Berlinale-Jury-Präsident Paul Verhoeven

"Es war ganz natürlich für mich zuzusagen"

Der niederländische Regisseur Paul Verhoeven bei der Ankunft zur Premiere seines Filmes "Elle" am 31.5.2016 in Amsterdam
Der niederländische Regisseur Paul Verhoeven ist Jurypräsident der Berlinale 2017. © picture alliance / dpa / epa / Remko de Waal
Paul Verhoeven im Gespräch mit Susanne Burg · 04.02.2017
Die Berlinale ist politischer als die Festivals von Venedig oder Cannes: Das höre man zwar oft, sagt Paul Verhoeven, aber er wisse nicht genau, was das bedeute. Der diesjährige Jurypräsident legt großen Wert auf die Feststellung: "Film ist Kunst und nicht Politik."
Susanne Burg: Das war ein aufregendes Jahr für Sie – "Elle" ist der französische Oscar-Kandidat, wurde für einen Golden Globe nominiert und Sie werden unser neuer Präsident – der Präsident der Berlinale. Wie hat die Berlinale es geschafft, Sie inmitten all dieser Aufregung zu rekrutieren?

"Ich kenne Berlin, ich war schon oft hier"

Paul Verhoeven: Sie haben mich halt angerufen ... und ich habe gesagt, dass ich mir die Termine ansehen muss, auch wegen der Nominierungen für die Golden Globes. Damals wussten wir ja noch nichts Konkretes. Und dann auch noch die Oscarverleihungen nach der Berlinale. Jedenfalls brauchte ich eine Weile, um herauszufinden, ob es möglich ist, den Jury-Vorsitz zu übernehmen.
Aber klar war, wenn es möglich ist, dann nehme ich mir gerne diese zwei Wochen Zeit. Die Leute von Sony-Classics, die den Film in den USA und anderswo vertreiben, haben mir ebenfalls das OK gegeben, dass ich während der Berlinale keine Interviews zu meinem Film geben muss. Mir gefiel die Idee jedenfalls von Anfang an. Ich kenne Berlin, ich war schon oft hier, meine Tochter lebt hier. In den 70er und 80er-Jahren bin ich oft für die Postproduktion meiner niederländischen Filme nach München oder Berlin gegangen. "Black Book" wurde hauptsächlich in den Filmstudios in Babelsberg gedreht. Also war es ganz natürlich für mich zuzusagen.
Susanne Burg: Sie waren schon einmal hier, aber es ist Ihr erster Einsatz als Jury-Präsident. Glauben Sie, dass Sie sich vorbereiten müssen? Wissen Sie was Sie erwartet?
Paul Verhoeven: Man muss natürlich versuchen, so viele Informationen wie möglich zu bekommen, zum Beispiel über die Mitglieder der Jury, über ihren Hintergrund, wofür sie stehen, auch politisch. Und ich will möglichst viel über die Filme wissen, die wir sehen werden – also eine ganze Menge Internet-Arbeit. Je mehr Informationen man hat, umso besser, denke ich. Aber am Ende geht es vor allem um die Filme, um die Qualität der Filme, ob sie einen berühren, positiv oder negativ. Dann ist es noch wichtig, wofür die anderen Jury-Mitglieder stehen. Man hört ja oft, dass die Berlinale politischer sei als die Festivals von Venedig oder Cannes. Venedig steht mehr für die Kunst und Cannes mehr für das kommerzielle Kino. Ich weiß auch nicht genau, was das bedeutet. Ich folge zwar dem politischen Geschehen mit großem Interesse, auch wenn ich nicht politisch aktiv bin. Wenn man sieht, was zurzeit in den USA in der Politik passiert und in gewissem Maße auch in Europa, findet man die Politik an einem Punkt, an dem sie bisher noch nie war. All das muss man also im Kopf haben und sich dabei immer sagen, Film ist Kunst und nicht Politik.
Susanne Burg: Die internationale Presse wird Sie und die anderen Jury-Mitglieder während der Berlinale eingehend prüfen und ihr jüngster Film "Elle" wird zur Zeit der Berlinale herauskommen. Elle basiert auf dem Roman "Oh ..." von Philippe Djian – was macht die Geschichte zu Paul-Verhoeven-Material?

"Es gibt auch einen Plot, aber der ist nicht dominant"

Paul Verhoeven: Das Buch hatte mir der Produzent des Films geschickt, den ich da noch nicht persönlich kannte. Auch Philippe Djian kannte ich nur dem Namen nach und wusste, dass eins seiner Bücher "Betty Blue" war. Aber ich war mit seinem Werk nicht wirklich vertraut. Ich habe also das Buch gelesen und da war klar: Das ist was ganz anderes, als das, was ich bisher gemacht habe, also sollte ich es machen. Für mich war das der eigentliche Grund, den Film zu drehen.
Sicher, es gibt auch einen Plot, aber der ist nicht dominant. Die Beziehungen zwischen den Figuren und die Protagonisten selber sind wichtiger. Ich fand es innovativ, eben nicht total an der Vorlage zu kleben.
Es gab kein richtiges Genre, man kann nicht sagen, dass es ein Thriller ist, andererseits ein bisschen, manchmal ist es ein wenig lustig, Komödien-artig, man muss lächeln, manchmal sogar lachen ... dann gibt es eine Menge Gewalt – also, man kann es überhaupt nicht einordnen. Und genau das hat mich angezogen, denn sowas gab es noch nie. Ich kannte keinen Film, der in diese Richtung ging – und das war der Grund, es zu machen.
Susanne Burg: Dann gibt es noch die Hauptfigur, Michelle, eine sehr interessante Figur – es ist schwierig über den Film zu sprechen, ohne etwas über den Inhalt zu verraten, ich muss jetzt leider ein wenig verraten. Sie wird mehrfach vergewaltigt und man versteht in dem Film nicht ganz, was sie eigentlich denkt, während sie vergewaltigt wird und auch hinterher. Sie wirkt ganz ruhig und lässt es erneut über sich ergehen. Es ist sehr zwiespältig – was fasziniert Sie an dieser Mehrdeutigkeit?

"Sie will kein Opfer sein"

Paul Verhoeven: Für mich ist das gar nicht so mehrdeutig. Als sie vergewaltigt wird, scheint es mir ganz klar, was sie denkt. Sie ist absolut angewidert, erniedrigt und vieles mehr. Aber sie will kein Opfer sein, aus bestimmten Gründen, die man erst in der Mitte des Films erfährt. Ich lasse offen, was womit zu tun hat, was wofür der Grund ist. Alles erschließt sich, sobald man mehr über die Vergangenheit dieser Frau erfährt, denke ich, zu dem Zeitpunkt, als sie erkennt, wer der Vergewaltiger ist. Die Rolle musste einfach Isabelle Huppert übernehmen. Ich kann mir keine andere Schauspielerin vorstellen, die in der Lage gewesen wäre, diese Figur mit ihren seltsamen, verrückten, unerwarteten und politisch nicht korrekten Handlungen durchgehend authentisch darzustellen.
Isabelle hat es geschafft, sie in gewisser Weise für die Zuschauer akzeptierbar zu gestalten, ohne, dass man zu sehr mit ihr sympathisiert oder sich mit ihr identifiziert. Übrigens wollten wir ursprünglich einen amerikanischen Film machen, das Skript war für die USA geschrieben worden, wir haben alles von Paris nach Boston und Chicago verlegt, hatten also auch an eine amerikanische Schauspielerin gedacht.

Über ihre wagemutige und mittlerweile preisgekrönte Rolle als Michele Leblanc in "Elle" sprach Filmkritiker Patrick Wellinski mit Isabelle Huppert ebenfalls im "Vollbild"-Magazin.

Susanne Burg: Aber Sie haben mal gesagt, dass Sie nicht glaubten, dass eine amerikanische Schauspielerin diese moralisch schwierige Rolle spielen würde.
Paul Verhoeven: Ja, ich musste feststellen, niemand wollte das machen. Im Nachhinein sage ich mir natürlich, das hätte ich wissen müssen, ich lebe ja seit 30 Jahren in den USA. Ich hätte wissen müssen, dass das so ungewöhnlich war, so gegen die amerikanische politische Korrektheit. Das hätte mir klar sein müssen, war es mir aber nicht, und Said Ben Said, dem Produzenten, auch nicht. Jetzt sind die Kritiken dort allerdings ziemlich gut. Isabelle als die großartige Schauspielerin, die sie nun einmal ist, die alles so authentisch rüberbringt, schützt gewissermaßen den Film.
Susanne Burg: Sie haben erwähnt, dass Sie lange Zeit in den USA gelebt haben. Die New York Times schrieb, dass sie in Hollywood Filme gemacht haben, in denen Hollywood kursiv geschrieben und in Anführungszeichen gesetzt worden sei, und in denen Sie Übertreibungen mit subtiler, unterschwelliger Ironie kombinierten. Und "Elle", schrieb die Zeitung, funktioniere jetzt ziemlich genauso, diesmal sei nur das Französische in Anführungszeichen gesetzt. Finden Sie sich in diesem Zitat wieder?

"In den USA habe ich in der Tat überlebt, indem ich Ironie verwendet habe"

Paul Verhoeven: Nein. In den USA habe ich in der Tat überlebt, indem ich Ironie verwendet habe, Distanz, Entfremdung und einiges andere, um diese Science Fiction Filme zu machen – besonders "Starship Troupers" natürlich. Es macht Spaß, auf diese Weise junge Helden und Heldinnen zu zeigen, die gegen Giganten kämpfen, und gleichzeitig deutlich zu machen, dass es sich um eine faschistische Utopie handelt. Das war meine Art, mit der amerikanischen Weise des Filmemachens umzugehen. Ich konnte das nicht direkt machen. Aber ich konnte es tun, indem ich eine weitere Schicht einzog, in der ich meine eigenen Helden kritisierte. Das sieht man nicht nur in "Starship Troupers" sondern auch in "Robocop" oder in "Showgirls". Da sieht man auch diese Elemente, wenn Dinge auf übertriebene Weise dargestellt werden.
In meinen niederländischen Filmen findet man das so nicht. Die sind viel direkter, ohne doppelten Boden. "Türkische Früchte" oder "Der Soldat von Oranien"' zum Beispiel, da gibt es nur eine Ebene. Dadurch, dass ich solange in den USA gearbeitet habe, sind sicher einige dieser Merkmale meiner Überlebenstaktik auch ein bisschen bis zu "Elle" durchgesickert – aber ich habe mit Sicherheit nicht versucht, eine weitere Ebene zu der einzubauen, die man ohnehin sieht. In meinen politischeren Filmen gibt es wirklich zwei Ebenen: Die Erzählebene und dann eine Meta-Ebene, zum Beispiel über die Nachrichten und andere Dinge, die eingeflochten werden. In "Elle" kommt zwar auch eine Dokumentation vor, aber das verläuft ganz grade. Hier machen wir eben etwas ganz anderes: Wir machen einen Film mit Lücken, die die Zuschauer selber ausfüllen müssen, nicht so, wie ich das möchte, sondern so wie sie das selber aus dem Film aufnehmen.
Susanne Burg: Auf jeden Fall ein sehr, sehr interessanter Film: Er kommt Mitte Februar ins Kino. "Elle" heißt er, Paul Verhoeven ist der Regisseur – vielen Dank für das Gespräch!
Paul Verhoeven: Dankeschön!
Das Interview wurde von Marei Ahmia übersetzt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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