Beten verboten?

Von Uwe Bork |
Die elf Männer hatten offensichtlich nicht den besten Ruf. Als sie jedenfalls einmal ohne Vorwarnung etwas aus sich herausgingen und ihre Stimmen ein wenig lauter wurden als normal, hieß es gleich: "Sie sind voll. Betrunken. Abgefüllt mit süßem Wein." Und das an einem hohen religiösen Feiertag!
Ihr Anführer versuchte noch, die Wogen der Empörung mit einem eher schwachen Argument zu glätten: "Die Männer sind doch nicht betrunken, es ist ja erst Vormittag!", aber so richtig verfing das nicht: als wenn man nicht schon morgens um neun bechern könnte!
Kurz: Die weihevolle Stimmung war dahin. Und das zu Pfingsten, und das in Jerusalem, auf heiligem Boden gewissermaßen!

Nun gut, der Vorfall hat sich nicht gerade gestern ereignet. Er liegt ungefähr 2000 Jahre zurück, und berichtet wird von ihm in der biblischen Apostelgeschichte. Er könnte aber auch erst gestern geschehen sein, denn mehr und mehr hat es den Anschein, als wäre in unseren Breiten jeder Respekt vor dem Sakralen verloren gegangen.

Wer beispielsweise heute im römischen Petersdom auch nur ein Stoßgebet gen Himmel schicken wollte, muss sich so fehl am Platze fühlen wie ein Opernfreund in einem Stones-Konzert. Gedränge allenthalben und in jeder Richtung, strukturiert bestenfalls noch durch die in die Höhe gestreckten bunten Fähnchen der Fremdenführer, die sich durch die Massen einen Weg zu bahnen versuchen wie weiland Moses durchs Rote Meer.

Das Auge wird geblendet, allerdings weniger durch die Schönheit von Berninis bronzenem Baldachin als vielmehr durch die Blitzlichter der unzähligen Handykameras, mit denen Tausende von Touristen versuchen, das gewaltige Bauwerk auf bunte Bildchen von der Größe einer besseren Briefmarke zu reduzieren.

Und wem das noch nicht reicht, der mag sich an dem japanischen Pärchen erbauen, das rücklings auf einer Kniebank sitzend die drückenden Schuhe abgestreift hat, um sich die vom endlosen Sightseeing malträtierten Füße zu massieren. Oder an der fröhlichen Jugendgruppe, die auf dem Geländer eines Beichtstuhls balancierend dem Begriff der Vesperandacht eine völlig neue Bedeutung gibt: Seid furchtbar und nähret Euch!

Zumindest in unseren Breiten scheint die Achtung vor Gotteshäusern und den sich in ihnen manifestierenden Ideen nicht mehr viel größer zu sein als diejenige vor Bahnhöfen oder Abflughallen. Vorbei die Zeiten, als die Mehrheit der Menschen noch in Gottesfurcht lebte, wobei darunter - wohlgemerkt – eine respektvolle Ehrfurcht zu verstehen ist und nicht etwa banale Angst. Sie hat es gewiss ebenfalls gegeben, und immerhin haben die Kirchen mit Inquisition und Hexenverfolgungen ja auch einiges dafür getan, sie heraufzubeschwören und am Leben zu erhalten, aber selbstverständlich kann es hier nicht ernsthaft darum gehen, heimlich wieder ein Regime anzustreben, das mit dem direkten Eingriff übernatürlicher Mächte droht. Da sei denn doch die Aufklärung davor.

Nein, der Punkt ist ein ganz anderer.

Auch und gerade in einer Gesellschaft, die sich die Trennung von Staat und Religion auf die demokratischen Fahnen geschrieben hat, kommt es darauf an, Minderheitsmeinungen – und gläubige Christen sind bei uns mittlerweile eine Minderheit – Minderheitsmeinungen zu achten und zu schützen. Nicht durch Polizeieinsätze und Paragraphen, wohl aber durch gesellschaftliche Konventionen und Verhaltensregeln.

Wenn es darum geht, ein gewisses Maß an Respekt vor Kirchen – und damit natürlich auch vor Synagogen, Moscheen und Tempeln – einzufordern, ist dabei zunächst einmal der Blick auf das Wort Respekt selbst zu richten. Dieser Begriff hat nach seinem lateinischen Wortstamm etwas damit zu tun, sich umzusehen, zurück zu blicken, "Rücksicht" zu nehmen. Und damit ändert sich plötzlich im wahrsten Sinne die Perspektive: Wer sich in und gegenüber Kirchen respektlos verhält, zeigt damit nicht etwa ein aufgeklärtes Bewusstsein, das eine Rettung aus unserem Jammertal von "keinem höh'ren Wesen, keinem Gott, keinem Kaiser noch Tribun" erwartet, nein, er demonstriert schlicht Rücksichtslosigkeit gegenüber denjenigen, die den Glauben daran noch haben. Und das ist nicht nur schlechter Stil, das ist auch intolerant und undemokratisch.

Eine gewisse Hoffnung auf Besserung mag allerdings dennoch bestehen.

Die vermeintlichen Säufer und Störenfriede im pfingstlichen Jerusalem entpuppten sich schließlich als vom göttlichen Geist beseelte Urväter des Christentums, auf deren Köpfe die himmlische Inspiration in Form von Feuerzungen niederfuhr. Auch bei denjenigen, die heute mit Shorts an den Beinen, Baseballkappen auf dem Kopf und Kaugummi im Mund die Kirchen stürmen, muss also nicht unbedingt jede Hoffnung verloren sein...
Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion "Religion, Kirche und Gesellschaft" des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.
Uwe Bork
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