Bewusstseins-Stenogramm

Rezensiert von Jörg Magenau |
Dies ist das vierte Buch des in Freiburg lebenden Autors Martin Gülich. Darin fungiert der Gehilfe einer pathologischen Abteilung als Ich-Erzähler. Seine Behausung schmückt er mit toten Schmetterlingen und den Bildern nackter Frauen. Gülich betreibt mit diesem Bewusstseinsstenogramm eine Innenschau, die eine eher trostlose Figur plausibel macht.
Im Fernsehen sind Pathologen seit einiger Zeit sehr gefragt. Kaum eine Krimiserie kommt ohne einen Vertreter dieser Berufsgruppe aus, die das Geheimnis eines Verbrechens und das Rätsel des Lebens aus den Körpern der Toten herauspräparieren. So ist es nicht verwunderlich, wenn nun auch die Literatur ins Arbeitsgebiet der Pathologie vordringt. Die chromblitzenden Utensilien, die Kühlregale und die Körper der Toten, die fachgerecht in ihre Einzelteile zerlegt werden, bieten einen wohlfeilen Grusel, auf dem sich eine spannende Geschichte aufbauen lässt.

Martin Gülichs „Die Umarmung“ ist so ein Fall. „Die Umarmung“ ist bereits das vierte Buch des 1963 in Karlsruhe geborenen und heute in Freiburg lebenden Autors. Für den Roman „Bellinzona“ erhielt Gülich 2003 den Thaddäus-Troll-Preis. Renommee erwarb er sich zudem als Herausgeber der Literaturzeitschrift „Konzepte“. Seine unter dem Titel „Bagatellen“ erschienene Kurz- und Kürzestprosa brachten ihm zuletzt Kritiker-Lob ein, größere öffentliche Aufmerksamkeit blieb jedoch aus.

„Die Umarmung“ wird von seinem neuen Verlag Schöffling & Co nun als Roman angepriesen, doch handelt es sich eher um eine Erzählung. Das Personal ist überschaubar, die Orte des Geschehens sind beschränkt, und eigentlich gibt es nur einen Handlungsstrang. Das Drama spitzt sich zu und endet mit einer Katastrophe, die nur dem Helden als Erfüllung seiner Träume erscheint.

Als Ich-Erzähler fungiert Dolf, der etwas minderbemittelte Gehilfe einer pathologischen Abteilung. Er beteuert gleich zu Beginn, kein Idiot zu sein und eine dicke Haut zu haben. Mit solchen Beschimpfungen hat er wohl häufiger zu tun. Im Labor ist er dafür zuständig, die präparierten Organe zu wiegen. Und auch in der Freizeit beschäftigt er sich als Präparator, allerdings von Schmetterlingen, die er fängt, mit Gift tötet und auf eine Nadel spießt. Er ist also ganz und gar auf Totes ausgerichtet. Lebendes scheint ihn eher zu ängstigen.

So bleibt er ein Einzelgänger, der bei einer unfreundlichen Vermieterin ein kleines Zimmer bewohnt, das er mit seinen Schmetterlingen und den Bildern nackter Frauen schmückt. Kontakt hat er – außer zu seinem Chef – nur zu einem einzigen Freund: dem Schienenleger Walter, dessen ganzer Ehrgeiz sich darauf richtet, möglichst viele Frauen flachzulegen und Dolf in die sexuellen Abenteuer einzuweihen.

Die beiden, der Nekrophile und der Fleischeslustige, bilden ein seltsames Paar. Dolf muss unentwegt Geschichten von seinen Leichen erzählen, während Walter den schüchternen Freund mit einem Bordellbesuch dazu bringen möchte, sich auch mit lebenden Wesen zu befassen.

Doch Dolf verliebt sich in die schöne Natalie, die eines Tages in die Pathologie geführt wird, um einen durch Messerstiche ermordeten Mann zu identifizieren. Als sie in Tränen ausbricht, nimmt er sie in die Arme, bekommt vor Aufregung eine Erektion und glaubt von da an, seine Bestimmung als ihr Tröster und Liebhaber gefunden zu haben.

Die Geschichte endet – das ist abzusehen – tragisch. Trotzdem hält Gülich die Spannung. Er erzählt ganz aus der Perspektive seines Helden, der nach und nach alles verliert, was er besaß: seinen Arbeitsplatz, sein Zimmer, seine Schmetterlinge. Alles was ihm bleibt, ist die Illusion einer Liebe, die er umso verzweifelter pflegt, je vergeblicher sie ist.

Gülich betreibt mit diesem Bewusstseinsstenogramm eine Innenschau, die eine eher trostlose Figur plausibel und verstehbar macht. Weil diese Perspektive aber nicht erlaubt, von außen auf die Zustände zu blicken, bekommt seine Erzählung etwas sehr Hermetisches.

Mitleidslos wird der arme Dolf immer tiefer ins Verderben getrieben, als sei es ein Vergnügen, dabei Zeuge zu sein. Unerbittlich wird sein Niedergang durchexerziert. Das handwerkliche Geschick des Autors Martin Gülich ist durchaus zu bewundern. Dennoch bleibt eine gewisse Ratlosigkeit über eine Geschichte, die wie am Schnürchen abläuft, die jeden Ausweg verbaut und nur beweisen muss, was der Autor von vorn herein festgelegt hat.

Martin Gülich: Die Umarmung. Roman. Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2005, 146 Seiten, 17,90 Euro