Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko

Werke der „Lost Generation“

Auf einer Wiese zeigt sich die Grabstele von Alexander von Zemlinsky, die stilisiert wie ein wartender Hund aussieht.
Heute ist die letzte Ruhestätte von Alexander von Zemlinsky, der in Larchmont (New York) verstarb, auf dem Wiener Zentralfriedhof ein Ehrengrab. © imago images/Manfred Segerer
Moderation: Olaf Wilhelmer · 10.06.2022
Der Schwerpunkt „Lost Generation“ der Berliner Philharmoniker zeigt, was der Holocaust in der europäischen Musik zerstört hat. Einst ein Vorzeige-Orchester der NS-Diktatur, ist es den heutigen Musikern wichtig, verfemte Komponisten wie Schulhoff und Zemlinsky zu spielen.
Wenn man die Musik von Erwin Schulhoff, Leone Sinigaglia und Alexander Zemlinsky hört, würde man ihre Urheber nicht unbedingt in eine gemeinsame Rubrik einordnen. Dass die Berliner Philharmoniker diesen drei Komponisten nun einen Abend widmen, lässt sich allerdings durch mehrere Zusammenhänge erklären. Mit diesem Programm setzt der Chefdirigent Kirill Petrenko einen ungewöhnlichen Akzent.

Ausschluss jüdischer Komponisten

1942, vor 80 Jahren, starben Schulhoff und Zemlinsky. Letzterer in den USA im Exil, wo der einst gefeierte Dirigent und geachtete Komponist nicht mehr hatte Fuß fassen können. Schulhoff erlag in einem NS-Internierungslager der Tuberkulose. Und Sinigaglia starb zwei Jahre später bei seiner Verhaftung durch faschistische Handlanger in Italien. Alle drei Komponisten waren Juden, alle drei stehen für eine untergegangene, mitteleuropäisch geprägte Musikkultur, die nach 1945 lange auf ihre Wiederentdeckung warten musste.

Ein Wanderer und Spätromantiker

Sinigaglia war um 1900 als Komponist von Salonmusik gefragt, wurde aber auch von Größen wie Gustav Mahler oder Arturo Toscanini aufgeführt. Seine Sprache wirkt gänzlich unbefangen und spätromantisch, sie bezieht ihre charakteristische Färbung durch die piemontesische Volksmusik. Sinigaglia, der zugleich als Bergsteiger ein Pionier war, sammelte sie auf seinen Wanderungen durch Norditalien. Aus diesem Repertoire präsentiert Noah Bendix-Balgley, Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, zwei heutzutage vergessene Stücke für Violine und Orchester.

Reaktion auf Mahler

Zemlinsky steht für eine deutlich komplexer gedachte Musik – zwischen opulenter Spätest-Romantik in der Nachfolge Gustav Mahlers und avanciertem Strukturdenken seines Weggefährten und kurzzeitigen Schülers Arnold Schönberg. Mit der „Lyrischen Symphonie“ steht Zemlinskys orchestrales Hauptwerk auf dem Programm: seine Antwort auf Mahlers „Lied von der Erde“ und eine raffinierte Liebesszene, teils Lied, teils Sinfonie, teils Oper, in der das Paar kein einziges Mal gemeinsam singt.
An der Seite des Baritons Christian Gerhaher, der den Berliner Philharmonikern seit vielen Jahren verbunden ist, debütiert die norwegische Sopranistin Lise Davidsen.

Neue Stile entdeckt

Schulhoff verstand es, romantische Einfachheit und moderne Komplexität zu verbinden und sein hochoriginelles Werk mit einer kräftigen Prise Zeitgeist der „Roaring Twenties“ zu würzen. In seiner knappen und witzigen, im wahrsten Sinne des Wortes pointierten 2. Sinfonie gibt es einen Jazz-Satz mit Banjo und Saxophon.
Live-Mitschnitt aus der Philharmonie Berlin

Erwin Schulhoff
Sinfonie Nr. 2

Leone Sinigaglia
Rapsodia piemontese für Violine und Orchester op. 26
Romanze für Violine und Orchester A-Dur op. 29

Alexander von Zemlinsky
"Lyrische Symphonie" op. 18

Mehr zum Thema