Belletristik

Poesie der Düsternis

Besprochen von Maike Albath · 21.11.2013
Die Lyrik des Mailänders Milo De Angelis gilt als düster, seine Texte sind in der nebligen Peripherie seiner Heimatstadt angesiedelt. Erstmals wurde er nun ins Deutsche übersetzt.
Ein Gedicht sei das Gegenteil von Konversation, es dürfe gerade nicht auf gefällige Weise fließen, sondern müsse immer auch das eigene Ende, das Verstummen beinhalten – schließlich laufe auch jeder einzelne Vers symbolisch auf die weiße Lücke hinaus, auf den freien Raum neben dem Zeilenende rechts auf der Buchseite. Mit diesen Worten beschreibt der Mailänder Lyriker Milo De Angelis sein Verständnis von Dichtung. Jetzt ist erstmals in deutscher Sprache ein Band herausgekommen, der einen Querschnitt durch sein vielschichtiges Werk liefert: "Alphabet des Augenblicks".
Milo De Angelis, 1951 geboren, debütierte 1975 und zählt heute zu den prägnantesten Stimmen der zeitgenössischen italienischen Lyrik. Im Brotberuf Lehrer an einem Mailänder Gefängnis, glänzender Übersetzer aus dem Französischen und Lateinischen, Ende der siebziger Jahre Chefredakteur der Lyrikzeitschrift "Niebo"und immer noch großer Förderer junger Lyriker, bricht mit dem landläufigen Italienbild und dem Motivrepertoire der mediterranen Welt. De Angelis siedelt seine Texte in der nebligen Peripherie von Mailand an, die Stimmung ist oft verhalten, der Tod und menschliches Leid allgegenwärtig, und Dunkelheit, "il buio", ein zentrales Bildfeld. Dabei ist Dunkelheit nicht nur das Gegenteil von Licht, sondern dessen geheimes Potenzial und zugleich die Sphäre, aus der sich das Sagbare hervorschält.
Das All mit dem Nichts erschaffen
Der Zustand des lyrischen Ichs ist nie gesichert, tieferer Kontakt zu einem Gegenüber nur für Augenblicke möglich, um Liebe muss gerungen werden. Eine Gegenbewegung geht aber vom Versprachlichen selbst aus: Denn wer mit seinen Abgründen vertraut ist – "weiche nicht, Abgrund, von meiner Seite", und sich in die Randzonen des Bewusstseins vorwagt, kann „das Absolute besingen“. Oder, wie ein anderes Verspaar lautet: "Vielleicht ist Poesie/ nur dies: das All erschaffen mit nichts."
Eine Verankerung in der eigenen Existenz bietet kurioserweise der Sport, der weit über eine körperliche Erfahrung hinausgeht und etwas Metaphysisches birgt. Milo De Angelis war selbst aktiver Sportler, und Fußball und Leichtathletik sind immer wieder Gegenstand seiner Lyrik. "Und ihr werdet/ diese Musik aus der Tiefe sein", heißt es in dem Gedicht "Die Mannschaften", denn im Spiel entsteht eine enge Verbindung innerhalb einer Gruppe.
Die Genauigkeit, die die Vorbereitung auf einen Kurzstreckenlauf erfordert, wird zu einem Moment der Versenkung und damit zu einem spirituellen Akt. In seinem bisher letzten Gedichtband taucht das Motiv des Hofes im Titel auf, "Dieses Entschwinden in die Dunkelheit der Höfe" (2010). Der Hof ist ein Ort des Übergangs, weder Teil des Hauses, noch Teil der äußeren Welt, sondern eine Passage, ein Dazwischen, an dem Vertrautes und Fremdes aufeinander treffen. Dazu passt das Motiv der Sprechanlage, "il citofono", wie sie in allen großen Wohnhäusern benutzt wird: Die Verständigung passiert über einen Kanal, der störanfällig ist. Es ist dieser Bereich, den Milo De Angelis in seinen Gedichten so eindringlich vermittelt.

Milo De Angelis: Alphabet des Augenblicks
Aus dem Italienischen von Piero Salabé
Carl Hanser Verlag, München 2013
158 Seiten, 14,90 Euro