Bernd Wilms: Radikal, raffiniert und eminent klug

Der frühere Intendant des Deutschen Theaters Berlin, Bernd Wilms, hat die Radikalität der Theaterarbeit des verstorbenen Regisseurs Jorgen Gosch gewürdigt. Gosch habe das Lügen auf dem Theater nicht vertragen können, sagte Wilms.
Dieter Kassel: Der Theatermacher ist in der vergangenen Nacht an seinem Krebsleiden gestorben. Bernd Wilms hat ihn schon in den frühen 80er-Jahren kennengelernt, ist ihm dann später immer wieder begegnet, unter anderem auch, als er, Wilms, der Intendant des Deutschen Theaters in Berlin war, von 2001 bis 2008, zu einer Zeit, zu der auch Jürgen Gosch, wir haben es gerade gehört, endlich auch in Berlin zum Regiestar wurde. Bernd Wilms ist inzwischen seit gut einem Jahr Kurator des Hauptstadtkulturfonds und jetzt am Telefon. Guten Tag, Herr Wilms!

Bernd Wilms: Guten Tag!

Kassel: Ich möchte noch mal Corinna Harfouch zitieren, die kam ja gerade auch vor, die gesagt hat, Gosch sei gleichzeitig ungeheuer bösartig und ungeheuer liebend gewesen. Mit dem Letzteren habe ich gar kein Problem in meiner Vorstellungswelt, mit dem Bösartigen schon. Haben Sie die Bösartigkeit auch mal erlebt, gesehen?

Wilms: Ich muss erst mal sagen, das ist ein sehr, sehr schöner, ein sehr zutreffender Bericht zu diesem furchtbaren Anlass. Ich verstehe, was Corinna Harfouch meint, weil das zu tun hat mit der Radikalität der Arbeit von Jürgen Gosch und der Unnachsichtigkeit und damit, dass er ums Verrecken das Lügen auf dem Theater nicht verträgt. Und das will er an der Grenze der Bösartigkeit auch Schauspielern austreiben.

Kassel: Was ist denn passiert, wenn er zum Beispiel, wie Sie gerade gesagt haben, das Lügen auf der Theaterbühne nicht vertragen hat oder etwas anderes? Blieb er dann trotzdem von der Art, so wie wir ihn gerade wieder gehört haben, dieser Ruhige, Sachliche, Gelassene oder konnte er dann doch auch aus der Haut fahren?

Wilms: Ich habe das nicht oft erlebt, dass er aus der Haut fahren konnte, aber es waren immer alle Antennen ausgefahren, in welcher Stimmung er sich befand, und er hat ja auch mit einer großen taktischen Raffinesse Schauspieler bis zur letzten Minute verunsichert. Das ist ein Teil dessen, was seine Arbeit ausmacht. Eigentlich war für ihn die Premiere auch nur eine Probe, und ganz, ganz oft hat er noch am Nachmittag der Premiere einen ganzen Akt geändert, ganze Abläufe geändert und Schauspieler produktiv in die Verunsicherung getrieben.

Kassel: Wie war denn das für einen Intendanten? Wie war denn der Umgang des Regisseurs Gosch, der sich ja – wenn auch, muss man zugeben, erfolglos – in der Berliner Schaubühne auch mal als Theaterleiter versucht hatte, wie war der Umgang mit Ihnen in der Zeit am Deutschen Theater dann?

Wilms: Das war ganz wunderbar, weil ich nicht nur der Intendant des Deutschen Theaters gewesen bin, sondern immerhin bei zwei Stücken von Jürgen Gosch der Dramaturg, der die jeweilige Produktion begleitet hat – gleich die erste, die wir zusammen gemacht haben, "Virginia Woolf" von Albee, und dann beim "Sommernachtstraum" –, und mir ist sehr schnell klargeworden, dass der Gosch, wenn er Menschen erforscht und die geliebten Schauspieler, gar keinen Dramaturgen braucht, weil der nie ein Konzeptregisseur, nie in diesem Sinn ein denkender Regisseur gewesen ist. Das hätte er sicher sehr verachtet bei der eminenten Klugheit, die ihn auszeichnete. Und ich bin trotzdem immer und ganz regelmäßig zu den Proben gegangen und war nie so glücklich, dass mir dieser Luxus zuteil wird, dass ich fürs Staunen, dass ich fürs Zugucken bezahlt werde.

Kassel: Sie haben Jürgen Gosch Anfang der 80er-Jahre, ich glaube, 1981, kennengelernt in Köln damals. Da war er gerade drei Jahre in der Bundesrepublik. 78 kam er ja aus der DDR. Wir erinnern uns jetzt an den großen Theaterregisseur der letzten Jahre ja hauptsächlich – was für einen Mann haben Sie denn damals kennengelernt?

Wilms: Ich weiß nicht, was mit der Schaubühne und was nach der Schaubühne passiert ist und in den Jahren danach. Unmittelbar nachdem er, ich glaube, mit Arbeiten in Bremen beginnend in den Westen gekommen war – er hat "Hamlet" gemacht in Bremen und dann in Köln den wunderbaren "Ödipus" mit Ulrich Wildgruber und den ganz wunderbaren "Menschenfeind", mit der riesensteilen Treppe von Axel Manthey, da war es noch nicht Johannes Schütz –, da war das was ganz Ungewöhnliches, was ganz Frisches für uns Theaterroutiniers, noch nie Gesehenes. Dann habe ich im Laufe der Jahre auch Aufführungen gesehen, die mich wenig überzeugt haben, und dann hat er sich, ich glaube, sehr in der Zusammenarbeit mit Schimmelpfennig und den Sachen, die er am Hamburger Schauspielhaus und in Düsseldorf gemacht hat - schon vor dem "Macbeth" - eine Wende genommen und plötzlich war der da auch schon über 60-Jährige der jüngste Regisseur, den das deutsche Theater hatte.

Kassel: Herr Wilms, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Wilms: Ich bedanke mich auch.

Kassel: Bernd Wilms war das, unter anderem bis 2008 Intendant des Deutschen Theaters. Mit ihm haben wir über Jürgen Gosch gesprochen, der Regisseur ist in der vergangenen Nacht im Alter von 65 Jahren in seiner Berliner Wohnung verstorben.