Berlinale-Wettbewerb: "Irradiated" und "There Is No Evil"

Obszöne Parade von Massakern und Massenmorden

07:08 Minuten
Durchblick durch ein Fenster auf einen mit weißer Hautfarbe bemalten Menschen ohne Kopfhaar, der ein Schwarzweißfoto einer Person gegen die Scheibe hält.
Aneinanderreihung von Massakern: Szene aus dem Wettbewerbsfilm "Irradiated". © Rithy Panh
Katja Nicodemus im Gespräch mit Andrea Gerk · 28.02.2020
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Gestern liefen die letzten beiden Filme im Wettbewerb der 70. Berlinale: "Irradiated" des kambodschanischen Regisseurs Rithy Panh hätte dort nicht gezeigt werden dürfen, meint unsere Kritikerin Katja Nicodemus. "There Is No Evil" bleibt auf halber Strecke stecken.
Der kambodschanische Regisseur Rithy Panh ist als Kind mit seiner Familie von den Roten Khmer deportiert worden und musste in den 70er-Jahren Zwangsarbeit verrichten. Seine Eltern und Verwandten starben dabei. Er hat sich filmisch immer wieder mit den Verbrechen der Roten Khmer beschäftigt.

Persönliche Annäherung und formale Distanz

In seinem vorangegangenen Film "Das fehlende Bild", der sich auch mit diesem Thema befasst, sei seine Stärke die Mischung aus persönlicher Annäherung und formaler Distanz gewesen, sagt unsere Kritikerin Katja Nicodemus. Das sei diesmal anders. In "Irradiated" ("Irradiés") arbeitet der Regisseur mit einer dreigeteilten Leinwand, auf der meist in dreifacher Wiederholung Bilder der größten Menschheitsverbrechen zu sehen sind.
"Man sieht Atompilze und die verstrahlten, verbrannten Opfer von Hiroshima und Nagasaki, Soldaten im Ersten Weltkrieg, den Vietnamkrieg, Bilder aus den Konzentrationslagern Auschwitz und Birkenau, Partisanenerschießungen und teilweise Szenen, die man keinem Land und keiner Zeit genau zuordnen kann. Dazu sprechen eine Frauenstimme und eine Männerstimme Texte, die sich mit der Frage nach dem Bösen befassen, also mit der Frage, ob Gewalt, Grausamkeit und Sadismus in der menschlichen Natur liegen. Dadurch, dass Rithy Panh hier alles gleichstellt und zusammenwirft, hat sein Film etwas unglaublich beliebiges."

Schutzlos ausgestellte Opfer

Der Regisseur arbeite auf der dreigeteilten Leinwand größtenteils mit Analogien, so Nicodemus. Entweder sei etwas dreifach zu sehen, oder es würden beispielsweise gleichzeitig verschiedene Exekutionen durch Erhängen gezeigt.
"Da fragt man sich aber wer, wann, wo, warum? Kurz darauf sieht man Leichenberge im KZ, dann in Kambodscha, dann an einem unbekannten Ort. Dazu läuft kitschige Cellomusik. Dann wieder füllen Holocaustopfer in Gräben das Bild aus. Es ist mir rätselhaft, wie eine so obszöne Parade der Massenmorde und Menschheitsverbrechen im Wettbewerb der Berlinale landen kann. Dadurch, dass man ständig diese Opfer sieht, die verbrannt, verstümmelt, verhungert ausgestellt werden, möchte man im Grunde eine Decke nehmen und die Leinwand bedecken und diese Menschen davor schützen, dass sie so ausgestellt werden."

Episodenfilm über die Todesstrafe im Iran

Der Regisseur des Films "There Is No Evil", Mohammad Rasoulof, konnte wegen eines von den iranischen Behörden gegen ihn verhängten Reiseverbots nicht anwesend sein. Den Filmtitel könne man nur ironisch oder gar sarkastisch auffassen, meint Nicodemus. Denn das Thema des Films ist die Todesstrafe im Iran.
Der Film umkreise in vier Episoden Menschen, die mit Exekutionen zu tun haben oder deren Schicksal dadurch berührt oder verändert werde. Man sehe zum Beispiel einen Familienvater, der sich im weiteren Verlauf als Henker entpuppe, Soldaten, die auf ihren Einsatz bei Exekutionen warteten, ein verlobtes Paar in der iranischen Provinz, bei dem sich dann herausstelle, dass der Mann sich seinen Heimaturlaub durch die Teilnahme an einer Hinrichtung erkauft habe. Der Film sei aber zu parabelhaft, um etwas über die gegenwärtige Stimmung im Iran mitzuteilen, sagt Nicodemus.

Die Alltäglichkeit der Gewalt

"Aber man erfährt oder spürt, wie die Alltäglichkeit der Todesstrafe zu einer Verrohung führt, die sich in den Alltag hineinfrisst. Man wartet aber spätestens nach der zweiten Episode darauf, dass die Todesstrafe wieder auftaucht. Denn die Episoden bauen nicht aufeinander auf. Sie verzahnen sich nicht und beleuchten einander nicht."
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