Bevölkerungsforschung

Demografie-Angst: Völlig unbegründet

Babys liegen in einem Kreis bei einem Treffen von Müttern in einem Kindergarten in Frankfurt (Oder)
Angeblich werden zu wenig Babys geboren. © dpa / picture alliance / Gru
Gerd Bosbach im Gespräch mit Nana Brink · 12.10.2015
Die Gesellschaft wird immer älter, kränker, ärmer: Die Warnungen der Demografie-Forscher sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Dabei stimmt das alles gar nicht, sagt der Statistiker Gerd Bosbach.
Gerd Bosbach, Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, hat Schwierigkeiten mit der Arbeit seiner Kollegen. Dass die Bevölkerung aufgrund einer zu geringen Anzahl an Geburten abnehme, werde seit 40 Jahren vorausgesagt, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Eingetroffen sei das allerdings nicht. Der sonst so bedrohlich wahrgenommene demografische Wandel ist laut Bosbach weitgehend unproblematisch. Er empfiehlt einen Blick in das letzte Jahrhundert: "Wir sind um 30 Jahre gealtert im Schnitt, der Kinderanteil hat sich halbiert, der Rentneranteil hat sich mehr als verdreifacht: Also aus heutiger Sicht – aus der 'Demografie-Angst' heraus – müsste das letzte Jahrhundert eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe gewesen sein. Stattdessen ist der Sozialstaat explodiert, ist der Wohlstand für alle explodiert."

Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Das Lamento kennen Sie bestimmt: Wir werden immer weniger. Deutschland schrumpft. Und bestimmt kennen Sie auch den von der Statistik und Experten immer gern bemühten demografischen Wandel. Das sind ja dann schöne Grafiken der Alterspyramide, gern auch in Form einer Tanne, die anscheinend in ein paar Jahrzehnten auf dem Kopf stehen wird, wenn wir immer älter werden und immer weniger Kinder bekommen.
Das mit den Kindern allerdings scheint sich gerade umzukehren, zumindest lehrt das der nüchterne Blick auf die Statistiken des gleichnamigen Bundesamtes. Seit 2011 kommen nämlich wieder mehr Kinder auf die Welt. Letztes Jahr waren es sogar fünf Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Gar nicht in die Statistik eingerechnet sind, und jetzt wird es aktuell und spannend, die Flüchtlinge, also die, die jetzt kommen, und ihre Kinder. Das werden ja auch eine Menge sein. Geht die Politik also von falschen Zahlen aus? Professor Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirik an der Fachhochschule Koblenz und er beschäftigt sich vor allem mit Bevölkerungsstatistik und mit dem Statistikmissbrauch. Guten Morgen in Studio 9, Herr Bosbach!
Gerd Bosbach: Ja, guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Es gibt ja das schöne Sprichwort: "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast." Stimmt also der neue Trend? Werden wir gar nicht weniger?
Die Voraussagen der letzten 40 Jahre sind nicht eingetroffen
Bosbach: Was die fernere Zukunft anbetrifft, kann ich nichts voraussagen. Allerdings hat man uns jetzt seit 40 Jahren schon vorausgesagt, dass wir wegen zu wenig Kindern halt immer kleiner werden in Deutschland. Und in den letzten 40 Jahren hat das nicht zugetroffen, noch ohne die Flüchtlingsströme.
Jetzt kommen viele Flüchtlinge zu uns, auch viele junge Flüchtlinge, die auch Kinder haben oder Kinder bekommen werden. Das heißt, es ist eher wahrscheinlich, dass zumindest in den nächsten Jahren die Bevölkerung weiter wächst, wie sie seit 1970 gewachsen ist.
Brink: Das ist ja schon ungeheuerlich, denn man hat ja wirklich, wie Sie ja selber sagten, jahrzehntelang gedacht, dass wir diesen demografischen Wandel haben werden. Müssen wir den jetzt abblasen?
Bosbach: Ich würde den demografischen Wandel gar nicht so fokussieren auf die Bevölkerungszahl. Was ist schlimm daran, wenn wie in einer Stadt wie Köln mit einer Million halt zehn Prozent weniger da sind? Wir hätten alle mehr Platz, mehr Raum, und Arbeitslose würden sich freuen, dass sie eben eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.
Die Hauptangst wurde ja vor der Alterung gezeichnet. Wir werden immer älter, und immer mehr Rentner, und das können wir uns gar nicht leisten. Und diese Hauptangst könnte ich jetzt, aber nicht am Telefon halt, auch zahlenmäßig widerlegen.
Aber ich sage einfach nur mal den Hörern und Ihnen, gucken Sie doch mal ins vergangene Jahrhundert hinein. Was ist denn im vergangenen Jahrhundert passiert? Wir sind um dreißig Jahre gealtert im Schnitt, der Kinderanteil hat sich halbiert, der Rentneranteil hat sich mehr als verdreifacht.
Also aus heutiger Sicht, aus der Demografie-Angst heraus, müsste das letzte Jahrhundert eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe gewesen sein, bei dieser Alterung, weniger Kinder, mehr Rentner. Und stattdessen ist der Sozialstaat explodiert, ist der Wohlstand für alle explodiert. Das heißt, diese Faktoren mit Alterung, weniger Kinder, führen überhaupt nicht automatisch zu weniger Wohlstand und weniger Sozialstaat.
Brink: Aber Fakt bleibt doch, dass wir immer älter werden. Das ist ja eine Tatsache, die wir ja auch belegen können. Und die Sicherung der Altersversorgung wird natürlich auf immer weniger Schultern verteilt.
Bosbach: Das "auf immer weniger Schultern" habe ich jetzt, und jetzt entschuldigen Sie, wenn heute Morgen mal doch eine Zahl kommt ...
Brink: Aber bitte, das macht ja Sinn.
Bosbach: ... habe ich einfach mal umgerechnet. Das wird so dramatisch dargestellt, weil man alle Veränderungen von 50 Jahren zusammenzählt. Und natürlich, wenn man 50 Jahre zusammenzählt, kommt auch was Größeres raus. Ich habe es mal auf die jährliche Veränderung umgerechnet.
Und zwar habe ich die Zahlen genommen, die als Angst-Zahlen in die Welt gesetzt wurden. Und die habe ich mal angeguckt und auf eine jährliche Veränderung umgerechnet, und da kam ich zu einer ganz überraschenden Zahl, die habe ich auch mehrfach nachgerechnet und mehrfach geprüft mit anderen Leuten. Ich kam darauf, dass das pro Jahr etwa einen von 130 Erwerbstätigen ausmacht, die wir ersetzen müssen wegen der Alterung. Einen von 130.
Als ich das halt einigen Zeitungsredakteuren vorgelegt hatte, haben die gesagt, die wollen bei uns zehn Prozent kürzen, nicht einen von 130. Also die Alterung macht da nur einen ganz, ganz kleinen Anteil an jährlicher Veränderung aus, und die Angst bekommen wir, weil die uns zusammengerechnet für 50 Jahre vorgelegt wird.
Für Forscher ist es schwer, das eigene Scheitern einzugestehen
Brink: Das heißt, wer sind denn die? Das ist ja die etablierte Demografie, also die Wissenschaft von der Bevölkerungswirtschaft. Hat die sich geirrt, Ihrer Meinung nach ja dann ja.
Bosbach: Ja, die hat sich geirrt. Die müsste ja auch schon längst ihre Vorhersagen von 1990 oder 2000 zurücknehmen und sagen, es ist doch gar nicht so gekommen, wie wir angenommen haben. Das tut sie nicht. Ich weiß jetzt auch nicht, ob da Böswilligkeit dahintersteckt.
Es ist für einen Forscher immer schwer, wenn man jahrzehntelang in eine Richtung publiziert und anschließend sagt, oh, war alles falsch. Das ist das Erste. Und das Zweite: Ich habe ja selber in dieser Demografenwelt halt mit diskutiert und war auf Konferenzen von denen. Demografie, Bevölkerungswissenschaft, ist eigentlich ein staubtrockenes Statistikthema. Ab 2000 etwa bekamen die plötzlich Forschungsgelder, bekamen die Öffentlichkeit, bekamen einige Leute mindestens einmal die Woche ein großes Interview in der Zeitung.
Brink: Warum eigentlich?
Bosbach: Ich will jetzt erst mal das Psychologische – das ehrt natürlich. Und dann fährt man in dem Weg fort, in dem man in der letzten Zeit erfolgreich war.
Und warum, das kann man halt relativ einfach belegen, wenn man sich so anguckt, welche Institutionen geschaffen wurden, um, wie sie selber formulieren, den demografischen Wandel in der Öffentlichkeit verständlich zu machen.
Da sind Forschungsgelder reingesteckt worden, da sind Gelder – also Bertelsmann-Stiftung, Berlin-Institut, Robert-Bosch-Stiftung, die haben massiv Gelder bekommen. Und die haben, und das war für mich eine ganz schlimme Angelegenheit, als ich das festgestellt habe, die haben dann Zusammenarbeit mit öffentlichen Behörden gemacht, die sie aber finanziert haben. Und deren Ergebnisse diese privaten Geldgeber in die Öffentlichkeit gebracht haben.
Brink: Aber das ist ja schon ein massiver Vorwurf.
Bosbach: Ja.
Brink: Muss sich also die wissenschaftliche Demografie, der ja dann auch die Politik folgt, und das ist ja das Entscheidende, das hat ja Konsequenzen dann für uns alle – muss die sich korrigieren?
Mit der Demografieforschung wurde die gesetzliche Rente attackiert
Bosbach: Ich glaube nicht, dass die Politik der wissenschaftlichen Demografie folgt. Ich muss mal ganz kurz erwähnen, wer eigentlich diese Geldgeber sind, die da sehr viel Geld reingemacht haben, weil sonst klingt es wirklich wie eine Verschwörungstheorie. Aber es gibt ganz große Interessensgruppen. Die größte Interessensgruppe, oder die deutlichste, ist die Versicherungswirtschaft. Die Versicherungswirtschaft wollte an den gesetzlichen Rentenanteil, der immerhin zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, wollten die teilhaben. Und eine zweite Gruppe, die auch ganz ehrlich sagt, wir wollen Lohnnebenkosten senken, und der größte Teil der Lohnnebenkosten sind für die Arbeitgeber die Rentenbeiträge.
Die hätten es nicht geschafft, die paritätische gesetzliche Rente aufzubrechen. Aber über die Demografie-Angst haben sie es geschafft halt, dass wir jetzt immer mehr privat vorsorgen und die gesetzliche Rente immer weiter runtergefahren wird. Und die haben massiv mit Institutionen gearbeitet, und ich kann es auch so deutlich formulieren – hätte ich früher nie mich gewagt – weil die haben versucht, mich anzuwerben. Die haben gemerkt, dass ich ein Kritiker bin, der ganz gut noch in der Öffentlichkeit rüberkommt. Und dann haben die unwahrscheinlich geschickte Anwerbeversuche gemacht. Und als ich darauf nicht ansprang, haben sie mir gezeigt, wie sie vernetzt miteinander arbeiten, damit in der Öffentlichkeit das für sie richtige Bild von Demografie rüberkommt.
Brink: Ein Kritiker der demokratischen – nicht der demokratischen, ja, das ist es ja auch –demografischen Wissenschaft, der Statistiker Gerd Bosbach. Danke für das Gespräch, für Ihre Einschätzungen!
Bosbach: Danke ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema