Betuliches aus dem Opernmuseum

Von Jörn Florian Fuchs · 22.05.2010
1771 schrieb der gerade 15-jährige Mozart die Azione sacra Betulia liberata, einen Zwitter aus Oratorium und Oper. Bei den Salzburger Pfingstfestspielen dirigiert Riccardo Muti diesen frühen Mozart ungekürzt. Die Musik bleibt stilistisch der italienischen Tradition verbunden, Arie reiht sich an Arie, dazwischen schnurren die Rezitative vorüber.
Das Leid ist groß und doch klagen die Einwohner der Stadt Betulia eher leise. Die feindlichen Assyrer drehten ihnen den Wasserhahn ab, nun dürstet und darbt man in Form von feinsinnigen Arien und verzweifelten Chorälen. Zu allem Überfluss erzählt auch noch ein Gefangener Grauenvolles über den blutrünstigen Holofernes und seinen gnadenlosen Eroberungswillen. Was tun?

Der alttestamentarische Gott reagiert auf kein Bitten und Flehen. Also erbarmt sich eine junge Frau und dringt ins feindliche Lager ein, meuchelt den Schlächter und sorgt nach ihrer Rückkehr auch noch für neue Glaubensimpulse - denn bei solch einer Aktion hatte sicher ein überirdisches Wesen die Finger im Spiel.

Der biblische Stoff wurde über die Jahrhunderte ein Librettohit, allein die Fassung von Metastasio erlebte unzählige Vertonungen. 1771 schrieb der gerade 15-jährige Mozart die Azione sacra Betulia liberata, einen Zwitter aus Oratorium und Oper. Die Musik bleibt stilistisch der italienischen Tradition verbunden, Arie reiht sich an Arie, dazwischen schnurren die Rezitative vorüber. Immerhin gibt es ein paar sehr eigenwillige Begleitstimmen einzelner Instrumente, vor allem aber sehr viele Wiederholungen.

Bei den Salzburger Pfingstfestspielen dirigiert Riccardo Muti diesen frühen Mozart ungekürzt. Solch ein Da-capo-Wahn führt rasch zu Lähmungserscheinungen auf und jenseits der Bühne. Das vorwiegend junge Sängerensemble hat mächtig zu kämpfen, die Musiker des Cherubini-Jugendorchesters fallen bald in eine ziemliche Lethargie und der Regie fällt ohnehin wenig bis nichts ein.

Marco Gandini ist Franco-Zeffirelli-Schüler und inszenierte bisher vor allem quer durch die italienische Opernlandschaft. Ihm dient ein verschiebbares Metallungetüm als Spielort, davor, darin, darum tummeln sich pittoresk ausstaffierte Darsteller. In einer verqueren Mischung aus Oberammergau, Gralszeremonie und schlichtem, schlechtem Historienschinken wird nun gehofft, gelitten und gestritten. Theologische Diskurse wechseln sich mit endlosen Lamentationen ab, wobei die einzige echte Handlung lediglich off-stage geschieht: Wir erfahren von Judith höchstpersönlich und ausführlich (da capo!), wie es Holofernes erging.
Zu diesem szenischen Mozartmuseum liefert Muti den passenden Soundtrack. Die Rezitative tröpfeln vor sich hin, auch bei den Arien herrscht meist gediegene Gemütlichkeit. Nicht mal zum Schluss darf der Chor richtig aufdrehen, alles bleibt wie unter Watte verpackt - Mozart mit angezogener Handbremse.

Für ein paar kleine vokale Lichtblicke sorgen der exzellente Bass Nahuel Di Pierro sowie Alisa Kolosova, die mit kernigem, erdigem Timbre gegen Holofernes wütet.
Stimmung kam einzig durch die zahlreich aus Italien angereisten Opern-Tifosi auf, sie sorgten für heftigen Zwischenapplaus auch an unpassenden Stellen und feierten Muti bereits bevor der erste Ton erklang wie einen Popstar. Povera Italia!

Nach der lahmen Befreiung Betulias am Freitagabend gab es heute Morgen einen exquisiten Kontrapunkt. Giuliano Carmignola ist einer der stillen Klassikstars Italiens, der wenig Trubel um seine Person macht. Auch heute schien ihn der Jubel des Publikums kalt zu lassen, ja fast peinlich zu sein. Carmignola spielte gemeinsam mit drei ebenfalls brillanten Kollegen Violinsonaten der Goldenen Zeit Neapels, als die Stadt Gravitationszentrum und Durchgangsort für fast alle relevanten Komponisten war, selbst Mozart ist ohne den Einfluss neapolitanischer Großmeister wie Jommelli so kaum denkbar.

Im Großen Saal des Mozarteums gab es einen Parforceritt durchs Repertoire, drei kurze Sonaten von Scarlatti, ein raumgreifendes Werk von Nicola Porpora kommunizierten mit einer stupend virtuosen Suite von Nicola Matteis und einer mächtigen, technisch anspruchsvollen Sonate von Emanuele Barbella. Barbella bezog gern Volksliedhaftes in seine Kompositionen ein, die B-Dur Sonate für Violine und Basso continuo widmete er den Figuren der Commedia dell'Arte. Man erlebt fast eine Art Minioper, wenn sich der kluge Harlekin mit eher tumben Kollegen herumschlägt und außerdem noch bis über beide Ohren in eine kesse Magd verliebt ist. Nach allerlei musikalischen Zoten und Späßen singt und sägt die Geige ein letztes Mal und gerät dabei sogar kurzzeitig ins Dissonante. Danach feiern dann alle unsichtbaren aber deutlich hörbaren Figuren ein riesiges Freudenfest.