Berlin-Alexanderplatz

Von Eberhard Schade · 22.07.2007
Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" erscheint 1929. Seither ist die Weltgeschichte ausgiebig über den Platz gewalzt. Das Buch ist geblieben. All das, was man noch von früher weiß, weiß man von Döblin. Dem Schauspieler Günter Lamprecht, der die Romanfigur Franz Biberkopf so unverwechselbar fürs Fernsehen spielt, ist der "Alex" heute fremd. Baustellen, Krater, überall aufgetürmter Schutt und Beton - das alles hat nichts für ihn mit Döblin, den Goldenen Zwanzigern zu tun. Es holt ihn vielmehr zurück in dunkle Tage seiner Kindheit.
"Man riss das Pflaster am Rosenthaler Platz auf. Er ging zwischen den anderen auf Holzbohlen. Man mischt sich unter die anderen. Da vergeht alles. Da merkste nichts, Kerl. Schreck fuhr in ihn, als er die Rosenthaler Straße hinunterging. In einer kleinen Kneipe ein Mann und eine Frau dicht am Fenster, sie gossen sich Bier aus Seideln in den Hals. Oh, krampfte sich sein Leib zusammen, ich kriege es nicht weg. Wo soll ich denn hin? Es antwortete: Die Strafe. Na, so in der Art … ."

Günter Lamprecht sitzt vor einer Tasse schwarzem Kaffee. Macht den Biberkopf. Lamprecht sitzt exakt dort, wo der Romanheld im Herbst 1927 aus der Straßenbahn steigt, der "41". Berlin. Rosenthaler Platz. Biberkopf kommt direkt aus dem Gefängnis Tegel. Wiegt zwei Zentner, trägt eine Windjacke. Lamprecht kommt aus dem Hotel Inter-Conti. Trägt Hemd, Pullover, dicke Strickjacke drüber. Sitzt gleich rechts am Fenstertisch im Café "Gorki Park". Rosenthaler Platz, Hausnummer 26.

"Da nahm er einen Anlauf und saß in der Elektrischen. Mitten unter den Leuten. Los. In ihm schrie es, entsetzt: Achtung, Achtung, es geht los! Seine Nasenspitze vereiste über seine Backe schwirrte es. 12 Uhr-Mittagszeitung, BZ, die Neueste Illustrierte, die Funkstunde neu. Noch jemand zugestiegen?"

Die Stimme: noch belegt vom Vorabend. Da liest er in einem gediegenen Wirtshaus am Wannsee. 75 Minuten am Stück aus dem ersten Teil seiner Biographie. Vom Elend und der Gewalt in den Berliner Hinterhöfen, dem Nazi-Wahnsinn, den Bombennächten. 200 West-Berliner lauschen bei Hirschkeule und Vanille-Soufflé. Sind nachher satt, zufrieden, müde.

" "Gewimmel, welch Gewimmel! Wie sich das bewegte. Mein Bregen hat wohl keen Schmalz mehr, der is wohl ganz ausgetrocknet. Was war das alles?"

Jetzt ist Lamprecht müde. Alle zwei Minuten kommt er aus dem Rhythmus.

"Unterrichte dich über das Liniennetz. 39 Sitzplätze, die Unterhaltung mit den Fahrgästen ist dem Wagenführer verboten. Auf … . Ja, das ist jetzt ein bisschen verwurschtelt hier. Das hab´ ich jetzt nicht drauf richtig. Ich geh´ da noch mal rein … "

Fünf Minuten später. Raus aus dem Café, rauf auf den Rosenthaler Platz. Februar 2006. Noch immer reißen sie das Pflaster auf. Neben dem Café: ein Mexikaner, ein Ramschladen, dann nur noch Buden. Kebap, Chicken Wrap, Schnitzel mit Pommes im Stehen für 3,50 Euro. "Gewimmel, welch Gewimmel" noch im Ohr, das Bild des kräftigen Strafentlassenen, der nach vier Jahren Haft umherirrt – total überfordert vom Treiben der Großstadt.

Der Mann aber, der ihn so unverwechselbar fürs Fernsehen spielt, ist in Gedanken noch immer hier zu Hause.

Lamprecht: "Ich kenn´s ja persönlich, bin hier immer rumgestromt. Wenn ich will, dann kann das alles auferstehen in meinem Kopf, aber es fällt schwer, denn die Veränderungen sind doch zu groß in meinem Kopf. Wobei hier oben geht es noch, wenn ich weiter rüber denke nach Mitte, da war ja wirklich alles flach nach ´45, da war ja nichts stehen geblieben. Aber hier in der Ecke, da komm schon wieder eine bisschen Leben rein, wenn ich hier so richtig rumgucke."

Nur die Typen, die Alt-Berliner Originale – die fehlen ihm.

"Das ist was anderes. Die Beschreibungen bei Döblin, die kenn´ ich nun wirklich noch. Allein die Kumpels meines Vaters, der ja Taxifahrer war hier. Die gibt’s ja gar nicht mehr. Allein die Statur schon. Vollgefutterte. Die hatten schon so Nadelstreifen an, Zigarre war obligatorisch oder zumindest ein Stumpen, das ist jetzt natürlich ganz ganz anders."

Weiter Richtung Scheunenviertel. Die Rosenthaler runter, rechts rein. Linienstraße. Lamprecht guckt verwirrt.

"Die Auguststraße ist hier. Ne, hier ist die Kleine Rosenthaler. Ne, wir müssen die nächste nach links oder nach rechts. Bin heut` ein bisschen durcheinander."

Irgendwo hier wohnt früher der Onkel aus den Masuren. Irgendwo hier steht auch das Haus, in dem sich Franz Biberkopf verkriecht. Nach dem Schlamassel mit Lüders.

"Vorn ist ein schönes Schuhgeschäft, hat vier glänzende Schaufenster, und sechs Mädchen bedienen, das heißt, wenn was zu bedienen ist, haben um 80 Mark im Monat pro Kopf und Nase. Das schöne große Schuhgeschäft gehört einer alten Frau, die hat ihren Geschäftsführer geheiratet, und seitdem schläft sie hinten, und es geht ihr schlecht. Zweiter Stock: Der Verwalter und zwei dicke Ehepaare, der Bruder mit seiner Frau, die Schwester mit ihrem Mann, haben noch ´n krankes Mädchen. Dritter Stock ein 64jähriger Mann, Möbelpolier mit Glatze. Seine Tochter ist eine geschiedene Frau, besorgt ihm den Haushalt. Der kracht jeden Morgen die Treppe runter, das Herz ist schlecht, wird sich bald krankschreiben lassen. Coronarsclerose. Myode…" Lachen. "

Wieder aus dem Rhythmus. Die Herzkranzgefäßerkrankung bricht dem Profi die Zunge. "Außerdem ist es scheißkalt", sagt er. Lamprecht will weiter. Nicht wie Biberkopf warten auf die nächste "Elektrische", die Straßenbahn. Lieber mit dem Taxi.

Drinnen: mollig warm. Die Laune: gleich besser.

" "Mein Gott, da haben Sie sich auch ein Wetter ausgesucht. Gipsstraße. Die Berliner sagen immer Jips jips inne Jipsstraße. Jips da keen Jips, jips überhaupt keen Jips."


"Franz schiebt die Neue Schönhauser runter" schreibt Döblin. Dasselbe macht jetzt Lamprecht. Den Kragen seiner Jacke hochgeklappt, zieht er die Schultern hoch, die Hände in den Taschen vergraben. Ihm ist immer noch kalt. Vorbei an Szene-Cafés, Sushi-Restaurants, Retro-Möbel-Läden. Kaum ein Mensch auf der Straße. Ecke Münzstraße bleibt er plötzlich stehen.

Lamprecht: "Det könnt´ so ´ne Kneipe sein, wo die sitzen und ihre Fleischstücke sich in den Hals schieben, hier diese Kneipe. Das sind ja hier die schönsten aller Dinge. Ein schneller Schluck bei Heinz und Inge. In der Destille, wa …?"

Das "Alt-Berlin". Die Tür verrammelt, von der Fassade blättert Putz. In dem mit lila Samt ausgelegten Fenster zur Straße stehen fünf leere alte Bierflaschen mit Keramik-Bügelverschluss. Dazwischen ein Schwarzweiß-Porträt zweier Boxer um 1920, eingerahmt mit weißem Passepartout und breitem Holzrahmen.

An der Tür hat der Wirt eine Nachricht auf einem Zettel hinterlassen. Lamprecht macht einen Schritt nach vorn, murmelt den Text vor sich hin.

"Liebe Gläubiger. Aufgrund der angenehmen Temperaturen und des fast nicht zu bewältigenden Ansturms auf unser Etablissement eröffnen wir unseren Heiligen Tempel jetzt immer von Montag bis Samstag um 20 Uhr. Halleluja. Ach so, meine Meinung über Köter und Digitalknipsen die kennt ihr ja, also leistet ihr Folge. Prost, Euer Vater." Lacht. "

Im Weggehen zeigt er noch auf einen alten Hut in der Auslage.

Lamprecht: " "… vom Biberkopf der alte Hut."

Der wird am Abend so richtig bei Henschke rausgeschmissen. Auch ´ne Eckkneipe. Weil er auf dem Alexanderplatz den "Völkischen Beobachter" verkauft. Nach der vierten Molle plötzlich nationales Liedgut schmettert. Als die anderen dann noch in seiner Manteltasche die Binde mit dem Hakenkreuz finden, bekommt Franze kräftig eins aufs Maul.

All das darf Fassbinder mit Lamprecht Anfang der Achtziger nicht an den Originalschauplätzen im Ostteil der Stadt drehen. Also ziehen sie ein paar Kilometer weiter nach Westen, auf die andere Seite der Mauer. Nach Kreuzberg. Oder stellen die Szenerie nach. In München. Nicht immer ganz leicht.

Lamprecht: "Da hatte ich so eine schöne Auseinandersetzung mit Fassbinder. In den Kneipen die nachgestellt waren im Studio, da saß die Münchner Statisterie drin, und die tranken da Bier. Und da hab´ ich gewagt zu sagen: Das ist ein ganz anderer Lebensrhythmus, die Berliner trinken anders Bier. Der Text dazu, die Leute sprechen. Die Bayern starren stur in ihren Krug rein, da kommt kein Text. Da warten Sie Stunden, bis da mal ein Satz kommt. Und den Berliner, den müssen sie die Schnauze zubinden, der redet und redet sofort."

Im zweiten Hinterhof neben der Eckkneipe: noch mehr Alt-Berlin. Noch mehr grauer Putz. Dazu Balkone mit selbst gebastelter Brüstung, oder völlig ohne. Auf den Dächern: eigenartige Lauben, Türmchen. An jeder Wand noch Einschusslöcher, Spuren des Krieges. Günter Lamprecht, Jahrgang 1930, ist angekommen. In seinem, in Döblins Berlin.

Lamprecht: "Das hat wat, ja. Mein Gott. Das ist so ein richtiger Hinterhof, da ist dann der Biberkopf singen gegangen mit dem Hut, hat sein Hut uffjehalten und ´Lieb Vaterland kannst ruhig sein´. Ja, das ist das alte Berlin. Also hier kann Biberkopf auch vorbeigekommen sein. Das ist hier durchaus drinne."

Lamprecht schiebt die Münzstraße runter. Der kalte Ostwind bläst ihm jetzt mitten ins Gesicht:
" Husten. "Scheißkalt ist es. Fürchterliche Häuser hier mit diesem Grauputz hier.""

Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Genau wie bei Döblin. In Höhe der Hausnummer 6 rettet sich Franz Biberkopf ins "Abnormitäten- und Biographtheater", ein Kino. Das gibt es lange wirklich hier. Jugendlichen unter 17 Jahren: Eintritt verboten.
"Die Kinos waren hier auf der rechten Seite. Nicht nur eins, gleich drei oder vier."

Heute darf hier jeder rein. Die Hausnummer 6: eine Apotheke. Davor steht ein junger Mann in Trenchcoat und Cordhose, Rücken zum Eingang. Vor ihm eine kleine Gruppe Touristen.

Stadtführer: "Wir haben hier ein Bildchen. Das kann man heute so nicht wieder erkennen. Hier sind wir vor dem Abnormitäten und …"

Der Mann ist Ansgar Bach. Eigentlich Doktor der Chemie, macht er vor sieben Jahren sein Hobby zum Beruf – seitdem führt er Besucher und Einheimische auf den Spuren Erich Kästners, Heinrich Heines, E.T.A. Hoffmans durch Berlin. Auch jetzt hält Bach ein Buch in der Hand. "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin.

Stadtführer liest: "Begleiten wir also Franz Biberkopf. Und das ist ganz am Anfang des Buches. Auf dem Riesen-Plakat stand knallrot ein Herr auf einer Treppe und ein duftes junges Mädchen umfasste seine Beine. Sie lag auf der Treppe und er schnitt oben ein kesses Gesicht. Darunter stand: Elternlos. Das Schicksal eines Waisenmädchens in sechs Akten. Jawoll, das seh´ ich mir an. Frollein …"

Richtig berlinern kann der Stadtführer nicht. Er kommt aus Köln. Lamprecht merkt das, schmunzelt. Will dann aber weiter. Endlich zum Alexanderplatz. "Sonst tu ik ma de Pfoten abfrieren", frotzelt er.

Ecke Rosa-Luxemburg- Dircksenstraße: Erinnerungen.

Lamprecht: "Hier waren ja dann diese ganzen, die Dircksen, alles Markthallen, ach 40, 50 mindestens. Obst und Gemüse. Da hab´ ich viel Obst geklaut immer als Junge. Ja ich war doch lange nicht mehr hier."

An der nächsten Ecke – Karl-Liebknecht- Memhardstraße – steht noch ein Obsthändler. Das ist die Ecke, an der es immer zieht.
"Wind gibt es massenhaft am Alex" schreibt schon Döblin. Im Februar aber bläst der einen fast von der Platte. Der erste Eindruck vom "Alex", wie die Berliner den Platz noch immer kumpelhaft nennen: rau, unwirtlich, abweisend.

Lamprecht: "Da ist nichts mehr übrig, also von dem alten Alexanderplatz ist nischt mehr zu sehen. Die Berolina stand ja rechts um die Ecke, dies große, dieses vollbusige Weib da …."

Weg. Vermutlich eingeschmolzen für Kriegsgerät. Das Grand-Hotel: nur vier Stockwerke hoch, mit verspielter Fassade im Renaissance-Stil. Im April ´45 zerbombt. Das Königstädtische Theater mit dem berühmten Konditorei-Café Aschinger im Erdgeschoss, in der Franz Biberkopf so manchen Teller Erbsensuppe löffelt: ebenso Geschichte. Stattdessen das Hochhaus des Park-Inn-Hotels, dass wie ein Zahnstocher in den grauen Himmel ragt. Der Kaufhof-Klotz, das eingerüstete Berolina-Haus. Und rundherum elende Plattenbauten.

"Burger King" und "Samanta-Boots", "Jimmys Eisdiele", "Saturn" und "Vodafone". Der "Biergarten" vor dem Kaufhof verdient seinen Namen nicht. Nirgendwo ein Café, ein Lokal, in dem man bequem sitzen und auf den Platz schauen kann.

Lamprecht: "Nein, also das ist nun wirklich der Alexanderplatz, den kennt kein Aas. Das könnte in Warschau sein, da ist nichts mehr zu erkennen. Wenn das der Döblin sehen würde, diese komischen Straßenbahnen hier und diese komischen Straßenzüge – der würde sich im Grab umdrehen."

Denn schließlich ist der Alexanderplatz durch seinen Roman auch ein literarischer Ort. Ein Paradebeispiel für den Moloch der Großstadt. Ein Dickicht aus Leidenschaft, Spekulantentum, Kriminalität. Eden, Babel, Sodom und Gomorrha.

Und das nicht nur bei Döblin. Gerhart Hauptmanns "Ratten" leben hier. Carl Zuckmayers "Hauptmann von Köpenick" kauft sich auf dem Alexanderplatz seine Uniform.

Im Roman steht hier Franz Biberkopf, verkauft Zeitungen. Und versucht, das "furchtbare Ding, das sein Leben ist", wieder in die Gänge zu bringen. Ein Mann von zwei Zentnern, "stark wie eine Kobraschlange", Mitglied eines Athletenklubs.

Stadtführer liest: "Franz Biberkopf hat wieder seinen Rucksack um, verkauft Zeitungen. Er hat sein Quartier gewechselt, steht am Alexanderplatz. Auf dem Kopf hat er die Zeitungsmütze. Krisenalarm im Reichstag, man spricht von Märzwahlen, Aprilwahlen wahrscheinlich, der mitteldeutsche Kampf gehet weiter, es soll ein Schlichterkammer gebildet werden, Raubüberfall in der Tempelherrenstraße."

Zeitungsverkäufer: "Berliner Zeitung kostenlos …"

Einen Zeitungsverkäufer steht auch heute noch da. Jeden Tag, direkt vor den vier großen Flügeltüren vor Saturn. Die Statur: ein müder Abklatsch des Romanhelden. Leise Stimme, gläserner Blick, muss sich der große Mann oft mit einer Hand an seinem Tischchen abstützen. Die Gesundheitsschuhe drücken, die Beine tun ihm vom vielen Stehen weh.

Vor dem Kaufhof: eine Handvoll Obdachlose. Einer schläft. Liegt, die Beine dicht an den Körper gezogen, auf einem ausgeklappten Umzugskarton. Vier andere unterhalten sich mit rudernden Armbewegungen. Die Obdachlosen – sie haben eines mit dem Platz gemeinsam: beide haben schon bessere Zeiten gesehen.

Lamprecht: "Wat sagt er noch: Die wollen ´ne Untergrundbahn bauen am Alex. Drei Stock tiefer stand das Warenhaus Tietz, haben se abjerissen."

Lamprecht will runter, in die U-Bahn gucken. U2, U5, U8. Drei über-, unter- und nebeneinander liegende Bahnsteige, täglich 600 Züge. Ein Labyrinth aus hallenden Gängen, gekachelten Tunneln, Emporen, Treppen und Zwischengeschossen.

Hier unten ist es warm. Und Lamprecht kennt sich aus:

"Also jetzt, wo die hinfährt, weiß ich, rauf nach Neukölln. Hermannstraße, wahrscheinlich rauf bis zur Leinestraße. Ist aber schön geworden hier."

"Berlin Süd arbeitet, Berlin Nord jeht uff Arbeet, Berlin Ost schuftet, Berlin West hat zu tun", schreibt Kurt Tucholsky 1925, nur vier Jahre bevor Döblins Roman erscheint.

Und wo gibt es heute noch Arbeit? Auf dem Bahnsteig der U2 kann man es sehen. Morgens um 5.17 Uhr steigen 50 bis 70 Passagiere ein. Richtung Ruhleben, also Richtung Westen. 5.18 Uhr kommt der Gegenzug: genau vier Fahrgäste wollen in Richtung Pankow. Berlin West hat immer noch zu tun. Jedenfalls mehr als der Osten.

Hier unten dreht Lamprecht die meisten Szenen. Macht den Biberkopf so oft wie nie. Wie der langsam durchdreht, weil man ihm seine Geliebte tötet. Er verdächtigt und festgenommen wird. Zusammenbricht und in der Irrenanstalt landet. Nur knapp der Anklage entgeht.

Lamprecht: "Haben Sie irgend ne Passage vom Biberkopf drauf, die
Sie mir hier machen können. Nee, kann ich nicht. eingefroren wahrscheinlich."

Wieder oben, wieder alles fremd. Außer der Stadtführer. Der setzt gerade wieder zum Lesen an:

"… rechts und links sind Straßen. In den Straßen steht Haus bei Haus. Die sind vom Keller bis zum Boden mit Menschen voll. Unten sind die Läden. Destillen, Restaurationen, Obst- und Gemüsehandel, Kolonialwaren und Feinkost, Fuhrgeschäft, Dekorationsmalerei, Anfertigung von Damenkonfektion, Mehl und Mühlenfabrikate, Autogarage, Feuersozietät."

Bis auf den Obsthändler: alles weg. Lamprecht bleibt dabei. Der "Alex" ist kein Platz mehr und wird auch keiner mehr. Egal, wie viel Beton sie noch aufreißen, wie viel Erde noch umgraben. Die Baustelle jetzt – die Krater, der aufgetürmte Schutt und Beton – das alles hat nichts für ihn mit Döblin, den Goldenen Zwanzigern zu tun. Holt ihn vielmehr zurück in dunkle Tage seiner Kindheit. April ´45. Als die Bomben auch auf den Alexanderplatz fallen. Lamprecht ist 15 Jahre alt. Sein Auftrag: Leichen aus den Bunkern schaffen.

Lamprecht: "Also man kann sich ja vorstellen. Hier stand wirklich kein Stein mehr auf dem anderen, das war Wüste. Keine Straßenzüge mehr. Von '45 auf '46 – ist unvorstellbar eigentlich."

Noch in Gedanken, schließt sich Lamprecht dem Stadtführer an. Der geht über die riesige Baustelle – Richtung Fernsehturm.

Stadtführer: "Jetzt gehen wir zum Alex, der Fernsehturm. Auch nicht gerade eine Ausgeburt der Schönheit, aber eben markant im Stadtbild. Hier trifft sich natürlich das Volk. (…) Man kann, wenn man keine Unterkunft hat, sich mal eben im Bahnhof aufwärmen und dann eben wieder rausgehen, die Sonne genießen. Ich bin ganz sicher, dass es hier auch Gesichter gibt, die, wenn man hier regelmäßig ist, auch immer wieder treffen wird."

Typen wie Marco, der schlaksige Junge mit den wachen Augen, dem buntgefärbten Irokesenkamm. Wie "Linki". Oder "Toblerone", das 16-jährige Straßenkind aus der Schweiz, dem es hier besser gefällt als in Zürich. Oder Ecki, der jungenhaft wirkende Mann mit den kurzen blonden Haaren. Er ist Streetworker. Kümmert sich. Kommt immer wieder zurück hierher. Besorgt einen Arzt, beschafft Schlafsäcke und ab und an eine warme Mahlzeit. Marco, Linki, Ecki – Gesichter, die aus der Masse herausragen, weil sie auf dem "Alex" verweilen.

Alle anderen hasten. Essen, laufen, kaufen. Dann gleich weiter. Über den Platz. Oder runter in den gekachelten Untergrund. Chinapfanne mit Hackfleisch für 2 Euro im Stehen. Thüringer Bratwurst im Gehen. Mister Minit kopiert Schlüssel, klebt abgebrochene Absätze wieder an. "Billig und schnell", wie alles hier. Der Alexanderplatz schlägt Menschen um, 300.000 täglich. Das hat auch schon Döblin beobachtet.

Stadtführer liest: "Es sind Männer, Frauen und Kinder, die letzteren meist an der Hand von Frauen. Sie alle aufzuzählen und ihr Schicksal zu beschreiben, ist schwer möglich. Es könnte nur bei einigen gelingen. Der Wind wirft gleichmäßig Hechsel über alle, das Gesicht der Ost-Wanderer ist in nichts unterschieden von dem der West- Süd- Nordwanderer, sie vertauschen auch ihre Rollen und die jetzt über den Platz zu Aschinger gehen, kann man nach einer Stunde vor dem leeren Kaufhaus Hahn finden. (…) Und ebenso mischen sich die, die von der Brunnenstraße kommen und zur Jannowitzbrücke wollen mit den umgekehrt gerichteten. Ja, viele biegen auch seitlich um. Von Süden nach West, von Süden nach Osten, von Norden nach Westen, von Norden nach Osten. Sie sind so gleichmäßig wie die, die im Autobus, in den Elektrischen sitzen. Sie sitzen alle in verschiedenen Haltungen da und machen so das außen angeschriebene Gewicht des Wagens schwerer. Was in ihnen vorgeht, wer kann das ermitteln. Ein ungeheures Kapitel."

Der Stadtführer steht jetzt Ecke Saturn, auf der Rückseite des Park-Inn-Hotels. Liest weiter vor:

" … und da fahren sie nur mit ihrem Gewicht von einem Zentner bis zwei Zentner in ihren Kleidern mit Taschen, Paketen, Schlüsseln, Hüten, künstlichen Gebissen, Bruchbändern über den Alexanderplatz und bewahren die geheimnisvollen langen Zettel auf. Und auf den Zetteln steht in demselben Deutsch, mit dem die Bibel geschrieben ist und das bürgerliche Gesetzbuch: gültig zur Erreichung des Reiseziels auf direktem Weg. Keine Gewähr für die Anschlussbahn. Sehen Sie, das ist heute noch so. Wir hatten zwischendurch mal Tickets für 2,20 Euro, damit konnte man zwei Stunden lang unbedarft in der Stadt umhergondeln, AB-Zone, nun ist es so, muss man sein Zeil wieder auf kürzestem Weg erreichen. Interessant sind hier die Angaben des Fahrpreises. Döblin schreibt hier 20 Pfennig und Schüler 10 Pfennig. Dieser Preis, original, blieb so in der DDR bis 1989 bestehen. Das hat sich aber leider grundlegend geändert. Ja, hier geht es also weiter …" "

Bach dreht sich einmal um die eigene Achse, blickt jetzt direkt auf einen renovierten Plattenbau. Das Bundesfamilienministerium.

Stadtführer: "Schauen wir uns um und schauen mal nach Norden. Da sehen wir auf das große 220 Meter lange Gebäude, Alexanderplatz Nummer 6. Seit 2000 ist die Fassade beschriftet mit Auszügen aus dem Alexanderplatz. Und das war eine Idee, weil man ein Döblin-Denkmal aufstellen wollte. Dafür reichte das Geld nicht. Dieses Denkmal ist wirklich einzigartig."

Egal. Lamprecht hat genug. Ist total durchgefroren. Will kein Denkmal bestaunen, will nur noch weg. Wieder mit dem Taxi.

"Hallo. Guten Tag. Oh ist das kalt!"

Blinken. Fahren. Anschnallen.

Wieder im Kaffeehaus. In Gedanken aber noch immer draußen, auf dem "Alex". Manchmal ist der sogar in seinen Träumen, erzählt er. Und die sind nicht schön. Seit dem Attentat auf ihn und seine Lebensgefährtin im November 1999 ist Günter Lamprecht in Behandlung. Weil er immer wieder Albträume hat, Erschießungsträume.

Lamprecht: "Als wir da ein bisschen tiefer reingegangen sind, da haben wir festgestellt, dass diese ganze Kindheitsgeschichte, dass ich die nie aufgearbeitet habe. Also wo ich die vielen Soldaten beerdigt habe, mit 15. Man muss sich das mal vorstellen. Ich war 15 Jahre alt, als ich diese ganzen Leute entsorgt habe im Bunker. Das kam alles wieder hoch."

Zum Glück, sagt er, ist der Platz tagsüber in seinem Kopf positiver besetzt. Der 76-Jährige hat noch viel mit dem Film von Fassbinder vor. Spielt der Verleih mit, soll bis 2007 die alte Fassung für eine Million Euro aufgerüstet werden. Die Farben neu bestimmt, DVDs gepresst, eine Kinofassung herauskommen. Franz Biberkopf auf einer Riesenleinwand bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin. "Das ist der Plan", sagt Lamprecht. Und dann von Berlin aus um die ganze Welt. Paris, London, New York. Die Einladungen hat Lamprecht schon in der Tasche.

Günter Lamprecht trinkt einen kräftigen Schluck Kaffee, greift noch mal nach Döblins Buch, blättert darin. "Der Alex", murmelt er, "lässt mich irgendwie nicht los." Da geht es ihm wie Biberkopf. Am Ende des Romans landet der auch wieder dort. Als kleiner Hilfsportier. "Lebend, aber ramponiert", schreibt Döblin.

Das Buch erscheint 1929. Seither walzt die Weltgeschichte ausgiebig über den Platz. Das Vor-Nazi Berlin ist untergegangen, das Buch ist geblieben. All das, was man noch von früher weiß, weiß man von Döblin.

Lamprecht liest: "Wiedersehen auf dem Alex. Hundekälte. Rum, rum wuchtet vor Aschinger …"

Zitate aus
Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz
dtv
Ungekürzte Ausgabe
April 1965
ISBN 3-423-00295-6