Berlin-Paris

Politische Achse einer Schicksalsgemeinschaft

Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande stehen in einem prunkvollen Saal im Elysée-Palast in Paris an einem Stehpult.
Zeichen der Solidarität: Angela Merkel besucht François Hollande in Paris. © picture-alliance / dpa / Yoan Valat
Von Günter Müchler · 06.01.2016
Die Terroranschläge von Paris vor einem Jahr machten neben Schuldenkrise und Flüchtlingswanderung das vergangene Jahr zu einer politischen Herausforderung für die EU, besonders für die deutsch-französischen Beziehungen. Günter Müchler sieht dies als Chance.
Europa besteht aus Widersprüchen und Paradoxien. Dass diese Feststellung auch auf das deutsch-französische Verhältnis zutrifft, veranschaulichen zwei Titelporträts der deutschen Kanzlerin, die letztes Jahr in der französischen Tageszeitung "Libération" erschienen.
In dem einen Porträt zierte Angela Merkel eine Pickelhaube, in dem anderen ein Heiligenschein. Die Anlässe lassen sich unschwer erraten. Im Pickelhauben-Porträt nahm "Libération" die Berliner Griechenlandpolitik aufs Korn, die nach Auffassung des linken Blattes alles vereinte, was typisch sei für deutsches Vormachtstreben und Arroganz.
Paris irritiert von deutschem Hurra-Humanismus
Das zweite Porträt leistete gleichsam Abbitte für das erste: Die Kanzlerin als engelsgleiche Vorreiterin einer idealistischen Migrationspolitik. Madame Merkel, wir folgen Ihnen! Faktisch tut die Pariser Politik das Gegenteil.
Im Élysée-Palast wurde das, was da als deutscher Hurra-Humanismus hereinbrach, stark irritierend empfunden. Man fühlte sich unter Druck gesetzt. Schließlich hat man selbst Probleme genug, zum Beispiel mit dem vorwärtsdrängenden fremdenfeindlichen Front National, und ist deshalb froh, wenn die meisten Migranten von sich aus einen Bogen um Frankreich machen.
Hinzu kommt etwas, was in Deutschland nur selten gesehen wird: Multikulti ist ein Konzept, mit dem vielleicht die schwachbrüstigen Écolos, die französischen Grünen, sympathisieren, das aber unvereinbar ist mit der revolutionären Staatstradition der einen und unteilbaren Nation.
Liberales Wirtschaftsverständnis ist Frankreich fremd
Grundsätzliches stand und steht auch hinter den Meinungsunterschieden bei der Bewältigung des Konflikts mit Athen und der ganzen europäischen Staatsschuldenkrise. Der Geist protestantischer Ethik, der Schuldenmachen mit Schuld verknüpft, ist Frankreich fremd.
Wenig verankert ist hier auch das liberale Verständnis von Wirtschaft, das davon absieht, die Akteure, zum Beispiel die Zentralbanken, staatlich zu gängeln. Frau Le Pen hat den Protektionismus nicht erfunden; er hat Anhänger auf allen Seiten der politischen Elite Frankreichs.
Fahren also die europäischen Lokomotiven Deutschland und Frankreich immer mehr auf getrennten Gleisen? Richtig ist, dass das Jahr 2015 kulturelle Abweichungen offengelegt hat, die niemand leugnen kann. Sie waren immer da und werden sich auch dann nicht so schnell zubetonieren lassen, wenn die Führungspolitiker anders heißen als Merkel und Hollande.
Richtig ist auch das: Frau Merkels Alleingang in der Migrations-Frage war so wenig gemeinschaftsfördernd wie die in souveränistischem Stil vorgetragenen Militärinterventionen des Präsidenten Hollande in Nahost und in Afrika.
Terror, Migration und Schuldenkrise als Chance für Europa
Umgekehrt schweißen die Krisen Europa zusammen. Nur Toren können behaupten, internationale Finanzkräche oder gar die neue Völkerwanderung, in der wir uns befinden, ließen sich mit den Mitteln und in der Logik der Kleinstaaterei bewältigen.
Genauso verhält es sich mit dem islamistischen Terrorismus, dem dritten Mega-Ereignis des vergangenen Jahres. Frankreich trägt Trauer. Die Anschläge auf Charlie-Hebdo und noch mehr die vom 13. November haben tiefe Wunden geschlagen, die so bald nicht vernarben werden. Sie haben das Land verändert.
Frankreich hat stellvertretend geblutet. Wer wollte ausschließen, dass sich die Fünften Kolonnen des dschihaddistischen Weltkriegs demnächst Deutschland vornehmen?
Mag es auch paradox klingen: Die großen Krisen der Zeit und nicht zuletzt der Schrecken des Terrorismus sind eine Chance für Europa. Denn das Fühlen geht dem Handeln voraus, und Identität entsteht dort, wo Menschen sich als Schicksalsgemeinschaft erfahren. In diesem Punkt hat das Jahr 2015 Europa vorangebracht.
Günter Müchler, studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften.
Er arbeitete als Redakteur der Günzburger Zeitung und der Deutschen Zeitung/Christ und Welt, später als Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen und der Kölnischen Rundschau (1974 – 1987). Im Deutschlandfunk war er Leiter der Aktuellen Abteilung, Chefredakteur und Programmdirektor, zuletzt auch von Deutschlandradio Kultur (bis 2011). Jüngste Buchveröffentlichungen: "1813. Napoleon, Metternich und das weltgeschichtliche Duell von Dresden" (2012), "Napoleons Hundert Tage. Eine Geschichte von Versuchung und Verrat" (2014).
Günter Müchler, Ehemaliger Programmdirektor von Deutschlandradio
Günter Müchler, Ehemaliger Programmdirektor von Deutschlandradio© Deutschlandradio / Ellen Wilke
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