Berliner Ansichten
Mit fast 400 Originalfotografien bietet "Grau als Farbe" die bisher größte Übersicht über das Werk des Berliner Fotokünstlers Michael Schmidt, der sich mit Serien wie "Waffenruhe" und "Ein-Heit" einen Namen machte.
Die Nahsicht auf Trümmergrundstücke und ein Panorama oder Straßenkreuzungen, der herbe ästhetische Reiz von Waschbeton und das trügerische Idyll einer sonnendurchfluteten Großstadt-Brache – all das ist Berlin. Jenes Berlin, das heute die sogenannten "Kreativen" anzieht – und das Michael Schmidt bereits Mitte der 60er-Jahre fotografierte:
"Berlin ist ein Ort, der mich geprägt hat. Aber Berlin dient in meiner Arbeit nur als Beispiel für die Welt, die eine Problematik zeigt, wie zum Beispiel Entfremdung oder Kommunikationslosigkeit oder innere Leere. Das beschäftigt ja nicht nur einen Berliner oder nur einen Deutschen, das finde ich ja in Frankreich genauso."
Aber es reicht eben nicht, die Orte zu finden. Solch einem Schauplatz - heute "location" genannt - muss der Fotograf den genius loci entlocken, jenen Geist, der außerhalb des Sichtbaren, des bloß Illustrativen liegt. Michael Schmidt, der Autodidakt, hat ein Gespür dafür. Seine Schwarzweiß-Serien entpuppen sich als Barometer der beengten, immer wieder durch gewalttätige Ausbruchsversuche gekennzeichneten Atmosphäre einer geteilten Stadt – heute mehr denn je. Auf der virtuos beherrschten Grauton-Leiter spielt Schmidt den Blues der 80er-Jahre nach, auf plakative Farbeffekte kann er verzichten.
Auch Bilder von der Mauer selbst fehlen. Der Grenzwall von damals ist präsent als Metapher, wird aufgerufen durch eine radikale Hängung, in der Chris Dercon, Direktor des Münchner Haus der Kunst, eine "Foto-Architektur" erkennt: An der einen Wand ein Block kleiner Abzüge, an denen manch einer achtlos vorübergeht. Gegenüber fast identische Berlin-Ansichten, die aber als Tableau großformatiger, aufwendig gerahmter Fotografien eine eigenartige Sogwirkung entfalten. Als sei genau hier soeben die Mauer gefallen, der Blick auf den anderen Teil der Stadt freigegeben.
"Meine ganze Arbeit ist ähnlich einem Schachspiel: Es gibt wahnsinnig viel Züge, es gibt eine Unendlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten."
Deshalb also keine Retrospektive: Nur ohne diese Sehhilfe einer chronologischen Hängung bemerkt man, was es auf sich hat mit bekannten Motiven, die in immer neuen Konstellationen auftauchen – und jede Schmidt-Ausstellung zum Ereignis, zum Kommentar einer Ära, eines Jahrzehnts machen. So etwas wie Vertrautheit, gar Überdruss kann sich da nicht einstellen. Stattdessen hat der Betrachter den Entwicklungsprozess eines Fotografen vor sich, schaut ihm bei der Arbeit an seiner Bildsprache über die Schulter. Kurator Thomas Weski:
"Die ersten Bilder sind noch aus einer ganz dokumentarischen Tradition geprägt, die für den Betrachter ein Seh-Angebot formuliert, der sich selbst das Bild zusammensetzen kann. Während später der Blick durch eine Verlagerung der Schärfentiefe, der Schärfezonen im Bild doch sehr gelenkt wird. Die Bilder werden damit autorenhafter und bekommen einen beklemmenden Charakter."
Ein Schriftsteller als Autor kann frei verfügen über seine Welt, den imaginierten Text. Der Fotograf gewinnt Bilder erst in der Begegnung mit der Realität, etwa beim Streifzug durch Berlin oder auf Reisen im Wohnwagen durch die bundesdeutsche Provinz. Und so, wie Schmidt mit seinen Fotos auf Stadträume oder das ästhetische Elend von Gewerbegebieten reagiert, antwortet er jetzt auch auf die Architektur im Haus der Kunst. Da gibt es etwa die hunderteilige Serie "Frauen": mal bekleidet ohne Kopf, dann als Aktaufnahmen und auch als Porträt. Diese stereotypen Motive nun sind in dem Ausstellungsblock in einer Art Dreierschlag ineinander verwoben, aus den Menschenbildern entsteht ein abstraktes Muster. Schmidt:
"Aufgrund des Raumes – das ist ja eine ganz harte Architektur, Nazi-Bau – wollte ich, indem ich sie strukturell gehängt habe, dagegen arbeiten."
Zugleich aber arbeitet der Fotograf für den Zuschauer, reizt ihn mit der Konfrontation von Hochhäusern und Treppenaufgängen mit wogenden Wellen am Meeresstrand:
"Durch die Kombination der Bilder ergibt sich immer ein drittes Bild, das nicht sichtbar ist. Und das ist die Erzählungsstruktur oder die Musikalität, die da drin ist. Die aber nie eindeutig definiert ist. Sie formuliert sich eher als eine große Frage."
Oder als Summe kleiner Seh- und Denkanstöße: In der neu strukturierten Serie "Ein-Heit" tauchen auf Pressefotos und abfotografierten Fernsehbildern zwischen Stoph, Lenin oder Honecker die Köpfe von Erhard, Lübke und Adenauer auf, eitle Täter und teilnahmslose Funktionäre, Repräsentanten der Macht und unzählige Mitläufer, die in die Kamera schauen. Das sind Bilder gegen die Zeit, gekonnt geangelt aus dem Strom der Zeit. Aber eben nicht als eiliger Reporter, denn der Ausdruck eines Lebensgefühls verlangt, im Gegensatz zur aktualitätssüchtigen Illustration des Zeitgeistes, tätige Erinnerung:
"Ich mache immer zwei Schritte vor, einen zurück. Ich brauche das Archiv, um mich selbst nicht nur zu motivieren, sondern auch, um meine Arbeit, die bisher getan wurde, neu zu überdenken und zu reflektieren. Aber nicht alles, was im Archiv liegt, ist gut."
Gut sind allein Bilder, die als Katalysatoren wirken, als Prüfstein, ob eine Gesellschaft sich noch artikulieren, sich von diesen im besten Sinne "verstörenden" Fotos zum unverstellten Blick auf die Welt anregen lassen kann. Michael Schmidt hat wieder einmal seinen Teil dazu beigetragen, indem er das Publikum hineinzieht in seine Lern-Prozesse mit ungewissem Ausgang.
"Ich habe eine Idee – und die wird meistens durch das Objekt, was ich realisieren will, unterlaufen – und in der Regel bleibt dann doch die Welt der Sieger. Man kann die Welt nicht beherrschen, man kann mit ihr maximal eine Kooperation eingehen. Und einen Dialog eingehen."
Service:
Die Fotoausstellung "Grau als Farbe" von Michael Schmidt ist vom 21. Mai bis 22. August im Haus der Kunst in München zu sehen.
"Berlin ist ein Ort, der mich geprägt hat. Aber Berlin dient in meiner Arbeit nur als Beispiel für die Welt, die eine Problematik zeigt, wie zum Beispiel Entfremdung oder Kommunikationslosigkeit oder innere Leere. Das beschäftigt ja nicht nur einen Berliner oder nur einen Deutschen, das finde ich ja in Frankreich genauso."
Aber es reicht eben nicht, die Orte zu finden. Solch einem Schauplatz - heute "location" genannt - muss der Fotograf den genius loci entlocken, jenen Geist, der außerhalb des Sichtbaren, des bloß Illustrativen liegt. Michael Schmidt, der Autodidakt, hat ein Gespür dafür. Seine Schwarzweiß-Serien entpuppen sich als Barometer der beengten, immer wieder durch gewalttätige Ausbruchsversuche gekennzeichneten Atmosphäre einer geteilten Stadt – heute mehr denn je. Auf der virtuos beherrschten Grauton-Leiter spielt Schmidt den Blues der 80er-Jahre nach, auf plakative Farbeffekte kann er verzichten.
Auch Bilder von der Mauer selbst fehlen. Der Grenzwall von damals ist präsent als Metapher, wird aufgerufen durch eine radikale Hängung, in der Chris Dercon, Direktor des Münchner Haus der Kunst, eine "Foto-Architektur" erkennt: An der einen Wand ein Block kleiner Abzüge, an denen manch einer achtlos vorübergeht. Gegenüber fast identische Berlin-Ansichten, die aber als Tableau großformatiger, aufwendig gerahmter Fotografien eine eigenartige Sogwirkung entfalten. Als sei genau hier soeben die Mauer gefallen, der Blick auf den anderen Teil der Stadt freigegeben.
"Meine ganze Arbeit ist ähnlich einem Schachspiel: Es gibt wahnsinnig viel Züge, es gibt eine Unendlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten."
Deshalb also keine Retrospektive: Nur ohne diese Sehhilfe einer chronologischen Hängung bemerkt man, was es auf sich hat mit bekannten Motiven, die in immer neuen Konstellationen auftauchen – und jede Schmidt-Ausstellung zum Ereignis, zum Kommentar einer Ära, eines Jahrzehnts machen. So etwas wie Vertrautheit, gar Überdruss kann sich da nicht einstellen. Stattdessen hat der Betrachter den Entwicklungsprozess eines Fotografen vor sich, schaut ihm bei der Arbeit an seiner Bildsprache über die Schulter. Kurator Thomas Weski:
"Die ersten Bilder sind noch aus einer ganz dokumentarischen Tradition geprägt, die für den Betrachter ein Seh-Angebot formuliert, der sich selbst das Bild zusammensetzen kann. Während später der Blick durch eine Verlagerung der Schärfentiefe, der Schärfezonen im Bild doch sehr gelenkt wird. Die Bilder werden damit autorenhafter und bekommen einen beklemmenden Charakter."
Ein Schriftsteller als Autor kann frei verfügen über seine Welt, den imaginierten Text. Der Fotograf gewinnt Bilder erst in der Begegnung mit der Realität, etwa beim Streifzug durch Berlin oder auf Reisen im Wohnwagen durch die bundesdeutsche Provinz. Und so, wie Schmidt mit seinen Fotos auf Stadträume oder das ästhetische Elend von Gewerbegebieten reagiert, antwortet er jetzt auch auf die Architektur im Haus der Kunst. Da gibt es etwa die hunderteilige Serie "Frauen": mal bekleidet ohne Kopf, dann als Aktaufnahmen und auch als Porträt. Diese stereotypen Motive nun sind in dem Ausstellungsblock in einer Art Dreierschlag ineinander verwoben, aus den Menschenbildern entsteht ein abstraktes Muster. Schmidt:
"Aufgrund des Raumes – das ist ja eine ganz harte Architektur, Nazi-Bau – wollte ich, indem ich sie strukturell gehängt habe, dagegen arbeiten."
Zugleich aber arbeitet der Fotograf für den Zuschauer, reizt ihn mit der Konfrontation von Hochhäusern und Treppenaufgängen mit wogenden Wellen am Meeresstrand:
"Durch die Kombination der Bilder ergibt sich immer ein drittes Bild, das nicht sichtbar ist. Und das ist die Erzählungsstruktur oder die Musikalität, die da drin ist. Die aber nie eindeutig definiert ist. Sie formuliert sich eher als eine große Frage."
Oder als Summe kleiner Seh- und Denkanstöße: In der neu strukturierten Serie "Ein-Heit" tauchen auf Pressefotos und abfotografierten Fernsehbildern zwischen Stoph, Lenin oder Honecker die Köpfe von Erhard, Lübke und Adenauer auf, eitle Täter und teilnahmslose Funktionäre, Repräsentanten der Macht und unzählige Mitläufer, die in die Kamera schauen. Das sind Bilder gegen die Zeit, gekonnt geangelt aus dem Strom der Zeit. Aber eben nicht als eiliger Reporter, denn der Ausdruck eines Lebensgefühls verlangt, im Gegensatz zur aktualitätssüchtigen Illustration des Zeitgeistes, tätige Erinnerung:
"Ich mache immer zwei Schritte vor, einen zurück. Ich brauche das Archiv, um mich selbst nicht nur zu motivieren, sondern auch, um meine Arbeit, die bisher getan wurde, neu zu überdenken und zu reflektieren. Aber nicht alles, was im Archiv liegt, ist gut."
Gut sind allein Bilder, die als Katalysatoren wirken, als Prüfstein, ob eine Gesellschaft sich noch artikulieren, sich von diesen im besten Sinne "verstörenden" Fotos zum unverstellten Blick auf die Welt anregen lassen kann. Michael Schmidt hat wieder einmal seinen Teil dazu beigetragen, indem er das Publikum hineinzieht in seine Lern-Prozesse mit ungewissem Ausgang.
"Ich habe eine Idee – und die wird meistens durch das Objekt, was ich realisieren will, unterlaufen – und in der Regel bleibt dann doch die Welt der Sieger. Man kann die Welt nicht beherrschen, man kann mit ihr maximal eine Kooperation eingehen. Und einen Dialog eingehen."
Service:
Die Fotoausstellung "Grau als Farbe" von Michael Schmidt ist vom 21. Mai bis 22. August im Haus der Kunst in München zu sehen.