Beziehungsreiches Vermächtnis

Von Lydia Rilling · 17.04.2013
In seinen letzten drei Klaviersonaten ist Schuberts kompositorische Reflexion über Beethoven allgegenwärtig. Doch sie erweist sich weniger als Annäherung denn als Emanzipation vom übermächtigen Kollegen. Auch in der Sonate in B-Dur D 960 schimmert die Beschäftigung mit Beethoven überall durch die Textur hindurch.
"Er hat genug gethan, und gepriesen sei, wer wie er gestrebt und vollendet," rühmte Robert Schumann 1838 in einer Rezension von Franz Schuberts letzten drei Klaviersonaten seinen zehn Jahre zuvor verstorbenen Kollegen. Bei seinem frühen Tod mit 31 Jahren hatte Schubert in der Tat ein verblüffend großes Œuvre hinterlassen – von acht Sinfonien über ein umfangreiches Kammermusikwerk bis zu bahnbrechenden Liederzyklen.

Auch wenn ihm das Klavier als wichtigstes Ausdrucksmittel diente, hatte er sich der Klaviersonate jedoch erst vergleichsweise spät zugewandt. In seinem letzten Lebensjahr kehrte er noch einmal zur Gattung zurück und komponierte zwischen Mai und September 1828 seine drei eigenwilligsten Klaviersonaten. Als Trias konzipiert, sind die drei Werke auf mannigfaltige Weise – zum Beispiel durch Themen, Motive oder Tonarten – so eng miteinander verbunden, dass sie ein eigenes Beziehungsnetz formen.

Schubert hat dieses Netz zugleich noch viel weiter ausgespannt, indem er seine Sonatentrias als Pendant zu Ludwig van Beethovens letzten drei Sonaten op. 109-111 schrieb. Beethoven sollte für ihn zeitlebens ein Fixstern bleiben – ein Vorbild, von dem es sich bei aller Bewunderung aber auch zu emanzipieren galt. Es war sicher kein Zufall, dass Schubert ausgerechnet am ersten Jahrestag von Beethovens Tod, am 26. März 1828, sein erstes großes, öffentliches Konzert mit ausschließlich eigenen Werken in Wien veranstaltete.

In seinen letzten drei Klaviersonaten ist die kompositorische Reflexion über Beethoven allgegenwärtig. Doch sie erweist sich weniger als Annäherung denn als Emanzipation vom übermächtigen Kollegen und damit, wie Andreas Krause bemerkt, als "Zeugnis des Selbstvertrauens wie des Selbstverständnisses in der Beethoven-Nachfolge".

Auch in der Sonate in B-Dur D 960 schimmert die Beschäftigung mit Beethoven überall durch die Textur hindurch und wird zuweilen auch ganz ohrenfällig, wenn beispielsweise der Beginn des Finales nur allzu deutlich an das Finale von Beethovens Streichquartett op. 130 anklingt, das Beethoven anstelle der als zu schwierig geltenden Großen Fuge nachkomponiert hatte. Neben dem Streichquartett Nr. 15 ist dieser Satz die letzte Komposition, die Beethoven vollendete. Es gehört zu den merkwürdigen Fügungen der Musikgeschichte, dass Schubert genau in derjenigen Klaviersonate an diesen Satz anknüpfte, die seine eigene letzte Instrumentalkomposition werden sollte.

Schon der Beginn des Kopfsatzes demonstriert, wie frei sich Schubert einer Beethoven’schen Frage annimmt, nämlich der Versöhnung von Kantabilität und thematischer Abhandlung, und dabei seine eigene Haltung zeigt. Eröffnet wird das Molto Moderato von einer lyrischen Kantilene, die sich anfangs allerdings noch in einem sehr engen und statischen Klangraum bewegen muss, fast schon eingesperrt zwischen einem repetitiven Ostinato in der linken und einem Quintoktav-Klang in der rechten Hand.

Ein Triller im Bass deutet bereits einen Ausbruch aus diesem fest geordneten Gefüge an, das zunächst noch einmal wiederholt wird. Aber ab Takt 20 kann die Melodie schließlich frei schwingen und ihre Kantabilität weit ausspannen, befreit aus dem Quintoktav-Klang wie von der starren Ostinatobegleitung.

Zugleich inszeniert Schubert ein enharmonisches Verwirrspiel, wenn er bewusst die Richtung der Modulationen verschleiert. Bereits in früheren Sonaten hatte er zuweilen drei anstelle von zwei Themen in der Exposition verwandt, und damit die Polarität von Tonika und Dominante, auf der die klassische Sonatenexposition beruht, untergraben. Durch die enharmonische Verschleierung distanziert er sich nun noch stärker von der klassischen Sonatenexposition.

Auch in der Durchführung entfernt er sich von klassischen Verfahren. Anders als seine Vorgänger analysiert und zerlegt er die Themen nicht, sondern spinnt die Motive assoziativ immer weiter fort. Aus Splittern der Motive entstehen wieder neue musikalische Gestalten. Nicht zuletzt hieraus folgt die große Weiträumigkeit des Kopfsatzes, die Robert Schumann schon in seiner Rezension von 1838 beschreibt:

"Als könne es gar kein Ende haben, nie verlegen um die Folge, immer musikalisch und gesangreich rieselt es von Seite zu Seite weiter, hier und da durch einzelne heftigere Regungen unterbrochen, die sich aber schnell wieder beruhigen."

Es ist immer wieder versucht worden, Schuberts letzte Kompositionen als Spätwerk zu interpretieren und Vorahnungen des bald nahenden Todes in ihnen zu erkennen. Doch das wäre ein retrospektiver, biographischer Kurzschluss, denn Finalität oder gar Lebensmüdigkeit lassen sich in der Musik keineswegs ausmachen. Sicherlich aber die künstlerische Reife eines Komponisten, der seine eigenen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten ins Extrem zu erweitern wusste.

Zweifellos hat Schubert "die dunkle Seite des Glücksanspruchs" in "Obsessionen, Ängsten, Bedrohungen, Gefühlen von Verlorenheit, Öde und Ausgesetztsein [...] in vordem unbekannter Dosis und Eindringlichkeit bemerkbar [ge]macht" (Peter Gülke). Vor allem im Finale können die Schattierungen des Tons und der Farbe innerhalb eines Wimpernschlags wechseln.

Schuberts Musik entfaltet dabei das ganze Spektrum der menschlichen Gefühle und berührt und überwältigt durch ihren Reichtum an Empfindungen – im schnellen Wechsel von tiefem Schmerz und überschwänglicher Freude, von Melancholie, Gedankenschwere und überbordender Lebenskraft, von Abgründen und Glücksausbrüchen, von Nachdenklichkeit und Innerlichkeit. Im Laufe von vierzig Minuten bietet Schuberts Sonate die Fülle eines ganzen Lebens.
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