken zu regelrechten Wohlfühlorten geworden. Vorbei die Zeiten der strengen Bibliothekare, von „Ruhe bitte!“ und meterhohen Bücherwänden in stickigen, abgedunkelten Räumen: Wie sich die Kultur der Bibliotheken verändert hat.
Inhalt
Die Stadtbibliothek als Ort für alle
Die Buchausleihe, diverse Lektüreclubs oder Märchenstunden für Kinder gab es in der Bezirksbibliothek Gabriel García Márquez in Barcelona schon immer. Doch in den letzten Jahren kamen immer mehr Angebote dazu: digitale Schulungen für Erwachsene, Workshops zum Erkennen von Fake News für Jugendliche und vieles mehr. Und in den Studios im Keller werden Literatur-Podcasts produziert.
Die preisgekrönte Architektur der Bibliothek dient Touristen und Einheimischen als Hintergrund für schicke Instagram-Fotos. Jugendliche halten hier gerne ein Nickerchen in einer der vielen Hängematten oder zocken Videospiele, ältere Anwohner schätzen den kühlen Ort als Klima-Refugium an heißen Tagen. Die Bibliothek ist zu einem lebendigen Treffpunkt der Anwohner geworden, wie Direktorin Neus Castellano berichtet. Im alten Arbeiterviertel La Verneda i La Pau sind die Menschen stolz auf diesen Ort. Sie nennen ihn „unser Guggenheim“.
Mit der Zeit gehen: Die Form folgt der Funktion
Die mehrfach preisgekrönte Bibliothek in Barcelona ist kein Einzelfall. Die Außen- und Innenarchitektur moderner Bibliotheken repräsentiert die sich wandelnden Funktionen der ehemaligen Büchertempel. Dazu gehören informelle Sitzgelegenheiten wie Sessel, Schaukelstühle oder Liegelandschaften. Die Bücherregale sind meist so niedrig, dass der Blick durch den Raum streifen kann. Auch Hinterhofgärten, lichte Innenhöfe, offene Treppenhäuser und – wie im Fall der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen – spektakuläre Ausblicke gehören heutzutage zu den Vorzügen eines Bibliotheksbesuchs.

Innenansicht der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. © picture alliance / Global Travel Images / Jürgen Held
Bei allem Wandel: Ihrer Hauptfunktion kommen Bibliotheken immer noch nach. Die Biblioteca García Márquez verzeichnet sogar 13 Prozent mehr Ausleihen seit der Coronapandemie. Trotzdem nehmen die Bücher dort immer weniger Platz weg - dank eines ausgeklügelten, kostenlosen Kuriersystems der Bezirksbibliotheken.
Die Unibib: beliebter Hub für Studierende
Nicht nur die kommunalen, auch die Uni-Bibliotheken sind gut besucht, in Deutschland erleben sie seit einigen Jahren geradezu einen Boom. Obwohl immer weniger Studierende Bücher abholen und zurückbringen müssen, kann es passieren, dass zu Klausurzeiten kein Platz mehr frei ist. Die Uni-Bibliotheken werden nicht mehr nur als Lernräume genutzt, sondern sind inzwischen auch Orte des sozialen Austauschs.
„Wir beobachten seit 15 Jahren, dass die Räumlichkeiten immer voller und beliebter werden, und das, obwohl der gedruckte Bestand in seiner Bedeutung ja nachlässt“, berichtet Klaus Rainer Brinsinger, Leiter der Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Der Andrang ist tatsächlich so groß, dass die LMU Konzepte einführen musste, um Warteschlangen zu vermeiden: In der Prüfungsphase kann man seinen Platz jetzt vorab online buchen - oder man schaut beim Online-Platzfinder mit Ampelsystem, wie hoch die Auslastung an bestimmten Standorten ist.

Bibliothek des Philologicums in München.© picture alliance / SZ Photo / Catherina Hess
Brinsinger erklärt sich den Bib-Boom damit, dass Studierende das gemeinsame Lernen sehr schätzen. Das Studium habe sich verändert, Kooperation in Form von Lern- und Arbeitsgruppen eine große Bedeutung bekommen. Die Uni hat darauf reagiert, mit einem Angebot von ganz verschiedenen Arbeitsplätzen unterschiedlichster Aufenthaltsqualität.
Von Haus aus nachhaltig
Das Grundprinzip von Bibliotheken lautet: leihen statt kaufen. Bibliotheken waren schon nachhaltig, bevor es den Begriff überhaupt gab. Neben gedruckten Büchern aller Art stellen Bibliotheken auch E-Books, Videospiele, DVDs und Informationen für alle zur Verfügung. Dazu kommt Infrastruktur in Form von Computerarbeitsplätzen.
Immer mehr Bibliotheken bieten nun auch den Austausch von Saatgut an. Eine der ersten war eine Bibliothek in Bad Oldesloe, die sich mit lokalen Initiativen zusammengetan hatte.
Auch die "Bibliothek der Dinge" gibt es inzwischen: Sachen, die man vielleicht einmal im Jahr braucht, leihen öffentliche Bibliotheken oft ebenfalls aus. In der Stadtbibliothek Berlin-Pankow ist der Dauerbrenner eine Zuckerwattemaschine.
Neben ökologischer Nachhaltigkeit punkten Bibliotheken auch in Sachen sozialer Nachhaltigkeit, denn sie sind niedrigschwellig: Ihre Türen sind immer offen, man kann einfach reingehen, sich darin aufhalten und muss nichts konsumieren. Will man irgendwann doch einen Leseausweis haben, ist dieser kostengünstig und für Kinder und Jugendliche oft umsonst. Unabhängig vom Geldbeutel kann jeder alle Angebote nutzen. So sorgen Bibliotheken für den sozialen Kitt eines Stadtviertels oder einer Gemeinde: Hier treffen Rentner auf Kinder, Obdachlose auf Studierende, Arbeiter auf Professoren.
Finanzierung auf wackeligen Füßen
Trotz der wachsenden Bedeutung ist der Erhalt von Bibliotheken allerdings keine Selbstverständlichkeit mehr. Als freiwillige Aufgabe der Kommunen ist der Unterhalt öffentlicher Bibliotheken besonders gefährdet. Im Jahr 2024 hat der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) eine Umfrage unter seinen Mitgliedern durchgeführt und angesichts der Krise kommunaler Haushalte vor finanziellen Kürzungen bei den öffentlichen Bibliotheken gewarnt.
Der dbv-Bundesvorsitzende Volker Heller forderte Bund, Länder und Kommunen dazu auf, zukunftsfeste Lösungen für die Finanzierung von Bibliotheken zu entwickeln, damit diese ihrem Auftrag auch in Krisenzeiten nachkommen können. Es brauche starke Bibliotheken, um Bildungsgerechtigkeit und Medienkompetenz im Umgang mit Desinformation zu fördern.
Laut dbv hat sich die Lage nach Jahren der Einsparungen und stagnierender Budgets verschärft: Knapp ein Drittel der befragten öffentlichen Bibliotheken sind in diesem Jahr von Haushaltskonsolidierungen betroffen.
pj