Besetzte Theater in Frankreich

"Keine Freiheit ohne Kultur"

06:38 Minuten
Kulturarbeiter protestieren auf dem mit Transparenten behangenen Balkon des Théâtre de l’Odéon in Paris.
Die Theaterleute in Frankreich wehren sich: Sie fürchten in der Coronakrise um ihre Existenz. Der Protest ist massiv, wie hier am Théâtre de l’Odéon in Paris. © AFP / Stephane de Sakutin
Von Eberhard Spreng · 03.04.2021
Audio herunterladen
Die geschlossenen französischen Theater sind ein Kampfplatz: Vor allem die Situation der Freischaffenden ist prekär. Schauspieler und Mitarbeitende wollen pauschale Corona-Schließungen nicht hinnehmen und kapern die Bühnen für ihre Protestaktionen.
Mussorgski im Open Air. Schauplatz ist der Vorplatz des Théâtre de l’Odéon in Paris, das bis heute das Herz der Theaterbesetzungen geblieben ist. Musiker aus der Orchestergewerkschaft der einst kommunistischen Confédération générale du travail (CGT) haben sich versammelt, um die seit dem 4. März im Theater versammelten Besetzer zu unterstützen. Einige Hundert Zuhörerinnen und Zuhörer hat das Konzert.
Die Polizei versuchte, die zu Coronazeiten illegale Versammlung aufzulösen, gab ihren Versuch aber schnell auf. Auch die Orchesterversion des "El pueblo unido"-Songs wird gespielt, zur Begleitung des Gesangs der Demonstrierenden.
In den letzten Wochen hatte sich die Bewegung der Besetzer auf andere Theater ausgeweitet: Zunächst das Pariser Théatre de la Colline und das Théâtre National de Strasbourg, wo Studenten und Studentinnen in den Schaupiel-, Regie- und Bühnenbildklassen der angesehenen Theaterakademie das Theater besetzten.

Matratzen in verwaisten Häusern

Marion, eine von ihnen erklärt in dem Straßburger Videoblog StrasTV, dass die Bevölkerung natürlich vor der Infektion geschützt werden muss, bekräftigt aber auch, dass Theater keine Orte sind, in denen das Virus sich ausbreitet.
Wie auch in fast allen anderen großen und kleinen Städten Frankreichs haben vor allem junge Theatermenschen Matratzen in die Theaterhäuser geschafft und übernachten in den infolge der Coronamaßnahmen verwaisten Häusern. Auch das Brüsseler Théâtre National hat die Bewegung erreicht. Es wird allerdings auch gemunkelt, einige Eigentümer kleinerer Theater hätten das Plakat "Besetzt" an die Fassade ihrer Häuser gehängt, um so einer tatsächliche Besetzung vorzubeugen.
Im nordfranzösischen Lille haben sich Besetzer und Besetzerinnen nackt vor die Fassade des Theaters gestellt. Sie übernehmen so die Aktion von Corinne Masiero bei der Verleihung der Césars, natürlich aber auch Aktionsformen wie die der Femen-Proteste, die vor mehr als zehn Jahren in Russland Aufsehen erregten.

Kultur ist eine Nahrung

Schon am ersten Tag der Besetzung am Odéon hat sich der berühmte Straßenmusiker Kaddour Hadadi, genannt "HK", der seit Jahren soziale Protestbewegungen musikalisch begleitet, unter die Besetzer gemischt, singt im eleganten Foyer des Theaters und fordert: "Lasst sie sich ausdrücken".
Gemeint sind die Intermittents, die 110.000 freien Kulturschaffenden des Nachbarlandes, die spielen, Bühnen aufbauen, beleuchten oder den Ton regeln. Von ihren drei aktuellen Forderungen ist noch keine einzige erfüllt: Nicht die Verlängerung ihrer außerplanmäßigen Arbeitslosengeldzahlungen über den 31. August hinaus, noch auch die Rücknahme der Reform des Arbeitslosengeldgesetzes für weitere prekäre Zeitarbeitende. Vor allem nicht die zentrale Forderung nach der Öffnung der Kultureinrichtungen.
In der Assemblée Nationale, dem französischen Parlament, attackierte der La-France-Insoumise-Abgeordnete Michel Larive die Ministerin Roselyne Bachelot und betonte, dass Kultur eine notwendige Branche ist und dass jede Gesellschaft, der Kultur vorenthalten wird, zum Tode verurteilt ist. Sie sei eine Nahrung, wenn auch keine für den Magen. Und sie sei, wie Michel Larive betonte, das beste Gegenmittel gegen alle obskuren Verschwörungstheorien. Es gebe keine Freiheit ohne Kultur.

Spott über die Kulturministerin

In einem Kolloquium sind Menschen aus Forschung und Politik der Besetzerbewegung beigesprungen, um zu belegen, dass Kultur für die Gesellschaft unverzichtbar ist. Die von immer mehr Seiten angegriffene Kulturministerin, die sich derzeit in einem Pariser Krankenhaus von ihrer Coronakrankheit erholt, hatte die Odéonbesetzer besucht, ohne irgendwelche Vorschläge machen zu können. Das nationale Radio France Inter reagierte mit seinem "Impromptu de l’Odéon":
Das sei aber sehr mutig gewesen, spöttelte der fiktive Dialog zweier Chronisten, und sie hätte alle Chancen, den legendären Kulturminister Malraux zu übertrumpfen, der es 1968 nicht gewagt habe, den damaligen Besetzern einen Besuch abzustatten.
Im Mai 1968 hatte eine symbolträchtige vierwöchige Besetzung des Odéon stattgefunden, an die die Aktivisten heute gerne anknüpfen würden.
Vor allem unter dem nun verkündeten neuen Lockdown zur Bekämpfung der dritten Welle könnte die Besetzungen allerdings auch enden wie vor wenigen Tagen an der Oper in Bordeaux. Dort wurde die erste Theaterbesetzung von der dortigen Polizei aufgelöst.
Mehr zum Thema