Bewusst schrumpfen

Von Beatrice Ürlings |
Flint im US-Bundesstaat Michigan, bis in die Achtzigerjahre boomende Autostadt, zählt heute zu den ärmsten Orten der Vereinigten Staaten. Zahlreiche Immobilien stehen leer. Wer kann, zieht weg und sucht woanders Arbeit und Auskommen. Aber die Stadtväter wollen dem Verfall nicht tatenlos zusehen und verordnen dem Ort eine Kur der besonderen Art.
Durch den Abriss ganzer Wohnblocks schrumpfen sie Flint gesund. Die Einwohner stehen dem positiv gegenüber. Die einen freuen sich, dass die Stadt ihnen den Umzug in bessere Wohngegenden ermöglicht, die anderen, dass die Initiative Flint zum ersten Mal seit langem wieder einen Hauch von Attraktivität verleiht.

In "Buick City", wie Flint bis heute genannt wird, befand sich die wichtigste Produktionsstätte des Unternehmens: Das Fabrikgebäude war acht Kilometer lang und beschäftigte zeitweise an die 28.000 Menschen. Flint stand als Ort für die Industriemacht USA. Und war zugleich die Wiege des amerikanischen Sozialsystems. 1937 setzten die General Motors Arbeiter die Anerkennung der Gewerkschaft United Auto Workers durch: Man einigte sich auf einen damals wegweisenden Standard für bessere Gehälter, großzügige Krankenzuschüsse und Renten.

Wer in Flint arbeitete, dem ging es gut: So auch der Familie von Deborah Dunbar. Schon ihre Mutter montierte Autos. Der Tochter hatte sie einst davon abgeraten, aufs College zu gehen. Eine Frage der guten Entlohnung: Die Autoarbeiter von Flint konnten sich darauf verlassen, dass General Motors sie für einfache Arbeit überdurchschnittlich bezahlte.

Deborah Dunbar: "Meine Mutter liebte ihren Job. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie sie mich als Kind einmal mit in die Fabrik genommen hat: Es lag so viel Stolz in ihren Augen! Schon nach drei Jahren bei General Motors konnte sie es sich leisten, ein Haus zu kaufen. Wir zogen in die Francis Street. Dort lebten nur Autorarbeiter und wir gehörten zur Mittelklasse. Jeder kannte jeden und jeder half jedem. Die Erwachsenen waren einander so nahe, dass sie - je nach Schicht - auf die Kinder der anderen aufpassten."

Heute ist von dem Arbeiteridyll nichts mehr zu spüren. Durch die Innenstadt führt eine aus roten Ziegelsteinen gepflasterte Hauptstraße. Früher wurden dort Paraden zu Ehren der Autoindustrie abgehalten. Jetzt klaffen tiefe Löcher und zu betonierte Brachflächen darin. Flint stirbt seit den Achtzigerjahren. Damals begannen die asiatischen Autobauer, General Motors die Kunden abzunehmen. Der Gigant aus Amerika reagierte mit einer radikalen Kürzungswelle, die vor allem Flint hart traf. Zahlreiche Werke wurden geschlossen. Die Fabrik an der Hamilton Street, wo Deborah durch die Vermittlung ihrer Mutter einen Job bekommen hatte, wurde dem Erdboden gleichgemacht.

Deborah Dunbar: "Wir waren alle da, als sie die Fabrik abgerissen haben, und wir haben geweint, denn wir waren ja damit aufgewachsen. Seither ist es mit Flint nur noch bergab gegangen. Die Leute ziehen weg, was bleibt, sind die Kriminellen. Selbst die Polizei ist den Zuständen nicht mehr gewachsen. Wenn du hier durch die Straßen gehst, dann siehst du überall Luftballons und kleine Altäre für die Ermordeten. Alleine vor meinem Elternhaus haben zwei Menschen ihr Leben verloren. So etwas darf es nicht geben in einer Wohngegend."

Wer kann, und das sind vor allem die jungen Leute, schaut, dass er wegkommt. Die Einwohnerzahl hat sich auf 110.000 halbiert. Dan Kildee ist geblieben. Der 51-Jährige gehört zu denjenigen, die etwas tun wollen, statt aufzugeben.

Kildee steigt in seinen weißen Chevy Blazer und lässt den Motor an: Es geht vom Zentrum zur Ostseite der Stadt. Vor dem Autofenster ziehen ausgebrannten Gebäude vorbei und Gärten, in denen Unkraut wuchert. Die Einwohner nennen die East Side das "Tal des Todes", weil sich dort Drogensüchtige, Prostituierte und Kriminelle niedergelassen haben. An der von Bäumen umsäumten Jane Avenue macht Kildee vor einem gelben Holzhäuschen halt.

Dan Kildee: "Meine Großmutter hat 60 Jahre lang darin gelebt. Aber schauen sie, die anderen neun Häuser in der Straße stehen alle leer. Flint ist ein extremes Beispiel dafür, was in vielen amerikanischen Städten passiert: Ich sage immer, dass es hier so aussieht wie in der Lower Ninth Ward von New Orleans – das ist unser Katastrophensturm, eine Art Zeitlupen-Katrina. Wir müssen etwas schaffen, damit die verbleibenden Einwohner nicht länger den Eindruck haben, in einer halbleeren Stadt zu wohnen. Sie verdienen besseres."

Dan Kildee ist in dem Landkreis, zu dem Flint gehört, für die Finanzen zuständig. 2002 gründete der Politiker eine sogenannte Landbank: Das Institut übernimmt Immobilien, nachdem die Besitzer weggezogen und Steuern schuldig geblieben sind. Landbanken sind in den USA nichts Ungewöhnliches. Doch was Kildee und sein Team machen, ist revolutionär: Statt die Parzellen an Spekulanten zu verkaufen, lassen sie die Häuser in den schlechten Gegenden abreißen und bieten den Besitzern neue Heime in den besseren Vierteln an.

Unweit der Jane Avenue beißen sich die Greifer eines Baggers in einen morschen Bungalow. Es folgt ein kurzes Rucken, dann sinkt die Fassade tosend in einer Staubwolke zusammen. Gerade mal 15 Minuten dauert die Abbruchaktion. Kildee hat schon mehr als 1100 Häuser abreißen lassen. Und das ist erst der Anfang. Sein Plan ist es, das 88 Quadratkilometer große Flint um 40 Prozent zu verkleinern.

Dan Kildee: "Wir Amerikaner sind besessen von der Idee, dass größer gleich besser ist. Ich bin nicht gegen Wachstum. Aber wir müssen uns doch eingestehen, dass Einwohnerzahl und Wirtschaft in Flint nicht mehr wachsen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir keine gute Stadt sein können. Wir lassen den Leuten die Wahl, in bessere Viertel umzuziehen. Aber gezwungen wird keiner zum Umzug. Wer bleiben will, kann das tun, und wird es sicher zu schätzen wissen, wenn er nicht mehr inmitten abbruchreifer Häuser wohnt, sondern von Natur umgeben ist!"

Unweit der East Side, an der Court Street, prangt eine verwitterte Leuchtreklame: "Tom Z" ist darauf zu lesen. Das Fastfood-Restaurant ist eine Institution in Flint, denn dort gibt es die besten "Coney Islands" der Stadt. Bei dieser Lokal-Spezialität wird ein Würstchen in ein langes Brötchen gepackt und dann mit Hackfleischsoße übergossen. Alle Plätze an den schmucklosen Plastiktischen im "Tom Z" sind besetzt. Kaum ein Gast, der nicht über die geplante Stadtverkleinerung reden würde.

Daniel Okrent sitzt ein wenig abseits. Der 61-Jährige ist in der Gegend aufgewachsen und hat dann im fernen New York Karriere als Buchautor gemacht. Im Auftrag des Wochenmagazins "Time" dokumentiert er nun den Fall der US-Autoindustrie. Der Schreiber hat alle Zahlen bei der Hand: Flint habe über 40 Prozent an Steueraufkommen verloren und ein Defizit von 15 Millionen Dollar angehäuft. Viele Schulen seien von der Schließung bedroht, bei Feuerwehr und Polizei setze man bereits den Rotstift an.

Daniel Okrent: "Die Bevölkerung von Flint lebt immer noch so verstreut wie zu dem Zeitpunkt, als es hier zweimal so viele Einwohner gab. Die Probleme sind offensichtlich. Polizei, Feuerwehr und Straßenreiniger müssen gewaltige Strecken bewältigen, und das oft nur, um einen einzigen Haushalt zu bedienen. Auch gibt es nicht mehr genug Personal. Die Stadt kann ihre Menschen nicht mehr schützen, nicht da sein, wenn etwa ein Feuer ausbricht. Flint kommt nicht darum herum, sich um mindestens die Hälfte zu verkleinern. So etwas planvoll zu tun, das hat es noch nie gegeben in Amerika. Aber es ergibt Sinn."

Flint will durch die urbane Verkleinerung alleine bei der Grundversorgung 100 Millionen Dollar im Jahr einsparen. Doch schon jetzt zeigen sich auch andere Vorteile. Da in den ehemals heruntergekommenen Vierteln nun Grünflächen sprießen, finden sich wieder Immobilienkäufer. Das wirkt sich wiederum positiv auf die Häuserpreise aus, die zum ersten Mal seit Langem steigen. Bewusstes Schrumpfen statt "Big is Beautiful" – auch Barak Obama, der während seiner Wahlkampagne mehrere Male in Flint war, ist hellhörig geworden.

Vor allem in dem von alten Industrien geprägten sogenannten Rostgürtel der USA sind zahlreiche Städte durch die Rezession zu Geisterstädten geworden, weil die Hausbesitzer ihre Kredite nicht mehr abbezahlen können und Zwangsversteigerungen stattfinden. Es ist ein Teufelskreis, dem Obama nun nach dem Beispiel von Flint beikommen will. Sein Mitarbeiterstab hat bereits 50 Metropolen ausgemacht, die ebenfalls planvoll verkleinert werden sollen, darunter: Detroit, Philadelphia, Pittsburgh, Baltimore und Memphis.

Erst kürzlich hat Obama seinen Auto-Zar Ed Montgomery nach Flint geschickt. Der will die stillgelegten oder von der Schließung bedrohten Produktionsanlagen für alternative und umweltverträgliche Produktion reaktivieren. Grüne Autos, Hochgeschwindigkeitszüge, Windkraftanlagen und Solartechnologien aus Flint? Dave Cole, ein Wirtschaftsforscher, dessen Vater vor gut 30 Jahren der Boss von General Motors war, glaubt nicht dran.

Dave Cole: "Die Fabrikjobs der Zukunft sind so anspruchsvoll, dass die Arbeiter mindestens zwei Jahre College-Ausbildung mitbringen müssen. Flint kann da nicht mithalten: Hier in der Gegend brechen weit mehr als die Hälfte der Kinder die Schule frühzeitig ab. Von den verbleibenden 50 Prozent kann gerade mal jeder dritte ein Universitätsstudium vorweisen. Die Europäer und Asiaten sind viel besser positioniert, weil sie seit jeher mehr Wert auf eine fundierte Ausbildung legen. Wir hinken so weit hinterher, es sieht nicht gut aus."

Die Arbeitslosenrate in Flint ist mit 26 Prozent doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt. Bei einem Arbeitslosenzirkel im Gemeindehaus bekommt die Statistik ein Gesicht. Auch Deborah Dunbar ist da. Sie gehört zu den wenigen, die es geschafft haben, sich eine neue Existenz aufzubauen. Die 45-Jährige fertigt jetzt Prothesen in der Kleinstadt Lansing. Anderthalb Stunden dauert ihre tägliche Fahrt dorthin. Dennoch hat Deborah sich entschlossen, in Flint wohnen bleiben. Sie will den Skeptikern zeigen, was alles möglich ist, auch wenn man sein ganzes Leben nur Autos gebaut hat.

Deborah Dunbar: "Wenn du denkst "Ich bin ja nur eine kleine Maschinenschlosserin", dann kommst du nicht weit. Es ist wichtig, dass du deine Qualitäten erkennst. Ich kenne mich mit Metallen aus, ich weiß, wie sie auf Säuren reagieren – das alles kommt mir in meinem neuen Job zugute. Wir haben eine Menge Aufträge, vielleicht liegt das daran, dass jetzt ja all die Babyboomer in die Jahre kommen und künstliche Hüften und dergleichen brauchen."

Eine einstige Autometropole im Umbruch: So unsicher die Zukunft von Flint auch ist, zum ersten Mal seit langem herrscht wieder so etwas wie Aufbruchsstimmung in der Bevölkerung. Keiner wird gezwungen, auf das Umsiedlungsangebot der Stadtverwaltung einzugehen. Harry Ryan, ein pensionierter Elektriker, ist an der ärmlichen East Side wohnen geblieben.

Noch vor Kurzem war sein Holzhäuschen von abbruchreifen Baracken umgeben. Jetzt sprießen überall Früchte und Gemüse: Die Abbruchaktionen der Stadt haben es Harry ermöglicht, einen Schrebergarten anzulegen, der ihn das ganze Jahr über ernährt.

Harry Ryan: "Ich habe Saatplatt- und Zuckererbsen, grüne und gelbe Bohnen, Baumwollsträucher. Es macht mir Spaß, diesem so lange verwahrlosten Land ein neues, nützliches Gesicht zu geben. Natürlich ist jeder Übergang schwierig und es immer gibt Leute, die meckern. Aber unter dem Strich ist das, was hier passiert, doch positiv: Hier befand sich ein Schrotthaufen, jetzt ernähren sich Menschen davon!"

Kritiker befürchten, dass Flint im Zuge der Schrumpfungen seine Seele verliert. Bislang ist davon allerdings nichts zu spüren. Im Gegenteil. Mit dem Geld, das bislang für Müllabfuhr und Straßenbeleuchtung in den abgerissenen Vierteln ausgegeben wurde, wird nun das einstmals verlassene Zentrum saniert. Selbst das historische Durant Hotel, benannt nach dem Gründer von General Motors, erstrahlt nach 30 Jahren Leerstand wieder in neuem Glanz.

Und vielleicht liegt gerade hier die wichtigste Erkenntnis des Experimentes von Flint: Nämlich, dass planmäßigen Schrumpfungen selbst im megalomanen Amerika kein Kapitulationsgeständnis sind, sondern: ein Wegweiser für den Neuanfang.