Betrügerische Nachbildungen

Rezensiert von Jörg Plath · 14.08.2006
Welche Rolle haben Fälschungen in der Geschichte gespielt? Was ist der Unterschied zwischen Fälschungen in der Kunst und in der Wissenschaft? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die 18 Aufsätze, die von Anne-Kathrin Reulecke herausgegeben wurden und aus einem Symposium am Berliner Zentrum der vergleichenden Literaturforschung hervorgingen.
Vor wenigen Tagen wurde von britischen Experten das Van-Gogh-Gemälde "Bild eines Mannes" als Fälschung bezeichnet. Die Meldung dürfte, wenn Sie diese Kritik lesen, schon durch zahlreiche Nachrichten ähnlicher Art in den Hintergrund gedrängt worden sein. Fälschungen sind schließlich weit verbreitet, und das Interesse des ausgehenden 20. wie des 21. Jahrhunderts an ihnen ist groß: Museen stellen Fälschungen aus, Bücher, Filme und auch Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk mit einer "Langen Nacht" - präsentieren Fälle aus Literatur, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

Nun sei es an der Zeit, fordert Anne-Kathrin Reulecke in dem von ihr herausgegebenen Sammelband "Fälschungen", den recht schlichten anthropologischen Befund hinter sich zu lassen, der Mensch wolle nun einmal betrügen und betrogen werden. Reulecke möchte vielmehr das System untersuchen, in dem sich die Fälschung ereignet, also die, so heißt es im Brockhaus, "zu betrügerischen Zwecken vorgenommenen Nachbildung oder Veränderung eines Gegenstands":

Die Ausnahme der Fälschung erlaube, die Regel genauer zu begreifen, ihre Paradigmen, Konsense, Rituale, Verabredungen und Erwartungen, ihre von den Begriffen Originalität, Echtheit, Autorschaft, Authentizität und Wahrheit strukturierten Diskurse.

Das ist ein umfassender kulturwissenschaftlicher Ansatz, der sowohl für die Künste wie für die Wissenschaften gelten soll. Die damit einhergehenden definitorischen Schwierigkeiten werden mit einer schönen Formel gemeistert: Während Fälschung in den Künsten ein Zuwenig an Autorschaft bedeute, stehe sie in den vorwiegend anonym und arbeitsteilig arbeitenden Naturwissenschaften für ein Zuviel.

Die meisten der achtzehn Aufsätze argumentieren historisch und zeigen, wie sich die Begriffe von Original und Wahrheit veränderten, die Produktions- und Reproduktionsverfahren sowie die Methoden zur Entdeckung von Fälschungen.

Wiederkehrende Bezugspunkte sind die im 18. Jahrhundert entstehenden Begriffe des Originals, des Originalgenies und des abgeschlossenen Werkes, die im Urheberrecht kodifiziert werden. Von der in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht seltenen postmodernen Aufhebung der Fälschung in umfassenden Simulakren, Kopien und Klonen lassen sie sich nicht leiten. Eine Ausnahme ist Ohad Parnes Versuch, wissenschaftliche Experimente zu auch ästhetischen Erfahrungen zu erklären, die sich gar nicht fälschen ließen.

Zumindest eine Fälschung begründete eine Wissenschaft: Der Fund des Kieferknochens von Moulin-Quignon 1863 schien die Existenz eines frühen Hominiden zwischen Affe und heutigem Menschen zu belegen. Erst 1955 wurde der Betrug aufgedeckt. Doch da hatte der gefälschte Knochen längst als Gründungsakt der Paläanthropologie gedient, weshalb Claudine Cohen Fälschungen einen unhintergehbaren Bestandteil der Wissensproduktion nennt.

Spannend lesen sich auch Federico Di Trocchios Ausführungen über die Täuschungsqualitäten der wissenschaftlichen Darstellung und Justus Fetschers Kritik von Anthony Graftons ahistorischer Fälschungstheorie. Fälscher, so Fetscher, müssten dem Publikum Authentizität und Autorität vorspiegeln, indem sie entweder Anciennität oder Zugehörigkeit zum Kanon behaupten oder eine durch vermeintliche Verluste entstandene Lücke im Kanon zu füllen vorgeben. Das gilt nicht nur für die Neuzeit.

Das Mittelalter besaß wohl einen anderen Wahrheitsbegriff. Aber Carlo Ginzburg zeigt, dass die wahrheitsgetreue Nachahmung der Natur durch die Kunst damals vom Verdacht der Fälschung begleitet wurde.

Der zunehmende Zweifel an Genie, Original und abgeschlossenem Werk, den zentralen Gegenbegriffen zur Fälschung, bildet den Hintergrund von Diederich Diederichsens Ausführungen über "Sampling und Montage". Sampeln begreift der Poptheoretiker anders als die einst von großen gesellschaftlichen und künstlerischen Hoffnungen begleitete Montage als zielloses Basteln, als Bricollage von vorhandenem Material. Es sei eine eher rezeptive Praxis, komme es doch vom Plattenauflegen. Damit wird auch der Begriff der Fälschung verabschiedet.

Politische und wirtschaftliche Fälschungen behandelt der Band nicht, weil er aus einem Symposium des Berliner Zentrums für vergleichende Literaturforschung hervorging. So wird eine der größten Fälschungen nur am Rande erwähnt: Jene, die dem US-Präsidenten als Vorwand diente, dem Irak den Krieg zu erklären.

Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg.):
Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006
426 Seiten, 15 Euro.