Bewegendes Zeugnis eines Zeitzeugen

Vorgestellt von Jörg Hafkemeyer |
Die Gründungsväter der DDR kannte er persönlich. Wolfgang Leonhard kam 1945 mit der so genannten Gruppe Ulbricht im Auftrag Stalins nach Berlin. Mit "Meine Geschichte der DDR" hat der 86-Jährige nun einen spannenden Rückblick auf die Entstehung und den Zerfall des SED-Regimes vorgelegt.
Das Buch beginnt in einem Flugzeug. "Meine Geschichte der DDR" von Wolfgang Leonhard scheint ein sehr vermessener Titel zu sein. Doch ist an ihm etwas Wahres dran. Die DDR nämlich hat eine Geschichte mit ihm und er eine mit ihr und die beginnt lange vor deren Staatsgründung. Wolfgang Leonhard ist bei Kriegsende 24 Jahre alt. Er kommt aus dem Moskauer Exil, in das er mit seiner Mutter gegangen war. Mit Walter Ulbricht und anderen führenden Genossen sitzt er in diesem April 1945 im Flugzeug auf dem Weg von Moskau nach Berlin.

Wolfgang Leonhard ist mit seinen 86 Jahren temperamentvoll wie eh und je und wird noch immer auf seine große Abrechnung mit dem Kommunismus angesprochen "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Er ist der letzte Überlebende der damals so genannten Gruppe Ulbricht, die im Auftrag Stalins nach Berlin kam. Und er hat viele von ihnen gekannt: Wilhelm Pieck, Erich Honecker und Markus Wolf, mit dem er in der UdSSR die Komintern-Schule besuchte.

Leonhards Buch ist in zweifacher Hinsicht interessant und spannend. Einmal weil er sehr kenntnisreich aus sehr persönlicher Sicht die Zeit zwischen 1949 und 1950 behandelt. Darüber hinaus sind es die letzten beiden Kapitel, die sich mit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung befassen. Mehr als vier Jahrzehnte, nachdem Leonhard mit Ulbricht und den anderen in Deutschland eintrifft.
Vor der Landung in Berlin wendet sich Ulbricht an den jungen Leonhard:

"Er saß mir direkt gegenüber und blickte mich prüfend an: Also, das mit deinem russischen Namen, das geht so nicht. Wolodja! Nimm dir doch einen deutschen Namen."

"In der Komintern-Schule war ich Wolfgang."

"Gut, ab jetzt bist Du Wolfgang."

"Damit war unser Gespräch beendet."

Ähnlich wie in seinem 1981 erschienenen Buch "Völker hört die Signale" ist Leonhard auch 26 danach noch immer Experte und Augenzeuge. Einer der Letzten. So ist ein Hintergrundbericht entstanden über einen Teil deutscher Geschichte wie Leonhard sie erlebt und beobachtet, auch erlitten hat.

Anschaulich beschreibt der Autor wie die Hoffnungen enttäuscht wurden: Durch Stalin, durch Ulbricht und die damalige führende Funktionärsclique in der SED. Wie ihm jugoslawische Diplomaten halfen über Prag aus der DDR auszureisen, nach Belgrad zu gelangen als glühender Anhänger Josip Broz Titos. Wie er in Belgrad den Jungen ARD-Radiokorrespondenten Gerd Ruge trifft. Wie er Jugoslawien, einen ganz anderen sozialistischen Staat als die DDR, erlebt:

"In Jugoslawien erlebte ich nun, wie eine frühere kommunistische Diktatur, langsam aber beständig lockerer und freier wurde… Von den jugoslawischen Spitzenführern lernte ich vor allem Milovan Djilas gut kennen, weil er auch die wöchentlichen Pressekonferenzen für die ausländischen Journalisten leitete. Über eines ließ Djilas keinen Zweifel: dass die jugoslawische Partei Moskaus Führungsanspruch bestritt."

Leonhard fühlt sich in Jugoslawien wohl. Lernt Serbokroatisch. Aber ihm fehlt Deutschland. Vor allem die deutsche Sprache. Im November 1950 kommt er in Frankfurt am Main an:

"Für mich begann ein neues Leben. Ein Leben, auf das ich nicht vorbereitet war. Es war die erste Begegnung mit dem real existierenden Kapitalismus … mir schwindelte. Zuletzt hatte ich 1935 in Schweden ein so üppiges Warenangebot gesehen … Ganz nach meinem Geschmack war … die Möglichkeit frei zu reden. Für die meisten war die Demokratie eine Selbstverständlichkeit, aber ich genoss sie regelrecht."

Der Augenzeuge wird von nun an Betrachter seiner DDR, deren Entwicklung, deren Zusammenbruch. Er wird der anerkannte Ostexperte, der sich von keiner Partei einfangen lässt. Sein Parteileben hat er sozusagen hinter sich. In der Sowjetunion, in der entstehenden DDR, in Jugoslawien. Er schreibt seinen Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Über die Geschichte der DDR gibt es viel interessante Literatur. Leonhards Buch gehört mit Sicherheit dazu. Spannend, richtig interessant wird es wieder, als Leonhard erneut zum Augenzeugen wird.

1990. Leonhard fährt in doch existierende DDR auf der Suche nach alten Genossen. Auf der Suche unter anderem nach Markus "Mischa" Wolf. Beide hatten sich zuletzt im Januar 1949 gesehen. Kurz vor Leonhards Flucht nach Jugoslawien. In Bernau, auf dem Marktplatz treffen sie sich 41 Jahre später:

"Schön, dich zu sehen, Wolfgang…’ Mischa hatte sich zu mir auf den Marktplatz gesellt. Bald kamen wir auf mein Buch ‚Die Revolution entlässt ihre Kinder’ zu sprechen, natürlich hatte er es gelesen. ‚Deine Beschreibung von mir als Hintergrundfunktionär in der Sowjetzone hat mir in der weiteren Zeit häufig geschadet’, sagte er. ‚Immer wieder wurde mir vorgeworfen, irgendwelche höchsten Verbindungen gehabt zu haben. Das wird auch jetzt in der Kampagne gegen mich benutzt."

Es ist ein sehr bewegendes Zeugnis eines Zeitzeugen für mehr als 75 Jahre.

Wolfgang Leonhard: Meine Geschichte der DDR
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2007