Besessen vom Ballett

Der Russe Rudolf Nurejew gilt als der meistfotografierte Tänzer unserer Zeit. In ihm paarten sich tartarische, jugendliche Wildheit und unumstrittenes Können. Julie Kavanaghs legt nach zehnjähriger Arbeit eine umfassende Biografie des Tänzers, Choreografen und Ballettdirektors vor, die manche Rätsel um sein Leben löst.
Es gab Zeiten, da stand der Tanz immer wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit des Publikums und der Kritik. Das lag auch daran, dass die Künste untereinander viel stärker wetteiferten, um in der ästhetischen Hierarchie möglichst weit oben zu stehen. Denn Fortschritt fand vor allem an der Spitze statt: Um die Wende zum 20. Jahrhundert etwa wurden Serge Diaghilews „Ballets russes“, die mit den führenden zeitgenössischen Komponisten und bildenden Künstlern Europas zusammenarbeiteten, als Wegbereiter der Avantgarde betrachtet. Ihre stürmischen Erfolge und skandalumwitterten Pariser Premieren beherrschten die Gespräche über Kunst wie auch die Gesellschaftsspalten.
Aus dem gleichen Fortschrittsmythos entstand im gleichen Jahrhundert noch einmal eine ähnliche Begeisterung für das Ballett, dieses Mal nicht in Gestalt eines Ensembles, sondern fokussiert auf eine einzige Persönlichkeit, Rudolf Nurejew. Wie die „Ballets russes“ kam er aus jener Stadt, in der mehr als ein halbes Jahrhundert der Ballettmeister von fünf Zaren, Marius Petipa, „Dornröschen“, „Schwanensee“, „Raymonda“ und „La Bayadère“ geschaffen hatte.

„Rudik“, wie ihn seine Leningrader Freunde nannten, brachte 1961 bei seiner spektakulären Flucht in den Westen genau jene aufsehenerregende Mischung aus überragendem Talent, traditionsreichem Hintergrund und ästhetischem Rebellentum mit, durch die schon die „Ballets russes“ berühmt geworden waren.
Um ein Star zu werden, genügen gewöhnlich schon ein oder zwei besondere Merkmale, die von der Öffentlichkeit als das Geheimnis einer Person aufgefasst werden können. Nurejew wurde zur Legende über die Grenzen seiner eigenen Kunst hinaus, weil sein Leben seinen Zeitgenossen unzählige Rätsel aufgab, die sie nur zu gerne gelöst hätten.

In Julie Kavanaghs in zehnjähriger Arbeit entstandener Biografie des Tänzers, Choreografen und Ballettdirektors werden sie alle erschöpfend diskutiert und manche auch gelöst.
In ihm paarten sich Schönheit und Können auf alles andere als gefällige Weise. Seine Schönheit war nicht elegant und nobel, wie die der großen englischen, französischen oder dänischen Tänzer der 60er und 70er Jahre, sondern von tartarischer, jugendlicher Wildheit.

Sein Können war nie unumstritten – zu eigenwillig, zu leidenschaftlich, zu unbeherrscht, zu unberechenbar erschien immer wieder sein Tanz aus technisch-akademischer Sicht. Außerdem beanspruchte er unbedingte Gefolgschaft, um sich bedingungslos dem Tanz widmen zu können. Daneben hatte nichts wirklich Geltung.
Als Pariser Ballettdirektor stieß der „sale étranger“, der dreckige Ausländer, durch seinen unorthodoxen Umgang mit den Gesetzen der Opernhierarchie viele vor den Kopf, dabei ging es ihm nur um die Eroberung neuer Freiheiten gegenüber der Klassik. Wer das aber nicht unterstützte, wurde Zeuge, wie in fürchterlichen Wutanfällen Thermoskannen gegen die Spiegel im Ballettsaal flogen.
Kavanaghs Buch lässt keinen zerschmisssenen Spiegel und keine von aufopferungsvollen weiblichen und männlichen Verehrern gekochte Hühnersuppe aus, aber sie zeichnet eben auch minutiös nach, wie es ihm gelang, Bild und Bedeutung des männlichen Tänzers im Ballett zu revolutionieren, wie er ein Werk des russischen Repertoires nach dem anderen für seine Zeit neu erschloss, und wie er die bedeutendsten Compagnien der Welt so mitriss, dass sie ihre überkommene Weise zu tanzen bereitwillig in harter Arbeit veränderten.

Aber sie schildert auch, wie seine Dämonen, Heimatlosigkeit, Unruhe, Verfolgungsangst, Sexgier und maßloser Egoismus ihn umtrieben und schließlich vernichteten. Am liebsten wäre Nurejew, der über seine Aids-Erkrankung nicht sprach, auf der Bühne gestorben. Und das wäre ihm auch beinahe gelungen.

Rezensiert von Wiebke Hüster
Julie Kavanagh: Nurejew. Die Biographie
Aus dem Englischen von Henning Thies,
Ullstein, Berlin 2008,
992 Seiten, 29,90 Euro