Beobachtungen im Land Brandenburg

Kommt mit dem "Schulz-Effekt" Schwung in die Politik?

Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hängt sich im Unternehmen "Pedag International" in Königs Wusterhausen in Brandenburg ein Besucherschild um.
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hängt sich im Unternehmen "Pedag International" in Königs Wusterhausen in Brandenburg ein Besucherschild um. © dpa-Zentralbild / Ralf Hirschberger
Von Sandra Voß |
Politik aktiv mitgestalten? Für die meisten Menschen ist das keine Option. Beobachter sehen in der Politikverdrossenheit bereits eine Gefahr für die Demokratie – zum Beispiel auch im Land Brandenburg. Und doch macht sich mancherorts ein Umbruch bemerkbar.
"Also ich bin 2009 Ortsvorsitzender geworden. Dann bin ich 2014 zum Stadtverordneten gewählt worden. Und dann hat mich meine Partei zum Fraktionsvorsitzenden gewählt."
"Ich bin hier Leiterin der Landesgeschäftsstelle und ansonsten im geschäftsführenden Vorstand auf Bundesebene."

Mehrere politische Ämter gleichzeitig – aus Mangel an aktiven Parteimitgliedern. Mit dieser einfachen Feststellung lässt sich erklären, was in Ostdeutschland schon bald zu einem Verlust gelebter und erfahrbarer Demokratie führen könnte. Seit der Wende haben alle politischen Parteien Mitglieder verloren. Dieser Trend setzt sich weiter fort. Es fehlt an jungen Menschen, die Lust haben, sich politisch zu engagieren, so die weit verbreitete Meinung. Daher müssen die, die schon dabei sind, oft mehrere Jobs gleichzeitig übernehmen. Was wiederum potentielle neue Mitglieder möglicherweise abschreckt.
Ein Teufelskreis.
Oskar Niedermayer, Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin, sammelt Jahr für Jahr alle relevanten Daten über Ein- und Austritte bei den politischen Parteien und fasst diese in einer Statistik zusammen. So versucht er zu ergründen, woher parteiübergreifend der Mitgliederschwund rührt. Und wie es auf der anderen Seite gelingen kann, wieder mehr Menschen dazu zu bringen, sich aktiv in der Politik zu beteiligen.

Meistens ist nur ein Bruchteil der Parteimitglieder politisch aktiv

Die Situation in Brandenburg beschreibt der Politologe so:
"In Zahlen sieht das so aus, dass die CDU von 1990 bis Ende 2015 57 Prozent ihrer Mitglieder verloren hat. Die Linkspartei, früher PDS, heute Linkspartei 85 Prozent ihrer Mitglieder und die FDP 93 Prozent ihrer Mitglieder von 1990.
Während die SPD fast konstant geblieben ist, fünf Prozent hinzu gewonnen hat und die Grünen fast 240 Prozent hinzugewonnen haben, was daran liegt, dass sie 1990 weniger als 300 Mitglieder hatten im ganzen Lande."
Die Grünen schwimmen weiter auf der Erfolgswelle, sowohl bundesweit wie auch in Brandenburg. 2016 traten 90 neue Mitglieder in den Landesverband Brandenburg ein.
Das ist ein Rekordzuwachs von 5,8 Prozent im Vergleich zu 2015. Somit haben die Grünen in Brandenburg nach Stand vom 15.02.2017 1047 Mitglieder.
Doch solche Zahlen sagen wenig über das Leben in einer Partei. Denn meistens ist nur ein Bruchteil der Mitglieder tatsächlich aktiv und engagiert.
Jahresauftakttreffen in Potsdam. Es ist 19.00 Uhr, Freitagabend. In dem lang gestreckten, schmalen Raum, der von Neonröhren grell erleuchtet ist, sitzen zehn sehr unterschiedliche junge Menschen. Eine junge Frau mit blauen, verwuschelten Haaren macht Witze, währende die andere mit den langen, glatten, blonden Haaren still zuhört. Was alle eint, ist der Wille, sich politisch zu engagieren. Deswegen sind sie in der Grünen Jugend Brandenburg. Gerade heute sind zwei neue Mitglieder zum ersten Mal in der Runde. Der 23-jährige Sprecher Martin Wandrey freut sich über die neuen Gesichter. Denn der Medizinstudent mit der großen, runden Brille weiß: Jedes neue Mitglied ist hart erarbeitet.
Martin Wandrey: "Weil wir selber aktiver sind, als Grüne Jugend, weil wir sichtbarer sind, weil wir Veranstaltungen machen, weil wir mehr Leute geworden sind, die dann wiederum andere Leute anwerben. Und aber auch Leute, die den Grünen oder der Grünen Jugend nahe stehen und immer Interesse an der Sache hatten, aber wo bisher der Punkt gefehlt hat 'Ich fang jetzt an, mich politisch einzubringen, zu engagieren', denen es vielleicht zu komplex war oder die in einer anderen Initiative mitgearbeitet haben, die jetzt aber sagen: 'Die Stimmung im Land ist so vergiftet, jetzt möchte ich selber aktiv werden und ein Zeichen dagegen setzen.'"
Das neueste Mitglied in der Runde ist Phillip Maasen, er ist gerade mal 15 Jahre alt.
"Ich bin bei den Grünen, weil die Grünen programmatisch die Partei sind, mit denen ich mich am meisten identifiziere und für die ich mich auch am meisten interessiere. Und halt auch generell finde ich, dass die Grünen eine sehr coole und sehr moderne Partei sind."

Als Teenager bei der Grünen Jugend - mit klaren Zielen

Der schlaksige, junge Mann will was verändern, das ist deutlich zu spüren. Für den Spitzenkandidaten aus seinem Heimatwahlkreis Teltow Fläming, Gerhard Kalinke, gestaltet Philipp Maasen die Internetseite. Bei seinem ersten Besuch bei der Grünen Jugend scheut sich Phillip noch, das Wort "Berufspolitiker" in der Mund zu nehmen. Doch das jüngste Mitglied weiß sehr genau, was er in der Partei tun kann und ist heiß darauf, Aufgaben zu übernehmen, die seinen Fähigkeiten entsprechen.
Phillip Maasen: "Ich würde mal sagen, dass ich ziemlich offen und gut reden kann und da würde ich auch ein bisschen Öffentlichkeitsarbeit machen. Aber prinzipiell hab ich Ahnung von relativ vielen Sachen. Ich kenne mich ein bisschen mit Finanzen aus, da kennen sich andere Leute auch aus, weil die viel älter sind und auch viel mehr Lebenserfahrung haben. Aber ich bin in vielen Themen gut informiert und auch interessiert."
Phillip hat fest vor, sich in seiner Freizeit politisch zu engagieren.
Damit ist er zumindest in der Grünen Jugend nicht allein. Denn die Grünen gelten als die Partei mit den meisten jungen Mitgliedern. Alleine in der Grünen Jungend Brandenburg sind 80 Mitglieder, die sich mehr oder weniger einbringen.
Bundesweit wie auch auf Landesebene sind es auffallend viele Frauen, die sich bei den Grünen engagieren. So auch die 17-jährige Ricarda Budke, politische Geschäftsführerin der Grünen Jugend. Sie findet es klasse, dass die Bündnis-Grünen ausdrücklich die politische Karriere von Frauen fördern, was sich exemplarisch in der Doppelspitze der Partei zeige. Doch egal ob Frau oder Mann, wichtig sei es, die neuen Parteimitglieder langfristig in die politische Arbeit einzubinden. Denn die Schülerin mit dem rundlichen Gesicht glaubt, wer es schafft, ein Jahr in der Partei mitzuarbeiten, bleibt dabei.
Ricarda Budke: "Es ist natürlich einfacher, sich nur für ein politisches Thema zu engagieren, vielleicht auch nur für einen begrenzten Zeitraum, als sich fest an eine Partei zu binden, die ja viele Themen und Spektren abdecken muss. Ich denke aber auch, dass man durch solche Arbeit Menschen für politische Parteien gewinnen kann. So haben wir auch in der Grünen Jugend viele Leute, die erst im BUND aktiv waren. Oder ich zum Beispiel war ja auch vorher erst in einer Willkommensinitiative aktiv und bin dann auf dem Wege zur politischen Arbeit gekommen, und ich glaube, dass kann man auch als Partei so ein bisschen steuern, wo man präsent ist und Präsenz zeigt."

Die meisten Mitglieder in den Städten

Auffällig ist, die meisten neuen Mitglieder treten in der Nähe der kleinen und großen Städte Brandenburgs ein. In den ländlichen, dünn besiedelten Gebieten sind die Grünen kaum vertreten. Doch gerade in den Regionen, die landwirtschaftlich genutzt werden, schreie es ja geradezu nach einer Politik, die sich für den Umweltschutz und Nachhaltigkeit einsetzt, findet Martin Wandrey, der neben dem Job als Sprecher der Grünen Jugend einen Platz auf der Wahlliste für den Landtag hat.
Martin Wandrey: "Wir Grünen sind und bleiben eine Spartenpartei. Und dann hat man als Spartenpartei oder als Randgruppe im ländlichen Raum sowieso immer ein Problem, die Wege sind weit und es sind halt nicht so viele Leute. Und das macht es uns halt schwierig. Was ich mir wünsche, was wir hinkriegen, das wir die ländlichen Räume als Grüne thematisieren. Das sind so simple Sachen wie: Wir machen als Grüne Jugend dort mal eine Veranstaltung, wir beschäftigen uns mit Themen für den ländlichen Raum, sei es Landwirtschaft, sei es Forstwirtschaft, sei es öffentlicher Nahverkehr - Themen, die da eine gewisse Relevanz besitzen. Und dann versuchen wir da auch möglichst viele Leute zu überzeugen, ich glaube, das ist wirklich der Schlüssel, dass sie auch Verantwortung übernehmen in den Regionen, doch dann auch mal ein Mandat im Stadtrat übernehmen. Damit können wir die Grünen, glaube ich, wirklich in die Fläche bringen."
Wer, wann, wo in eine Partei eintritt, dass sind einige der Daten, die der Politikwissenschaftler Professor Oskar Niedermayer zusammenträgt und auswertet. Inzwischen sind die Daten sogar einheitlich, so dass sie gut miteinander verglichen werden können. Niedermayer erfasst, wie die Geschlechterzusammensetzung ist, welche Konfession und welchen Beruf die Mitglieder haben und wie alte die Mitglieder sind. Dabei fällt auf: Die meisten Neuen sind unter 25 Jahren.
Oskar Niedermayer: "Also, im Prinzip ist es ganz einfach, man geht eher mit 20 in eine Partei als mit 80 rein."
Auch wenn junge Menschen verstärkt in die Parteien eintreten, sind die Älteren deutlich in der Mehrheit. Das ist für den Politikwissenschaftler der Hauptgrund dafür, dass die Zahl der politisch Aktiven immer weiter zurückgeht. Die alten Mitglieder sterben und es kommen nicht genügend neue hinzu.

Parteimitglieder wollen sich für ihre persönlichen Werte einsetzen

Insgesamt beobachtet Niedermayer sehr unterschiedliche Motive, warum Menschen in Parteien eintreten. Oder eben auch nicht.
"Das geht los mit einem normativen Motiv, dass heißt Verhaltenserwartungen der Umwelt. Man wächst in einer sozialdemokratischen Familie auf und kriegt da den Schub, jetzt auch endlich in die Partei zu gehen. Diese normativen Geschichten haben dramatisch abgenommen in den letzten Jahrzehnten, weil wir Veränderungen der traditionellen Familienstrukturen haben, weil wir insgesamt eine Individualisierung der Gesellschaft haben, diese ganzen Gruppenbezüge nicht mehr so da sind wie früher."
Ein weiterer, wichtiger Grund sind die persönlichen Werte, für die sich der einzelne politisch einsetzen will. Bin ich für Umweltschutz oder für eine starke Wirtschaft. Und was ist, wenn mir beides wichtig ist? Da die Welt komplex ist – vielleicht gar noch komplexer geworden ist - und sich die Menschen für sehr unterschiedliche Dinge gleichzeitig interessieren, sind die Parteien gezwungen, sich breiter aufzustellen, um unterschiedliche Gruppen abzuholen. Deswegen gleichen sie sich inhaltlich in vielen Bereichen immer stärker an. Das macht es für den potenziellen Interessenten wiederum schwieriger, sich zu entscheiden, wo er – oder sie – sich engagieren will.
Ganz anders als die etablierten Parteien positioniert sich die AfD, zumindest in ihrem Selbstverständnis. Bundesweit hat die AfD 25.000 Mitglieder. Für die einzelnen Bundesländer fehlen dem Politologen die Zahlen. Mit diesen Informationen sei die AfD sehr zögerlich.
Oskar Niedermayer rät, genau hinzuschauen, wenn die AfD angibt, sie habe 2016 20 Prozent neue Mitglieder gewonnen:
"Man darf nicht vergessen, die AfD hat 2015 durch den Ausstieg des ganzen Lucke-Flügels ungefähr, so schätzt man, 20 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Die haben sie jetzt wieder gewonnen.
Die CDU in Brandenburg sieht ihre Wählerschaft durch die AfD nicht bedroht. Denn, so erklärt Steeven Bretz, der Generalsekretär der CDU, die AfD gewinne ihre Wähler bei den bisherigen Nichtwählern und aus der Klientel der Linken.

"Die Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder stärken"

Die Christdemokraten besinnen sich ganz auf die eigenen Werte und versuchen, ihre Mitglieder stärker einzubinden. Doch dazu müsse erst mal die Satzung geändert werden.
Steeven Bretz: "Derzeit haben wir in Brandenburg eine, dass klingt jetzt sehr trocken, aber so heißt nun mal, eine Satzungskommission, so ist das manchmal in der Politik, dass es für komplizierte Vorgänge, auch spannende Vorgänge dann so trockene Namen gibt. Satzungskommission heißt, wir werden derzeit unsere Satzung überarbeiten, wir möchten sie interessanter gestalten, wir möchten die Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder stärken."
Konkret heißt dass, die CDU will es dem einfachen Mitglied ermöglichen, leichter einen Antrag an das höchste Organ, den Landesparteitag, zu stellen. Bisher ist das nur über den langen Weg durch die Instanzen, vom Ortsverein über den Kreisverein möglich.

Männeranteil ist in der CDU besonders hoch

Auffällig ist, dass noch immer mehr Männer als Frauen politisch tätig sind. Das ist vor allem in der CDU so. Der Generalsekretär weist stolz darauf hin, dass in seinem christdemokratischen Landesverband drei von vier stellvertretenden Landesvorsitzenden Frauen sind – wobei den Vorsitz der CDU Brandenburg ein Mann innehat. - Doch um mehr Frauen zu gewinnen, muss die CDU sich etwas einfallen lassen, gesteht Steeven Bretz:
"Das ist in der Tat eine große Herausforderung, übrigens für die CDU in Deutschland genau so wie für die CDU in Brandenburg. Ich würde mich freuen, wenn wir mehr Frauen auch für die CDU begeistern können. Ich freue mich ja, dass wir mit der Bundeskanzlerin eine sehr, sehr starke Persönlichkeit haben und es zeigt auch, wie wichtig es ist, dass Frauen sich in der Politik engagieren. Und wir haben in der CDU in Brandenburg auch eine Vereinigung, die Frauen Union, die sich ganz gezielt auch mit dem Thema befasst."
Über unterschiedliche Vereinigungen, also spezielle Interessengemeinschaften innerhalb der Partei, hofft die CDU, in Kontakt mit den Bürgern und deren Bedürfnissen zu kommen, um so letztlich neue Mitglieder zu werben. Frei nach dem Motto: Wenn die Frauen Union in der Kita einen Kuchen backt, erkennt die Hausfrau, politische Arbeit ist gar nicht so schwer.
Wer als junger Mensch schon in der Union ist, kann bei besonderer Begabung – oder besonders großem Interesse - an einem innerparteilichen Weiterbildungsprogramm teilnehmen.
Steeven Bretz: "Ein spannendes Projekt ist das Netzwerk für Nachwuchsförderung, also ein Programm, was wir derzeit auflegen, wo wir talentierte Leute, die sich für Politik interessieren, mitnehmen in die parlamentarische Arbeit, ob im Bundestag, im Landtag oder auf kommunaler Eben, um die Menschen zu interessieren für den politischen Bereich. Weil wir finden, dass nichts wichtiger ist als das man seine Zukunft auch ein Stück selbst weit in die Hand nimmt."
Das eigene Schicksal in die Hand nehmen klingt gut, es klingt nach Macht und Handlungsspielraum. Doch den hat die CDU in Brandenburg nur begrenzt. Die Union ist seit 2014 in der Opposition. Wie also wirbt die Partei um neue Mitglieder, wenn sie denen im Moment keine direkte Regierungsbeteiligung anbieten kann?
Steeven Bretz: "Wir sind da, wo es um die Basis ist, besonders stark und gut aufgestellt. Insofern ist Brandenburg für die CDU ein spannendes Land mit vielen guten Perspektiven."
Für alle Parteien ist es spannend, was sich derzeit in den Vereinigten Staaten abspielt.

Viele Neueintritte nach der Trump-Wahl in den USA

Denn die meisten Parteien hatten, kurz nachdem Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt worden war, zahlreiche Neueintritte zu verzeichnen. - Nur die CDU nicht.
Steeven Bretz: "Wir haben keinen Effekt, was auf den amerikanischen Präsidenten zurück zu führen ist, der sich in Mitgliederzahlen ausdrückt. Wir haben einen Merkel Effekt: Mit der Kandidatur von Angela Merkel, erneut als Spitzenkandidatin für CDU / CSU für Deutschland zur Verfügung zu stehen. Alleine im Kreisverband bei mir in Potsdam hatten wir zehn Aufnahmeanträge auf dem Tisch gehabt. Und das freut mich sehr, und der einzige Trump Effekt, den ich merke, ist bei mir das alltägliche Kopfschütteln."
Charismatische Persönlichkeiten an der Spitze einer Partei oder eines Landes verleiten Menschen dazu, in Parteien einzutreten, sich politisch zu interessieren und zu beteiligen. Das beobachtet auch Politikwissenschaftler Niedermayer:
"Als letztes haben wir so diese gefühlsmäßigen, affektiven Gründe, in eine Partei einzutreten. Das war zum Beispiel der Fall bei dem riesigen Mitgliederboom der SDP Anfang der 70iger - Willy Brandt."
Bereits mit seiner ersten Rede als neu gewählter Bundeskanzler hatte Brandt im Herbst 1969 einen dramatischen Politikwechsel angedeutet, der Millionen Menschen begeisterte – und viele von ihnen motivierte, sich politisch zu engagieren.
Willy Brandt: "Wir wollen mehr Demokratie wagen."

Austritte aufgrund von Ereignissen in der Kommune

Für Oskar Niedermayer könnte auch die Kandidatur von Martin Schulz einen ähnlichen, positiven Effekt auf die Neueintritte in der SPD haben.
Oskar Niedermayer: "Ja, so eine charismatische Persönlichkeit, vielleicht ist das ja jetzt auch Schulz, man hört ja, dass Hunderte jetzt eingetreten sind. Das muss man jetzt sehen, ob Schulz auch so einen Effekt hat 'Jetzt ist Neuanfang, Aufbruchsstimmung' - der wird verkörpert durch eine Person, mit Charisma, das muss man jetzt alles sehen, das war aber bei Willy Brandt sehr stark der Fall."
Dirk Süßmilch ist Ortsvereinsvorsitzender der SPD in Spremberg, einer Stadt mit 25.000 Einwohnern in brandenburgischen Landkreis Spree-Neiße. Auch der 52-Jährige erinnert sich an eine große Eintrittswelle in seiner Partei.
Dirk Süßmilch: "Als dieser politische Hype war und dieser politische Umbruch von Kohl weg und diese Aufbruchsstimmung war, hatte die SPD in Spremberg 120 Mitglieder."
Heute hat die SPD in Spremberg nur noch 65 Mitglieder und ist damit noch immer der größte Ortsverein im Landkreis Spree-Neiße. Dirk Süßmilch beobachtet seit zehn Jahren besorgt, dass die Genossen um ihn herum immer weniger werden. Das habe viele Ursachen, betont der große gewachsene Ortvorsitzende.
Dirk Süßmilch: "Das hat verschiedene Ursachen. Nicht nur aus politischen Gründen, sondern das hat eben auch die Ursache in handelnden Personen. Wir haben viele Austritte gehabt, die sich auf bestimmte Personen bezogen oder auf kommunalpolitische Themen bezogen. Also man kann nicht generell sagen, dass wir einen Schwund haben als Partei, sondern das hat immer auch konkrete Bezüge."
Konkret meint damit Dirk Süßmilch einige Genossen, die 2014 mit der Aufstellung einer parteilosen Kandidatin ins Bürgermeister-Amt nicht einverstanden waren. Süßmilch versucht im persönlichen Gespräch, jedes Mitglied für die aktive Parteiarbeit zu gewinnen. Und doch: Fakt ist, auch Süßmilch fehlen die Leute. So übernimmt der 52-jährige Vater von zwei Kindern mehrere Funktionen.
Dirk Süßmilch: "Zuerst habe ich die Funktion, die ehrenamtliche Funktion im Ortsverein als Vorsitzender gehabt, und dann mit der nächsten Kommunalwahl stand natürlich auch zur Debatte, dass unsere Genossen gesagt haben: Dirk, jetzt bist du schon Ortvereinsvorsitzender und jetzt musst du auch nach vorne auf die Liste und hier antreten! Das habe ich gerne gemacht, aber mir fehlte vorher auch die kommunalpolitische Erfahrung, deshalb war ich gar nicht so begeistert, auch Fraktionsvorsitzender machen zu müssen. Aber meine drei Genossen in der Fraktion, wir sind nur vier Abgeordnete der SPD-Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung, haben gesagt: Du machst das und wenn du das nicht kannst, dann musst du es lernen."
Gesagt, getan. Dirk Süßmilch fuchst sich in die anstehenden Aufgaben. Der sonst so entspannt agierende Genosse ist geradezu entzückt von den Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunalpolitik. Zurzeit wird in Spremberg über eine Schwimmhalle diskutiert. Entscheidend sei schon, dass die Halle gebaut wird. Nun gehe es um die Standortfrage.
Dirk Süßmilch: "Das Schöne an der Kommunalpolitik ist, das was ich entscheide, betrifft mich direkt als Bürger einer Stadt. Es ist die direkteste Form Politik zu erleben.
Das Büro des Ortsvereins der SPD liegt direkt in der Kopfstein gepflasterten Einkaufsstraße von Spremberg. Die große, offene Glasfront mit der holzumrandeten Tür lädt ein, in den hohen Altbau-Raum zu gehen, wo in langen Regalen verschiedene Flyer ausliegen. Zur politischen Bildung allgemein, über die Gefahr von rechtem Gedankengut – aber eben auch über den Stand der Bäderplanung.

Wie erreicht der Politiker die Bürger?

Dirk Süßmilch ist Realist. Er weiß, einige Bürger nutzen das Angebot, sich zu informieren. Doch die Bude rennen sie ihm nicht gerade ein, gesteht er.
"Ich sage mal, an den Stammtischen wird viel politisch diskutiert - und wenn man in der Familie bei Geburtstagen zusammen sitzt auch. Das Problem ist, dass die Bürger aus irgendwelchen Gründen nicht zu den Akteuren, den Parteien, kommen und sagen: 'Ich möchte mit dir darüber diskutieren.' Es gibt Bürger, die machen das, regelmäßig, die sehen wir öfter hier. Aber die breite Masse, die sagt sich: 'Na ja, ich gehe da vorbei, ich weiß, dass es das Büro gibt, aber da reingehen und sagen, dass gefällt mir nicht, das tun die nicht.' Und das ist schade einfach, weil genau da muss des Bürgers Meinung hin."
Wie aber gelingt es dann, die Bürger zu erreichen? Dirk Süßmilch geht es pragmatisch an.
Alle zwei Monate im Winter und in den warmen Sommermonaten öfter, verlegt er seine Bürgersprechstunde von Büro auf den Marktplatz. Dort steht Süßmilch hinter dem Stand, zeigt sein Gesicht. Und siehe da, hier kommen Bürger und Politiker ins Gespräch. Dabei sei es gar nicht so wichtig den Standpunkt der SPD zu verbreiten. Sondern es gehe darum, die Menschen zu erreichen und sich Zeit zu nehmen, um ihnen komplizierte Sachverhalte zu erklären.
Dirk Süßmilch: "Die Erfahrung ist, die wir als Ortsverein und auch als Abgeordnete der Fraktion gemacht haben ist die, wenn man auf die Straße geht, zu den Bürgern und sie anspricht, man viel mehr Resonanz kriegt."
Auf den Bürger zugehen scheint ein Schlüssel zum Erfolg zu sein, um Menschen für politische Entscheidungen zu sensibilisieren. Das haben auch die Linken erkannt. Anja Mayer, Leiterin der Landesgeschäftsstelle Potsdam erklärt, wie sie Ihr neues Parteiprogramm erarbeitet haben. ´
Anja Mayer: "Wir haben vor allem normale Bürger befragt, weil das ja das Spannende ist. Man kann natürlich in Wahlprogramme immer nette Dinge schreiben und am Ende fragen sich die Bürger, was meinen die eigentlich? Und deswegen sind wir in vielen Regionen Deutschlands von Haus zu Haus gegangen und haben geklingelt und haben gefragt, was brennt ihnen denn unter den Nägel. Und das haben wir versucht aufzuschreiben."
Generell sind die Genossen speziell in der Linken in Brandenburg eher alt als jung. Das heißt zwangsläufig auch hier, im Schnitt sinken die Mitgliederzahlen. Aber: 2016 traten bundesweit so viele Menschen ein wie noch nie.
Anja Mayer: "In Brandenburg sind 2016 ungefähr 130 Leute in die Partei eingetreten. Davon waren relativ viele im Alter von 16 bis 20 Jahren. Und wir haben eine Altersstruktur, die sehr viel ältere Menschen in der Partei hat und dann kommen so viele neue Leute, dann ist die Frage, wie kann man die integrieren. Und da ist natürlich der Bundestagwahlkampf, der ansteht, das Mittel der Wahl, würde ich mal sagen, weil wir natürlich versuchen, neue Aktionsformen auszuprobieren. Ein Schwerpunkt unseres Bundestagswahlkampfes hier in Brandenburg wird eine Sozial Media Kampagne sein, und wir wollen eine Plakat-Rallye über das Land machen. Ich glaube, dass sind schon Sachen, die junge Menschen interessant finden."

Die linke Genossin unterstützt selbstverständlich Aktivistengruppen

Die 37-jährige, schwarz gekleidete Frau hat das Glück, hauptberuflich die Geschäftsstelle der Linkspartei in Potsdam zu leiten. Doch auch sie arbeitet noch ehrenamtlich im geschäftsführenden Vorstand auf Bundesebene. Das bedeutet, dass die Mutter eines Siebenjährigen oft abends oder am Wochenende Dinge tut, die zur politischen Arbeit gehören.

Anja Mayer: "Ich würde sagen, im Durchschnitt ist das ein Tag pro Woche für ehrenamtliche Arbeit. Da kommen dann Sitzungszeiten, Parteivorstand oder Telefonkonferenzen oder Sitzungen vom geschäftsführenden Parteivorstand dazu, Sitzungsvorbereitungen, Sitzungsnachbereitungen. Man wird mal eingeladen, um zu erzählen, wie das jetzt gerade ist mit dem Bundestagwahlprogramm, solche Geschichten."
Auch Anja Maier ist wie viele junge Menschen erst in einer Aktivistengruppe gewesen, bevor sie in die Linke eingetreten ist. Deswegen ist es für die engagierte Genossin klar, dass sie als Partei-Mitarbeiterin auch genau solche, der Partei nahe stehenden Aktivistengruppen unterstützt. Zum Beispiel, indem in der Parteizentrale kostenlos Flugblätter kopiert werden können oder gemeinsame Transparente gemalt werden.
Anja Mayer: "Ich glaube, der Unterschied ist der Veränderungsanspruch. Wenn ich was ganz konkret verändern will, dann bringt es total viel, in einer politischen Aktivistengruppe zu sein, weil der Druck da sein muss. Ich muss aber den Schritt rüber, nicht unbedingt physisch machen, aber ich muss die Übersetzung rüber in die Politik machen, um wirklich Einfluss nehmen zu können, wie sieht dann das Gesetz am Ende aus."
Wer in eine Partei eintritt und sich politisch aktiv beteiligen will, sollte das sehr bewusst tun. Es braucht viel Zeit und die Lust, sich einzubringen. Und gelegentlich einen langen Atem. Doch dann kann tatsächlich jedes einzelne Mitglied etwas bewegen – ganz gleich, bei welcher Partei.
Anja Mayer ist seit ihrem Parteieintritt vor elf Jahren begeistert von der politischen Arbeit - und sie ist überzeugt, dass sie auch in Zukunft andere junge Menschen mit ihrem Engagement anstecken kann.
Anja Mayer: "Also Ämter konzentrieren sich schon viel auf die Personen, die aktiv sind. Und klar habe ich den Wunsch, dass da ganz viele mitmachen. Doch ich habe noch einen zweiten Wunsch und der geht so: Dass im Bundestagswahlkampf noch mehr Leute eintreten als im letzten Jahr. Das ist ein hohes Ziel, aber ich glaube, es ist machbar. Denn das können alle Parteien verzeichnen, dass wenn Wahlkämpfe sind, es vermehrt zu Eintritten kommt."
Mehr zum Thema