Besuch beim Männerarzt

Die meisten Männer wissen mehr über ihr Auto, ihr Boot, ihren Fußballverein oder ihren Golfplatz als über ihre Prostata. Daran möchte der Urologe André Reitz etwas ändern. Um dem unwilligen Leser das ungeliebte Thema schmackhaft zu machen, erzählt er Beispiele aus dem Alltag eines Arztes, kleine Anekdoten aus der Geschichte, und er zitiert gelegentlich geradezu kuriose Studienergebnisse.
Bevor das Buch zur Prostata und den unzähligen männertypischen Krankeiten kommt, räumt es mit allerlei Vorurteilen auf, von denen die meisten Leser allerdings schon geahnt haben dürften, dass sie mit den Realitäten unterhalb des Bauchnabels wenig zu tun haben, zum Beispiel die Penisgröße. Für alle die es noch nicht wussten: 20 Zentimeter sind die absolute Ausnahme. Die Durchschnittswerte der Penislänge wurden in verschiedenen Studien ermittelt und liegen bei acht bis zehn Zentimeter (schlaff) und zwölf bis 16 Zentimeter (erigiert). Und auch Werte unter diesen Durchschnittswerten haben nichts mit einer Krankheit oder einem eingeschränkten Sexualleben zu tun, obwohl manche Frauen in anonymisierten Umfragen eine abweichende Meinung äußerten.

Dass sich zahlreiche Mythen um das Geschlechtsorgan des Mannes ranken, ist nicht neu. Denn kaum ein anderes Thema ist derart tabuisiert. Es fehlte stets an sachlichen Informationen, sodass selbst große Denker wie Aristoteles mit ihren Theorien daneben lagen. Der griechische Philosoph vermutete, dass "Geist und Energie" dazu führen, dass Luft in den Penis dringt, so dass dieser bei der Erektion aufgepumpt wird.

Leonardo da Vinci kam der Wahrheit näher, als er im Penis eines aufgehängten Tagediebs eine große Menge Blut entdeckte. Er stellte als erster die Behauptung auf, dass der Einstrom von Blut den Penis anschwellen lässt. Allerdings durfte er diese Erkenntnis nicht verbreiten. Seine Orginalaufzeichnungen zu diesem Thema wurden auf Befehl der katholischen Kirche jahrhundertelang unter Verschluss gehalten.

Diese und andere kurzweilige Geschichten, die Reitz immer wieder einfügt, machen das Buch lesenswert. Die Aufzählungen verschiedener Krankheiten sind weniger vergnüglich. Sie machen einen großen Teil der ratgeberähnlichen Informationen in diesem Buch aus. Diese Kapitel sind weniger zum Schmökern geeignet. Wer liest schon gerne Einzelheiten über Erektionsstörungen, krankhafte Dauererektionen, Penisverkrümmung oder Penisbruch?

Angenehm ist, dass das Buch ohne reißerische Bilder auskommt. Es verzichtet völlig auf Fotos, Zeichnungen oder Grafiken. Das wird zum Problem, wenn Reitz den Verlauf von Blutgefäßen, die Lage verschiedener Gewebe oder krankhafte Veränderungen beschreibt. Der Laie verliert hier schnell den Überblick, und leider hat der Leser in vielen Situationen nicht die Möglichkeit, einfach mal nachzuschauen.

Der Arzt André Reitz ist Teil des Medizinbetriebs. Immer wieder rät er dem Leser, einen Urologen aufzusuchen. Die Möglichkeiten der Vorsorgeuntersuchung beschreibt er sehr positiv und schließt sich den Empfehlungen der Medizinischen Fachgesellschaften an. Kontrovers diskutierte Positionen werden von ihm nicht hinterfragt. So fehlt ein Hinweis auf die Kampagnen des Pharmaunternehmens Pfizer, dass durch eine sogenannte "Aufklärungsaktion" noch vor der Einführung von Viagra einen Markt schuf für dieses Medikament oder den potenziellen Markt zumindest vergrößerte, indem auch gesunden Menschen Krankheiten eingeredet wurden. Der Journalist Jörg Blech hat dies in seinem Buch "Die Krankheitserfinder" gut dokument.

Das Buch von André Reitz liest sich wie ein Besuch beim "Männerarzt". Dabei hat man glücklicherweise einen gut informierten, freundlichen Vertreter der ärztlichen Zunft erwischt, der es versteht, unterhaltsam zu plaudern und sorgfältig zu erklären. Und noch außergewöhnlicher: dieser Arzt hat Zeit. Kaum zu glauben: Auch für Kassenpatienten. Natürlich fehlt die Möglichkeit für Rückfragen. Dazu braucht man(n) dann doch den leibhaftigen Doktor.

Rezensiert von Michael Lange

Dr. André Reitz: Vom Bauchnabel abwärts. Das Gesundheitsbuch für den Mann
Hirzel-Verlag
192 Seiten, 24 Euro