Berliner Ausstellung "Bewegte Zeiten"

"Unsere gesamte Entwicklung beruht auf Migration"

Eine antike grüne Scheibe mit Sternsymbolen steht in einer Vitrine.
Die Himmelsscheibe von Nebra - hier zu sehen im Gropius-Bau in der Ausstellung "Bewegte Zeiten". © picture alliance / Soeren Stache
Matthias Wemhoff im Gespräch Stephan Karkowsky  · 20.09.2018
Der Mensch sei darauf ausgelegt, 30 Kilometer am Tag zu laufen, sagt Matthias Wemhoff vom Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin. Die Wanderungen der frühen Menschheitsgeschichte sind in der Ausstellung "Bewegte Zeiten - Archäologie in Deutschland" zu sehen.
Stephan Karkowsky: Wir leben in bewegten Zeiten – wer möchte das bestreiten. Dass jetzt aber selbst eine große Archäologie-Schau in Berlin sich diesen Titel gibt, "Bewegte Zeiten", das darf zunächst verwundern, denn was Archäologen aus der Erde holen, das bewegt sich ja für gewöhnlich seit vielen hundert oder tausend Jahren nicht mehr.
Was also steckt dahinter? Das fragen wir einen der Veranstalter, den Mittelalter-Archäologen Matthias Wemhoff, er ist Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte. Herr Wemhoff, neugierig macht ja schon mal dieser Titel, "Bewegte Zeiten", aber worauf genau soll er verweisen?
Wemhoff: Zunächst einmal ganz simpel: Alles, was wir da haben, sind Zeitzeugnisse, die bewegt sind, die aus ganz Deutschland, aus allen Bundesländern hierhin gebracht worden sind. Das Beste, was in den letzten 20 Jahren gefunden wurde. Aber der Sinn geht natürlich viel, viel tiefer.
Wir sagen, in den Objekten, in dem, was wir sehen, besteht eine Möglichkeit, eigentlich den Menschen von damals mit ihren Lebenserfahrungen, mit ihren Lebenswelten zu begegnen. Das ist unser Anliegen. Und wenn wir nämlich da direkt hineinschauen, dann merken wir, dass unsere Vorstellung, dass wir sozusagen diejenigen sind, die am meisten dieser Bewegung, Veränderung ausgesetzt sind, in unglaublich stürmischen Zeiten leben, eigentlich zu relativieren ist.
Harald Meller und Matthias Wemhoff holen die Himmelsscheibe von Nebra aus einer Schatulle
Harald Meller (links) vom Landesamt für Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt und Matthias Wemhoff (rechts) präsentieren die Himmelsscheibe von Nebra.© Soeren Stache/dpa
Karkowsky: Genau so denkt man das ja normalerweise: Migration, Vernetzung, Austausch, Mobilität – große Stichworte, die man für gewöhnlich mit der Neuzeit verbindet. Wie mobil waren denn die Menschen früher, und vor allen Dingen, wo und ab wann?

Der Frühmensch durchwanderte Europa

Wemhoff: Ich glaube von Anfang an. Der Mensch ist eigentlich ein Wesen, das auf Bewegung angelegt ist, der gerade ein Läufer ist – wir haben es gerade letzte Woche in Berlin gesehen –, ein Jemand, der jeden Tag 30 Kilometer zurücklegen kann. Europa ist ein kleiner Kontinent, den kann man wunderbar durchwandern und durchstreifen, und das ist etwas, was die Menschen immer gemacht haben. Also unsere gesamte Entwicklung beruht auf Migration, das ist der Anfang von allem.
Wir zeigen das in der Ausstellung mit den Nachweisen der großen Migrationsbewegung, die eigentlich erst das europäische Genom in der Jungsteinzeit geformt haben, also von Anfang an Bewegung von Gruppen, aber auch Bewegung des Einzelnen, und die Menschen waren zu allen Zeiten mobil. Wir zeigen das mit Objekten, das älteste ist der Schöninger Speer, der ist 300.000 Jahre alt, ja, und es geht bis ins 20. Jahrhundert.
Karkowsky: Also keine antiken Nikies in der Ausstellung, sondern der Schöninger Speer?
Wemhoff: Der Schöninger Speer ist eine der spektakulärsten Entdeckungen auch der letzten Jahre. Das ist ein Lager von Wildbeutern bei Schöningen, das ist in der Nähe von Helmstedt, dort hat man Wildpferde gejagt, und das mit perfekten Speeren. Also heutige Speerwerfer sagen, die sind ballistisch so ausgereift, die kommen an heutige Hochleistungsspeere ran, und da sehen wir einfach, wir müssen den Menschen auch in ganz fernen Zeiten unglaublich viel zutrauen.

Das älteste Rad wurde am Bodensee gefunden

Karkowsky: Sie nennen die Bewegung des Menschen das verbindende Grundprinzip der Geschichte. Wie ist das gemeint?
Wemhoff: Bewegung ist die Basis dafür, dass Menschen in Interaktion treten, dass sie in Kontakt kommen, und dann bewegen sich nicht nur die Menschen, dann bewegen sich die Waren, Handel, Austausch, die Gier nach dem Fremden, das Habenwollen verschiedenster Sachen. Das ist ein Antrieb, und natürlich auch die Bewegung von Ideen, denn sobald sich Menschen bewegen, sobald sie in Kontakt kommen, versucht man das zu übernehmen, was einem nützlich erscheint. Das zeigen wir zum Beispiel mit dem ältesten Rad der Welt, was man im Augenblick hat, und das ist am Bodensee gefunden worden.
Karkowsky: Wie alt ist das?
Wemhoff: Das ist so 5000 Jahre alt.
Karkowsky: Und wann ist es erfunden worden, weiß man das?
Wemhoff: Weiß man nicht genau, weil das ist im Augenblick das älteste Sachzeugnis. Wir haben bisher gedacht, vielleicht ist das Ganze, wie vieles, irgendwo im Zweistromgebiet erfunden worden. Aber auch unsere Region hat viel zu bieten, und es ist gar nicht so klar, wo der Innovationsort tatsächlich gewesen ist und wann.
Karkowsky: Sie würden den Beginn der Globalisierung jetzt aber nicht in die Steinzeit vorverlegen, oder?
Wemhoff: Das ist natürlich die allerglobalisierte Zeit, out of Africa, letztlich kommen alle aus Afrika. Wenn ich überhaupt die Genese des Menschen sehe, die großen Wanderungsbewegungen kommen von dort, der Homo sapiens in einer ganz langen Wandergeschichte. Als er hier ankommt, interessanterweise, macht er die erste Kunst auf der Schwäbischen Alb, das älteste Kunstwerk der Menschheit, eine vollplastische Venusfigur, die sehen Sie auch in der Ausstellung.
Karkowsky: Wie alt ist die?
Wemhoff: Die ist etwa 40.000 Jahre alt.
Karkowsky: Meine Güte, und 70.000 Jahre ist eigentlich nur die Menschheitsgeschichte, ne?
Wemhoff: Die ist schon ein bisschen länger. Wir gehen davon aus, dass das aufrechte Gehen, das, was wir als den ersten Menschen …, das sind schon fast sieben Millionen.
Karkowsky: Woran erkennt ein Archäologe, welche Wanderungsbewegung es auf der Erde vor Hunderten von Jahren gegeben hat?
Wemhoff: Das sehen wir vor allen Dingen an dem, was Menschen mit ins Grab bekommen, das ist das wichtigste archäologische Zeugnis, und da sehen wir dann zum Beispiel Keramik, die bestimmte Gruppen bildet, wo wir vermuten können, dass das eine kulturelle Prägung ist, die dort gewesen sind, dass das vielleicht auch wirklich eine Gruppe ist, die auch genetisch zusammengehört. Wir haben aber auch die Zeugnisse von Einzelnen, wo wir sagen, der ist an einem anderen Ort bestattet worden, hat aber noch Sachen dabei, die kommen aus seinem Herkunftsgebiet.

Siedlungsgebiete immer stärker durchlöchert

Karkowsky: Was von Ihren Funden zeigt denn zum Beispiel auch Kriege, Wanderungsbewegungen, die dazu geführt haben, dass eine Kultur durch eine andere verdrängt wurde?
Wemhoff: Ja, wir haben drei große Schlachtfelder bei uns in der Ausstellung, in Landschaften, wo man heute denkt eigentlich, da ist es unglaublich friedlich. Also zum Beispiel das älteste Schlachtfeld der Menschheit, eine der spektakulären Entdeckungen der deutschen Archäologie im Tollensetal bei Neubrandburg, da sind zwei Gruppen aufeinandergeprallt, Hunderte von jungen Männern sind dort zu Tode gekommen, mit Pfeilen erschossen, mit Steinspitzen oder auch mit Bronzespitzen, man sieht das, wie die noch im Schädel oder in den Knochen stecken. Wer da aufeinandergeprallt ist, das ist immer noch nicht ganz klar, also die Genetik und die Isotopenanalyse haben noch zu keinen Ergebnissen geführt.
Karkowsky: Und wann?
Wemhoff: Da sind wir in der Bronzezeit, das ist so etwa 3300 Jahre her.
Karkowsky: Meine Güte. Viele archäologische Fundstücke finden sich bei Bauarbeiten, sind Sie also froh über den aktuellen Bauboom?
Wemhoff: Also eins muss ich ganz klar sagen, Archäologie ist endlich. Dass wir so unendlich viel jetzt zeigen können, das ist ein Beispiel dafür, dass wahnsinnig viel archäologische Stätten in den letzten Jahren zerstört werden. Wir brauchen nur hier nach Berlin schauen – jede Grabung ist am Beginn eine Baumaßnahme, die nichts übrig lässt. Und der Stadtkern oder die zentralen Siedlungsgebiete sind immer stärker durchlöchert. Also wir werden irgendwann nicht mehr so viel zeigen können, wir sind dann auf das angewiesen, was in den Magazinen ist.
Karkowsky: Ihre Ausstellung ist thematisch geordnet, relativ am Ende kommt die Innovation. Was wird da gezeigt, gehört das Rad dazu?
Wemhoff: Das Rad gehört dazu. Wir zeigen sozusagen das erste Mal quer durch alle Epochen Entdeckungen. Wir zeigen aber auch die Suche des Menschen nach der Weltformel, Stein des Weisen, Alchemie, ein großes Alchemielabor, das in Wittenberg gefunden wurde. Wir zeigen die kulturellen Innovationen, das gehört natürlich auch dazu, zum Beispiel die älteste Kunst, die hatte ich schon angesprochen, und wir zeigen, wie der Mensch versucht, seine Umwelt und alles zu begreifen. Wir zeigen die Himmelsscheibe von Nebra und die drei Goldhüte. Das ist eine absolut eindrucksvolle Schlussinszenierung.
Karkowsky: Alles in einer Schau. Wie lange brauche ich ungefähr, um da durchzukommen, wenn ich mir ein bisschen Zeit nehme, was meinen Sie?
Wemhoff: Zwei, drei Stunden sollte man schon einplanen.
Karkowsky: Der Mittelalter-Archäologe Matthias Wemhoff ist Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte und er eröffnet heute im Berliner Martin-Gropius-Bau eine große Ausstellung mit dem Titel "Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland". Könnte ein Blockbuster werden, oder? Danke, für das Gespräch!
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