Beredte Plastikfigur

Rezensiert von Ursula März |
Urs Widmers Roman "Ein Leben als Zwerg" erzählt die Lebensgeschichte des Autors aus Sicht einer Plastikfigur. Dieser Zwerg altert mit seinem Besitzer, dem Schriftsteller Widmer, mit und dient als dessen Spiegelbild und als Projektionsfläche für allerlei Phantasien.
Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller verfügt der Schweizer Urs Widmer über die Kunst, das Phantastische, Märchenhafte mit dem Realistischen zu verbinden, die Komik mit Tiefsinnigeit, die scharfe Satire mit sprachlicher Eleganz. Ob er über den Golfkrieg und die Atombombe schreibt wie in seiner Meistererzählung "Der blaue Siphon", ob er poetologische Vorlesungen hält oder sich in seinen jüngsten Romanen "Der Geliebte der Mutter" und "Das Buch des Vaters" den Biographien der eigenen Eltern widmet und ihnen literarische Gedenkbilder zueignet - über allen Büchern Urs Widmers liegt der Charme des Spielerischen, Verzaubernden.

Für seinen neuen Roman "Ein Leben als Zwerg" gilt das in besonderer Weise. Mit diesem Roman erweitert er die Erzählungen über seine Eltern zu einer dreiteiligen Familiengeschichte, denn in diesem Roman erzählt er von sich selbst, von seiner Kindheit, seinem Heranwachsen. Aber er tut dies aus der verrätselten, versteckten Perspektive einer wahrhaft kleinen Figur, eines Plastikzwerges, der zu den Spielzeugen eines Kindes namens Urs Widmer gehörte und diesem als Objekt allerlei Phantasien und Projektionen diente.

"Ein Leben als Zwerg" ist ein Erzählspiel, in dem nicht immer unterscheidbar ist, wer von beiden, das Kind oder sein Zwerg, der Mensch oder der Gegenstand von jenen Abenteuern im Haus der Kindheit erzählt, die sie beide offensichtlich gemeinsam bestreiten.

Ein literarisches Meisterstück aus der romantischen Tradition belebter Dinge, die erwachen, wenn der Zauberstab der Sprache sie berührt. Und die, wenn sie einmal zu Leben begonnen haben, mit ihren Zauberkünstlern, den Schriftstellern mitaltern. Denn im Lauf der Jahrzehnte wurde aus Widmers Plastikzwerg ein fast gestaltloses Plastikknäuel. Sein fotografisches Abbild ziert den Buchdeckel des Romans. Bis heute dient es dem Schriftsteller Urs Widmer als Spiegelbild. Denn hätte sein phantastisch-ironischer Roman eine Unterzeile, lautete sie wohl: Das Leben des Künstlers Urs Widmer als alternder Zwerg.


Urs Widmer: Ein Leben als Zwerg
Roman
Verlag Diogenes, Zürich 2006
176 Seiten