Berauschender Rhabarber-Saft

In den USA, Großbritannien und Frankreich hat er sich mittlerweile einen Namen gemacht, der britische Schriftsteller John Barlow. In Deutschland hingegen ist er praktisch noch unbekannt, obwohl er von amerikanischen Kritikern mit dem Kult- und Bestseller-Autor T.C. Boyle verglichen wird. John Barlows erstes, 2004 erschienenes Buch, -ein Erzählband mit dem Titel „Eating Mammals“, „Säugetiere essen“, wurde zwar mit einem französischen Literaturpreis ausgezeichnet, nicht aber ins Deutsche übersetzt. Anders John Barlows erster Roman „Berauscht“. „Schockierend“ nannte ihn die „New York Times“: ein Drogen-Cocktail auf Rhabarber-Basis.
Der Roman spielt in den Jahren 1869/70. Im englischen Yorkshire wird ein neues Getränk erfunden, und zwar Rhabarber-Saft unter Zusatz von Kokain, was zunächst schrullig-britisch klingt, aber einen handfesten historischen Hintergrund hat: im Jahr 1863 erfindet der Italiener Angelo Mariani ein, wie es heißt, „Stärkungsgetränk“, den Mariani-Wein, der aus Bordeaux-Wein und Kokain besteht. Der Kokain-Wein überschwemmt in kürzester Zeit Europa: er wird zum Lieblingsgetränk von Queen Victoria, Papst Pius X. und Papst Leo XIII, der sogar dafür wirbt. 1886 entsteht eine alkoholfreie Variante: der morphiumsüchtige John Stith Pemperton komponiert ein neues Kokain-Getränk und nennt es Coca-Cola.

John Barlow bedient sich des historischen Hintergrunds, bettet ihn allerdings in eine rein fiktive Familiensaga ein. Diese spielt in dem englischen Dorf Gomersal, das wiederum ausgerechnet der reale Wohnort der Schriftsteller-Familie Bronté war, die die ersten Bestseller-Autorinnen der Literatur-Geschichte stellte und die die Welt mit schaurig-schönen Schicksalsromanen überschwemmte.

Im Roman nun lernt der Leser die im Prinzip glückliche Fabrikanten-Familie Brookes kennen, die plötzlich in einen Taumel tragisch-melodramatischer Ereignisse verwickelt wird, ausgelöst durch einen zwergenhaften Zeitgenossen á la Matzerat, der zusammen mit der Familie Brookes ein neues Mode-Getränk braut: „Rhabarilla“, Rhabarber-Saft mit Kokain.

„Berauscht“ ist eine wahnwitzige Parodie auf die melodramatischen Schauerromane des 19. Jahrhunderts, Genremalerei mit feinem Pinsel, deftig gewürzt mit britischem Humor. Der Leser mag zunächst etwas irritiert sein, darf sich aber durchaus der stetig eskalierenden Handlung anvertrauen. „Berauscht“ ist etwas für Liebhaber des Grotesken, des Absurden und des Ausufernden: da stinkt nicht jemand einfach nur, sondern man „nimmt einen Dufthauch von Schinkenspeck in Leichenlumpen wahr“.

„Berauscht“ kommt daher wie ein Courts-Mahler-Roman, inszeniert von „Mr. Bean“, -Queen Victoria meets Slapstick. „Berauscht“ ist kompositorisch perfekt gelungen und ein Roman mit einer großen und sehr eigenen Musikalität, -ein Roman, den man genießen kann; man sollte sich nur vielleicht ein bisschen Ruhe dafür nehmen.

John Barlow sitzt mittlerweile an einem neuen Roman: über rituelle Schweineschlachtungen im nordspanischen Galizien.

Rezensiert von Lutz Bunk.

John Barlow: Berauscht
Übersetzt von Gottfried Röckelein.
Kein & Aber Verlag, 2007.
542 Seiten, 22.80 €.