Berlin und Ankara

Terrorismusexperte hält konzertierte Aktion für möglich

Nach der Lkw-Attacke: Eine Spur der Verwüstung in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz.
Nach der Lkw-Attacke: Eine Spur der Verwüstung in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. © picture alliance / Rainer Jensen / dpa
Guido Steinberg im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 20.12.2016
Kurz nach der Ermordung des russischen Botschafters in Ankara werden auch in Berlin Menschen getötet und verletzt. Ein Zusammenhang ist dem Terrorismusexperten Guido Steinberg zufolge nicht auszuschließen, da Islamisten häufig versuchten, ihre Anschläge zu koordinieren.
Der Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte Guido Steinberg hält es für möglich, dass das Attentat auf den russischen Botschafter und der Angriff auf den Weihnachtsmarkt in Berlin eine konzertierte Aktion waren.
Im Deutschlandradio Kultur sagte er, zwar sei es noch zu früh, von einer möglicherweise koordinierten Tat zu sprechen. "Aber zumindest sollte man den Gedankengang im Hinterkopf haben, gerade weil wir wissen, dass so etwas häufig passiert".
Guido Steinberg, Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte, in einer Talkshow.
Guido Steinberg, Terrorismus-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik© picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler
Islamistische Organisationen versuchten immer wieder, Anschläge zu koordinieren, um ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. "Al-Kaida hat das immer wieder gemacht, und der IS hat das auch letztes Jahr einmal getan, als es parallel Anschläge gab, in Lyon auf ein Gaswerk, in Sousse in Tunesien auf britische Touristen und auf Schiiten in Kuwait."

"Der Modus Operandi von Berlin weist Richtung Rakka"

Allerdings äußerte er Zweifel, ob das Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara von einem IS-Unterstützer begangen wurde: "Das waren schon sehr ungewöhnliche Bilder für einen islamistischen Terroristen", so Steinberg. "Obwohl der islamistische Hintergrund vollkommen klar ist, muss man da noch abwarten, ob wirklich eine Organisation im Hintergrund steht, und wenn ja, welche."
Dagegen tragen die Ereignisse auf dem Berliner Weihnachtsmarkt offenbar die Handschrift des IS: Zu dessen Strategie gehöre es eben auch, Unterstützer zu "inspirieren", mit Autos oder LKW in Menschenmengen zu fahren. "Also, der Modus operandi von Berlin, der verweist schon in die Richtung Rakka", so Steinberg.

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Ein Abend mit zwei schlimmen Nachrichten: die Ermordung des russischen Botschafters in Ankara und natürlich das, was uns geografisch und damit nachvollziehbar menschlich noch näher ist, der Tod von bisher 12 Menschen in Berlin nach der Fahrt eines LKW in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Westberlin – eine Lage erfüllt von Terror. Am Telefon ist Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Morgen!
Guido Steinberg: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Steinberg, ereilt Deutschland das, was viele, auch verantwortliche Politiker, immer wieder an die Wand gemalt haben, dass natürlich auch Deutschland getroffen werden kann durch einen schweren Anschlag?
Steinberg: Ja, das scheint sich ja mittlerweile zu erhärten, und in gewisser Weise war das schon zu erwarten, weil die Anschläge in den letzten Monaten doch nähergekommen sind. Wir hatten mehrere Anschlagsversuche, zumindest einen Anschlag, der auch so halbwegs gelungen ist im Sinne der Täter, nämlich den auf den Sikh-Tempel in Essen und dazu noch eine ganze Reihe weiterer, teilweise sehr, sehr ernsthafter Planungen, von denen die Öffentlichkeit dann nur mal so kurz erfuhr. Also es war zu befürchten, dass einer dieser Anschlagsversuche dann doch einmal zum Erfolg führt, auch wenn man beobachtet, was in anderen europäischen Staaten so los war, da war es ja doch erstaunlich, wenn man das verglichen hat mit Frankreich, mit Belgien, dass in Deutschland dann doch so wenig passierte.
Frenzel: Der Innenminister Thomas de Maizière war lange zurückhaltend, ähnlich wie die Berliner Polizei, man hat es lange offen gehalten. Jetzt, seit etwa einer Stunde, gibt es die Meldung von der Polizei, dass man von einem terroristischen Anschlag ausgeht, das ist die Formulierung. Da wissen wir natürlich noch nichts über die Hintergründe. Das Wort Islamismus fehlt da, aber gibt es überhaupt eine andere Möglichkeit?
Steinberg: Na ja, nach den bisher unbestätigten Meldungen, dass es sich um einen Pakistaner handelt, gerade auch vor dem Hintergrund dieser Vorsicht, da muss man wahrscheinlich jetzt schon von einem islamistischen Hintergrund ausgehen. Das scheint ja so gewesen zu sein, dass gestern Abend die Innenbehörden nur davon wussten, hier ist ein Mensch festgenommen worden, bei dem es sich möglicherweise um den Täter handelt. Der kommt aus Südasien, und da wollte natürlich niemand auf dieser Grundlage die These Terrorismus oder Islamismus vertreten. Das ist wahrscheinlich der Grund für diese Zurückhaltung. Das ist ja auch absolut richtig, aber so mittlerweile sickern jetzt die Nachrichten durch. Alle gehen ja mittlerweile von einem Anschlag aus. Interessanterweise habe ich gestern noch CNN geguckt, mit der BBC geredet – die waren sich alle schon sehr, sehr sicher. Die waren da, obwohl sie ja nicht weniger seriös sind als unsere Medien – im Gegenteil –, da gar nicht so vorsichtig.
Frenzel: Sind wir da zurückhaltend, und sind wir zu zurückhaltend?
Steinberg: Nein, ich glaube nicht, dass gestern Abend jemand zu zurückhaltend war, aber wir waren doch zurückhaltend. Es hat ja auch in den letzten Jahren immer mal wieder schwere Fehler bei der Beurteilung von Terroranschlägen gegeben. Also ich muss noch an Madrid denken, wo ich auch persönlich 2004 zunächst der Auffassung war, dass es sich da um einen Anschlag der ETA handelt, weil es eben entsprechende nachrichtendienstliche Informationen gab. Dann der Anschlag von Anders Breivik in Norwegen, wo auch, ich eingeschlossen, die meisten Spezialisten felsenfest davon überzeugt waren, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handelt, bis dann die Informationen ans Licht kamen. Es ist also wirklich sehr, sehr sinnvoll, gerade von staatlicher Seite, in einem solchen Moment darauf zu dringen, dass man ein paar Stunden Zeit bekommt, die Identität des Täters klärt, ihn vielleicht sogar vernimmt. Das scheint ja mittlerweile alles geschehen zu sein.
Frenzel: Zwei Stunden vor der Tat von Berlin, von der Fahrt des LKW in den Weihnachtsmarkt, gab es die Meldung aus Ankara: die Ermordung des türkischen … des russischen, Entschuldigung, des russischen Botschafters dort. Wenn man diese beiden Nachrichten so kurz nacheinander bekommt, und dort ist ja ein Hintergrund politischer Art, islamistischer Art klar zu erkennen aus den Aussagen des Täters. Kann es sein, dass es eine konzertierte Aktion ist, zwei Ziele, die bewusst gewählt wurden am gleichen Tag?
Steinberg: Also zumindest muss man diese Frage sehr früh stellen. Islamistische Organisationen versuchen immer wieder, Anschläge koordiniert zu verüben, um damit, ohne sich vielleicht direkt zu bekennen, klar zu machen, wie handlungsfähig sie sind. Al-Qaida hat das immer wieder gemacht, und der IS hat das auch letztes Jahr einmal getan, als es Parallelanschläge gab in Lyon auf ein Gaswerk, in Sousse in Tunesien auf britische Touristen, und auf Schiiten in Kuwait. Es ist natürlich viel zu früh, hier von einer möglicherweise koordinierten Tat zu sprechen, aber zumindest sollte man den Gedankengang im Hinterkopf haben, gerade weil wir wissen, dass so etwas so häufig passiert. Was mich so etwas skeptisch macht, sind die Bilder, die ich gestern Abend noch gesehen habe von dem Attentäter, der den russischen Botschafter ermordet hat: Da bin ich mir bisher einfach noch gar nicht sicher, ob wir es da mit einem IS-Unterstützer überhaupt zu tun haben. Das waren schon sehr ungewöhnliche Bilder für einen islamistischen Terroristen. Obwohl der islamistische Hintergrund vollkommen klar ist, muss man da noch abwarten, ob wirklich eine Organisation im Hintergrund steht, und wenn ja, welche.
Frenzel: Die Organisation, die uns am meisten Sorgen bereitet auf politischer Ebene, der Islamische Staat, die Terrormiliz: Wie gefährlich, wie mächtig ist sie denn im Bereich des Terrors? Wir erleben gerade die territoriale Zurückdrängung in Syrien, im Irak. Kriegen wir quasi die Zunahme des Terrors auf der anderen Seite?
Steinberg: Ja, das ist ganz deutlich so. Die Organisation steht in ihren Kerngebieten unter Druck und reagiert damit schon seit Ende 2014, indem sie die Fronten verbreitert. Zum einen hat sie Verbündete gesucht in der gesamten islamischen Welt, hat die gefunden, und mit denen gemeinsam hat sie seitdem eine ganze Reihe von Aufsehen erregenden Anschlägen verübt, beispielsweise in Bangladesch vor einigen Monaten. Sie hat ein russisches Passagierflugzeug über dem Sinai in die Luft gesprengt und so weiter, und sie hat gleichzeitig versucht, in Europa Anschläge zu organisieren, und das auf dreierlei Art: Sie hat erstens versucht, große Anschläge zu verüben, und zwar durchgeführt von Leuten, die beim IS lange auf diese Tat vorbereitet wurden. Das war das Muster von Paris und auch noch teilweise das Muster von Brüssel. Dann hat sie Leute zurückgeschickt, um kleinere Anschläge zu verüben, und sie hat in einer dritten Variante versucht, Unterstützer zu inspirieren, Anschläge zu verüben, und da hat sie auch ganz konkret von solchen Szenarien gesprochen, wie wir sie in Nizza oder gestern Abend in Berlin gesehen haben, dass nämlich mit Autos oder LKWs die Täter in Menschenmengen fahren, die einfach nicht zu schützen sind, um auf diese Weise Furcht und Schrecken zu erzeugen. Also der Modus operandi von Berlin, der verweist schon in die Richtung Ankara.
Frenzel: Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik nach dem tödlichen Anschlag in Ankara und dem, was in Berlin auch wie ein Terroranschlag immer mehr erscheint. Herr Steinberg, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Steinberg: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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