Berechnung des Unberechenbaren

Rezensiert von Matthias Eckoldt |
Der polnische Mathematiker Benoit Mandelbrot - Erfinder der Fraktalen Geometrie und Taktgeber der Chaostheorie - hat sich mit dem Finanzmarkt beschäftigt und versucht mithilfe eines Modells die Kursschwankungen am Aktienmarkt zu berechnen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hat er in dem Buch "Fraktale und Finanzen" zusammengefasst.
Bevor Benoit Mandelbrot in "Fraktale und Finanzen" sein Modell des Finanzmarktes vorstellt, geht er erst einmal mit seinen Vorgängern ins Gericht.

"Es ist ein kluges Vorurteil des Normalbürgers, die Märkte als riskant anzusehen. Finanztheoretiker sind jedoch nicht so klug. Die "moderne" Finanztheorie gründet sich auf ein paar fragwürdige Mythen, die uns dazu bringen, das wahre Risiko der Finanzmärkte zu unterschätzen. "

Mandelbrots Kritik beißt sich daran fest, dass die Finanztheorie, der er das Adjektiv modern nur mit Anführungsstrichen zubilligt, mithilfe der Gaußsche Glockenkurve die Änderungen der Kurse auf dem Aktienmarkt zu berechnen versucht. Diese Kurve wurde Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von Carl Friedrich Gauß zur Berechnung der Normalverteilung vorgeschlagen und gilt nach wie vor als eines der wichtigsten Instrumente der Statistik.

Mandelbrot: "Viele Phänomene kann man durch die Glockenkurve sehr gut darstellen. … Aber das Hauptproblem: sie erlaubt nicht, extreme Fälle zu erklären. Wenn es extrem hoch geht oder extrem runter. … Das widerspricht der Realität des Marktes völlig. Die Prozesse erlauben nicht, die extremen Kurssprünge zu erklären. Aber an der Börse sind eben jene Kurssprünge besonders wichtig. ... Wenn man die letzten zehn Jahre nimmt, sind es nicht die normalen Handelstage, die wichtig sind für große Gewinne und Verluste, sondern die Tage, an denen es dramatische Ausreißer gab. Also nicht die Werte innerhalb der Glockenkurve, sondern jene, die außerhalb der Kurve lagen."

Einziges Problem an Mandelbrots Kritik ist, dass schon seit geraumer Zeit kein Finanztheoretiker der Welt mehr daran denkt, die Kursschwankungen allein mit der Glockenkurve zu berechnen. Mandelbrot schärft seine Klingen also für Beute, die längst erlegt ist. Unter diesem Gesichtspunkt wirft seine Polemik gegen die Finanzmathematik erst einmal kein gutes Licht auf sein eigenes Modell, das er im zweiten Teil des Buches vorstellt.

"Ein durch mein Modell erzeugter Aktienkurs verläuft zeitweise völlig kontinuierlich und schwankt nur wenig, dann geht er wieder extrem steil bergauf oder bergab. Dabei findet zwar kein Sprung im mathematischen Sinne statt, denn alle Zwischenwerte zwischen dem alten und neuen Kurs werden durchlaufen, aber so schnell, dass der Kurswechsel quasi augenblicklich geschieht. Und es ist mir sehr wichtig: Ich habe mein Modell nicht anhand dieser Charakteristika entworfen, sondern nachdem ich mein Modell entworfen hatte, stellte ich fest, dass diese Charakteristika in der Natur der Fraktale liegen."

Ein Fraktal definiert Mandelbrot als …

"ein Muster oder Objekt, dessen Teile das Ganze in kleinerem Maßstab widerspiegeln."

So wie bei einem Blumenkohl, wo jedes kleine Röschen der Gesamtgestalt des Blumenkohls ähnelt, verhält es sich auch an der Börse. In den Handelbewegungen von zwei Stunden sind nach Mandelbrots fraktalem Modell demnach bis zu hundertachtzig Tage eingeschrieben. Diese im Laufe des Buches plastisch und leicht nachvollziehbar entwickelte Analysemethode des Marktes müsste ein enormes Potential für das praktische Aktiengeschäft haben. Zusammenstellungen von Portfolios und Risikoabschätzungen müssten mit Mandelbrots mathematischem Zoomobjektiv hervorragend funktionieren, da es ja erlaubt, im Gegenwärtigen das Zukünftige zu sehen. Bislang allerdings haben sich nur zwei Doktoranden von Mandelbrot seines Börsenmodells angenommen. Unvoreingenommene Prüfungen gibt es also nicht. Auch der Praxistest von Großinvestoren steht aus. Für den Leser jedoch öffnet sich besonders im zweiten Teil des Buches eine wahre Schatzkiste. Mandelbrot gibt eine fabelhafte Einführung in die Fraktale Geometrie, die allein schon ein hinreichender Grund wäre, das Buch zu empfehlen. Und so ist der Gewinn, den man aus "Fraktale und Finanzen" zieht, eher intellektuell als finanziell.

Mandelbrot: "Heutzutage kann man sicher nicht reich werden mit meinem Modell. … Mich interessiert auch nicht, wie Menschen im Finanzsystem reich werden können und andere nicht, sondern mich interessiert, wie der Finanzmarkt überhaupt funktioniert. Ich versuche mehr über die Sache nachzudenken. Und die Sachen sind nicht individuelle Portfolios, sondern ein qualitatives Verständnis des Funktionierens der Marktökonomie. Es gibt auf der einen Seite viel Wissen, auf der anderen Seite wenig. Und ich hoffe, dass meine Arbeit etwas zu einem besseren Verständnis beisteuern kann. "

Benoit Mandelbrot: Fraktale und Finanzen. Märkte zwischen Risiko und Ruin
Piper Verlag
446 Seiten
24,90 Euro