Betörende Droge Sehnsucht

Rezensiert von Jörg Plath |
Die Innenausstattung des Wirtschaftswunders nimmt Judith Kuckart in ihrem neuen Roman in den Blick, erzählt vom Verlangen nach dem Unerreichbaren. "Kaiserstraße" ist ein Vaterroman und zugleich ein Buch über die alte und die neue Bundesrepublik. Ihr zentrales Thema ist das Verlangen nach dem Unerreichbaren - und dessen verheerende Nebenwirkungen.
Rosemarie Nitribitt stirbt auf den ersten Seiten dieses Romans, und an seinem Ende, vierzig Jahre später, besichtigen Leo Böwe und seine Tochter Jule das, was von der Edelprostituierten der Adenauer-Republik geblieben ist: Polizeifotos vom toten Körper vor dem Sofa, der konservierte Schädel in der Lehrmittelkammer, die einst schicke, nun verwahrloste Wohnung. Vater und Tochter unternehmen ihre Nitribitt-Recherchen jeweils für sich und ohne dem anderen davon zu erzählen.

Beide wollen dem Objekt ihrer Sehnsucht nahe kommen: Leo der Nittribit, der den Namen er zum ersten Mal hörte, als sie bereits tot war, und Jule ihrem Vater. Parallelen treffen sich erst im Unendlichen, sagt Leo einmal. Er und Nitribitt sind solche Parallelen, er und Jule auch. Oder die Kaiserstraße im Frankfurter Bahnhofsviertel, in der Rosemarie Nitribitt wohnte, und die Kaiserstraße in Barmen, wo die Familie Böwe lebt. Judith Kuckarts Roman "Kaiserstraße" inszeniert die Kreuzung von gleich mehreren Parallelen.

"Kaiserstraße" ist ein Vaterroman und ein Buch über die alte und die neue Bundesrepublik, erzählt in fünf Zehnjahresschritten: der gewaltsame Tod der Nitribitt 1957, jener von Benno Ohnesorg bei den Schah-Protesten 1967, der deutsche Herbst mit der Schleyer-Ermordung und den Toten in Stammheim 1977, der Mauerfall 1989 und die Jahrtausendwende 1999. Die ersten Jahrzehnte nehmen der erfolgreiche Waschmaschinenvertreter Leo Böwe und seine Ehefrau Liz wie Zuschauer an der Zeitgeschichte teil. Unmittelbare Auswirkungen auf ihr Leben hat erst das Ende der DDR: Böwe wird CDU-Landtagsabgeordneter in Sachsen.

Zuhause hält sich der "streunende Fuchshahn" ohnehin ungern auf. Meist ist er unterwegs zu einer der vielen Geliebten, mit denen der Mann, der trotz seiner 1,87 Meter der "kleine Böwe" genannt wird, sein Selbstbewusstsein aufpäppelt. Rosemarie aus Baden-Baden bleibt jahrzehntelang die Favoritin, weil ihn ihr Vorname an die tote Nitribitt erinnert. Judith Kuckart erzählt von der Innenausstattung des Wirtschaftswunders: vom Verlangen nach dem Unerreichbaren.

Das Erreichbare gilt Leo wenig, und darunter leiden Ehefrau wie Tochter. Liz versinkt in Depressionen, Jule sucht die Nähe älterer Männer. Mit 16 Jahren wird sie schwanger von einem Freund des Vaters, der das Frühgeborene sofort zur Adoption freigibt. Sie kann das Kind nicht vergessen, das sie nicht einmal gesehen hat, tanzt Ballett, bis ein Kreuzbandriss die Karriere beendet, wechselt erfolgreich ins Management und erträgt das Unglück mit den älteren Männern, nicht aber das mit dem Kind.

Jule ist der heimliche Mittelpunkt des Romans. Mit ihr erzählt Judith Kuckart wie in ihren früheren Büchern, mit denen "Kaiserstraße" einige Figuren und Sätze teilt, von einer Frau auf der Suche nach dem Glück.

Verglichen mit ihrem großartigen letzten Roman wirkt der neue überschaubar. Während "Lenas Liebe" zahlreiche Lebensgeschichten aus mehr als 50 Jahren auf einer Autofahrt von Auschwitz nach Berlin auf faszinierende Weise miteinander verknüpft, regiert in "Kaiserstraße" die von Erinnerungen durchbrochene Chronologie. Das vermindert trotz der lakonischen Verknappungen, Perspektivwechseln, Ellipsen, leitmotivischen Wiederholungen und umgangssprachlichen Apercus ein wenig den größten Reiz dieser scheinbar trockenen Prosa: die flirrende Vieldeutigkeit. "Kaiserstraße" wirkt geradliniger, weniger geheimnisvoll als "Lenas Liebe", allerdings auch leserfreundlicher.

Weniger abgründig ist der Roman mit der großen Zahl von Toten und Verschwundenen nicht: Leo sehnt sich nach der Nitribitt, Jule nach ihrem Kind und Liz nach gleich dreien, die tot geboren wurden. Da außerdem recht ausführlich von dem ermordeten Benno Ohnesorg und den Toten des deutschen Herbstes die Rede ist, ist mit dem zweimal erwähnten "Schneewittchensarg" wohl nicht nur die Radio-Plattenspieler-Kombination der Firma Braun gemeint - sondern auch die Hoffnung, dass all die Toten gar nicht tot seien.

Tatsächlich bekommt Jule mit 39 Jahren ein zweites Kind, von einem Mann, der so alt ist wie ihr erstes, verschwundenes. Eine Zeitschlaufe schließt Vergangenheit und Gegenwart, Wunsch und Wirklichkeit kurz. Auch dies ist eine Kreuzung von Parallelen, und es ist kein kleines Kunststück, wie Kuckart die märchenhafte Wendung am Kitsch vorbeibugsiert. Obwohl der jugendliche Kindsvater dann für ein Jahr nach Rom geht, kommt Jule ihre Familie "vollzählig vor, im Moment wenigstens": Väter sind eben abwesend. So unsentimental betörend wie Judith Kuckart erzählt gegenwärtig niemand von der Droge Sehnsucht – und ihren verheerenden Nebenwirkungen.

Judith Kuckart: Kaiserstraße
DuMont, Köln 2006. 316 Seiten