Beschimpft und bewundert

Von Günter Kaindlstorfer |
Der österreichische Aktionskünstler Hermann Nitsch versucht in seinen blutigen Orgien-Mysterien-Spielen so etwas wie eine Wiederversöhnung von Kult und Kunst – wobei der 71-Jährige durch die Jahrzehnte hindurch immer wieder auch fanatische Gegner auf den Plan gerufen hat: militante Tierschützer machen gegen seine orgiastischen Aktionen ebenso mobil wie fundamentalistische Katholiken, die Nitsch für einen publicitysüchtigen Blaspehmiker halten. Im Wiener Künstlerhaus ist zur Zeit eine monumentale Ausstellung über Hermann Nitsch zu sehen – auch aus diesem Anlass gehen die Wogen wieder hoch.
Eine von Hermann Nitschs Malaktionen: Von andächtigen Verehrerinnen umringt, rührt der Meister persönlich die Farbe für eines seiner Schüttbilder an.

Nitsch-Verehrerinnen:
"Wie er die Farbe auf die Leinwand bringt, das finde ich ausgesprochen emotional und mitreißend. / Ich finde es ausgesprochen interessant, wie er arbeitet, auch wie das ganze Team zusammenspielt. Ich glaube, die lesen ihm an den Augen ab, was für eine Farbe er sich als Nächstes wünscht. / Wenn ich vom Herrn Professor angeschüttet werden würde, ich würde mich den Rest meines Lebens nicht mehr waschen."

Draußen auf der Straße, bei einer weniger kunstsinnigen Klientel, hat Hermann Nitsch schon entschieden weniger Anhänger.

Nitsch-Gegner:
"A so a Malerei, sowas lehne ich ab. / Normal ist das nicht, mit dem Blut herumschütten, nicht!/ Ich verstehe es nicht, dass er anerkannt ist. / Hören Sie mir auf mit dem Nitsch./ Ich werde nicht hineingehen, ich gehe in kein Museum."

Hermann Nitschs Aktionen, vor allem sein "Orgien-Mysterien-Theater", haben die Gemüter seit jeher erregt: Da werden Schweine gekreuzigt und Messgewänder theatralisch in Blut getränkt, da werden großformatige Bilder aus Tierblut "geschüttet", da wühlt der Meister, ganz praktizierender Archaiker, zu den rituellen Gesängen seiner Jünger in dampfendem Tiergedärm. Ihm sei es um die Schaffung bacchanalischer Gesamtkunstwerke zu tun, erklärt Hermann Nitsch, um so etwas wie eine Wieder-Einsetzung des Dionysischen.

Hermann Nitsch: "Mir ist es nie darum gegangen, zu provozieren. Ich wollte mit meiner Kunst immer Intensität erzeugen. Ich wollte und will, dass man durch meine Arbeiten so getroffen wird, als wenn man eine Beethoven- oder eine Bruckner-Symphonie hört – oder ein Van-Gogh-Bild sieht."

Die Monumentalschau im Wiener Künstlerhaus dokumentiert Hermann Nitschs Arbeiten aus den letzten fünfzig Jahren, in Schüttbildern, Aktionsrelikten, großformatigen Fotos und Videos. Sie bettet Nitschs Oeuvre allerdings in einen größeren kunstgeschichtlichen Zusammenhang ein, zeigt auch hochkarätige Werke von Künstlern, die für die Entwicklung des rauschebärtigen Aktionskünstler aus Niederösterreich wichtig waren: Bilder von Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele sind in der Wiener Ausstellung ebenso zu sehen wie Arbeiten von Günter Brus, Otto Mühl, Arnulf Rainer und Antoni Tapies. Hermann Nitsch schreitet nicht ohne Veteranenstolz an dem einen oder anderen Exponat vorbei:

"Das ist ein Bett, dazu eine Tuchent und ein Polster. Darüber ist ein Schaf gehangen, das Schaf ist auch mit Blut beschüttet worden, ich habe mich dann in diesem Bett gewälzt, und dann wurden Gedärme und Fleischteile auf mich geworfen, und auch Blut und heißes Wasser."

Besucher: "Mir geben die Bilder nichts. Ich mag schon abstrakte Maler auch. Aber mir sind solche Bilder am liebsten, die eine Geschichte ergeben. Aber diese Schüttbilder ergeben keine Geschichte."

Das sieht Hermann Nitsch anders, ganz anders:

"Ich glaube, es geht in meiner Arbeit um Bewusstseinserweiterung und um die Aufarbeitung neuer Erfahrungen. Und dazu gehört auch das Aufarbeiten SINNLICHER Erfahrungen. Unsere Gesellschaft neigt dazu, das Sinnliche und das Vitale zu verdrängen und zu kanalisieren. Mit meiner Arbeit möchte ich bis zu einem gewissen Grad eine offene Sinnlichkeit entwickeln."

Dass er konservative Christen mit seinem Neo-Archaismus zur Weißglut treibt, nimmt Hermann Nitsch mit Bedauern zur Kenntnis:

"Ich habe vor allen Religionen Respekt und würde mir nicht anmaßen, irgendeine Religion zu beleidigen."

Ganz im Gegenteil: Seine Arbeit, so Nitsch, habe einen zutiefst religiösen Aspekt.

"Ich hab mich ein Leben lang mit den Religionen der verschiedensten Kulturbereiche beschäftigt. Ich habe auch von C.G. Jung sehr viel gelernt, habe seine Archetypenlehre und seine Theorie vom kollektiven Unbewußten studiert. C.G. Jung hat mich immer bestimmt. Bei mir ist es so, dass ich versuche, die Religionen miteinander zu vergleichen."

Zum Beispiel Christentum und griechische Tragödie. Mit beidem hat sich Nitsch seit seinen künstlerischen Anfängen in den frühen 60er-Jahren exzessiv auseinandergesetzt.

Hermann Nitsch: "Die christliche Messe mit ihrer Symbolik für mich ist bis zu einem gewissen Grad die Weiterführung der griechischen Tragödie, nur mit dem Unterschied, dass der Held im Christentum NICHT scheitert, wie vielfach bei den Griechen, nein, es folgt seine Auferstehung. Ein neuer Kosmos wird erarbeitet. Ein metaphysisches Tor wird aufgeschlossen."

Vielen seiner aktionistischen Mitstreiter aus den 60er-Jahren – Günter Brus und dem aus anderen Gründen hoch umstrittenen Otto Mühl zum Beispiel – ist der religiöse Anspruch in Nitschs Orgien-Mysterien-Spielen suspekt. Schließlich seien die "Wiener Aktionisten" in den Sechzigern nicht zur umfassenden Befreiung des Menschen angetreten, um ihn dann zum kritiklosen Protagonisten neuheidnischer Rituale zu machen. Hermann Nitsch kann mit Kritik dieser Art nichts anfangen. Der Mensch sei ein Gesellschaftswesen, betont er, auch in der Kunst.

"Meine Arbeit hat sehr wohl sozialen Charakter, weil ich er Meinung bin, dass die Kunst eine zutiefst altruistische Funktion hat. Wenn sich die Kunst nicht in irgendeiner Form an die Allgemeinheit wendet, ist sie nur eine Sonderform der Onanie."

Die wütenden Angriffe, denen Hermann Nitsch in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder ausgesetzt war, sollten sich in des Meisters fortgeschrittenem Alter etwas abgemildert haben, könnte man meinen. Weit gefehlt. Kürzlich war Hermann Nitsch zu Gast in einer Phone-In-Sendung des österreichischen Rundfunks. Mehr als eine Anruferin machte dort ihrer Empörung über Nitschens künstlerische Grenzüberschreitungen Luft.

Anruferin: "Ich lese Ihnen einen Ihrer Texte vor, Herr Nitsch. Mich würde interessieren, was Sie dazu sagen. Also: 'Dreißig elfährige nackte Mädchen, deren Köpfe kahl geschoren sind, kommen zur Leiche von Jesus Christus. Die Mädchen klaffen die Seitenwunde auf, stecken ihre Zunge tief in die Wunde, saugen und lutschen an ihr. Die Leiche von Jesus Christus wird eine Stunde lang mit Lederriemen gegeißelt und gepeitscht ... Sie sind ja wahnsinnig, das ist eine Schande, so was Ordinäres. Wo ist da die Kunst? Wie muss es in Ihrem Inneren ausschauen?"

Nitsch: "Ich werde immer wieder auf diese Arbeit angesprochen. Und ich muss sagen: Das ist eine meiner intensivsten, härtesten und tragischsten Arbeiten. Ich wollte damals das Abgründige zeigen, das Entsetzliche. Ich bejahe das Leben, ich liebe das Leben, aber ich muss auch die Abgründe sehen, die mit dem Leben verbunden sind."

Leicht haben Sie's nie gehabt, die künstlerischen Visionäre, die in "des Lebens Abgründe" geblickt haben. Nicht alle sind vom offiziellen Kulturbetrieb für ihre Kompromisslosigkeit allerdings so üppig belohnt worden wie Hermann Nitsch. Nach dem Burgtheater, in dem er 2005 eine siebeneinhalb-stündige Blut-und-Darm-Performance abhalten durfte, hat mit dem "Künstlerhaus" nun ein weiterer Weihetempel der Wiener Hochkultur seine Pforten weit für Nitsch geöffnet. Keine schlechte Bilanz für einen notorischen Bürgerschreck. Das konservative Establishment scheint seinen Frieden mit Hermann Nitsch gemacht zu haben. Ein Konditor in des Künstlers niederösterreichischer Heimatgemeinde Mistelbach hat nun sogar eine "Nitsch-Trüffel" kreiert: belgische Schokolade mit blutroter Kakaobutter.