Belfast Noir - Krimis gegen das Schweigen

Nordirische Autoren wollen versöhnen und Tabus brechen

Politisches Graffiti im katholischen Viertel im nordirischen Belfast, aufgenommen 2015
Politisches Graffiti im katholischen Viertel im nordirischen Belfast © picture alliance / dpa / Antti Aimo-Koivisto
Von Thomas Jaedicke und David Sharp · 09.09.2016
Jahrzehntelang hat ein blutiger Konflikt Nordirland geprägt. Etwa ein Dutzend Autoren nutzen mittlerweile das populäre Krimi-Genre, um die komplizierte Geschichte und die damit verbundenen Traumata literarisch zu bearbeiten.
Unser schwarzes Taxi rollt durch eine Reihe von Sicherheitstoren, die die katholische Falls Road mit dem protestantischen Viertel Shankhill verbinden. Tagsüber kann der Verkehr ungehindert fließen. Abends werden die Tore geschlossen. Wie mächtige Zeichen des Misstrauens zerschneiden die hohen, mit Stacheldraht bewährten Tore die Stadt. 18 Jahre nach dem Karfreitagsabkommen kommen Katholiken und Protestanten noch immer nicht miteinander klar.
Natürlich gibt es bessere Wege, die Seele von Belfast zu ergründen als Autotouren. Belfast Noir, das populäre Krimigenre, ist so eine Möglichkeit, die Tiefen dieses rätselhaften Ortes auszuloten.
Das Taxi gleitet nach Süden, die grüne Botanic Avenue entlang, hinein ins hübsche Künstlerviertel Queen's Quarter mit der berühmten Queen's University. Vor dem "No Alibis" steigen wir aus. Der Buchladen ist das Hauptquartier der Nord-Irischen Kriminal-Literatur-Szene. David Torrans hat seinen Laden 1997 eröffnet. Die relativ friedliche Zeit der letzten Jahre hat eine Menge Kreativität freigesetzt, die sich in den Jahren des Bürgerkriegs aufgestaut hatte.
"Seit dem Jahr 2000 verspürten einige Schriftsteller das Bedürfnis, anders über das hier zu schreiben als es in der klischeehaften 'Troubles Trash'-Fiction der Fall war. Diese Krimi-Literatur spielt zwar hier, wurde aber von niemandem geschrieben, der hier lebte. Anfangs bestimmten Autoren wie Brian McGilloway oder Stuart Neville das Bild."
Nach dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 sind viele Leser nun gewillt, sich mit der schwierigen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Fiktionalisierung der Unruhen durch eine Reihe junger Autoren hat sicher geholfen. Viele Nordiren waren von ihren Erfahrungen traumatisiert. Lange haben sie es vermieden, darüber zu reden. Die Kriminalromane helfen, das Schweigen zu brechen, weil man damit viele Leute erreicht. Bei McGilloway, Neville, Bateman und ihren Zeitgenossen der 90er-Jahre liegen die Wurzeln dieses Genres.

In "Wee Rockets" geht es um eine gewalttätige Jugendgang

Colin Bateman, ein ehemaliger Journalist aus Belfast, gilt mit seinem 1994 erschienenen Roman "Divorcing Jack" als Pionier des Genres. Die wilde Geschichte, die er mit bissigem Humor erzählt, spielt vor dem Hintergrund der Unruhen. Gerard Brennan, ein Senkrechtstarter der neuen "Belfast Noir"-Welle, wurde von Batemans Ansatz inspiriert. In seinem kürzlich erschienenen Debüt-Roman "Wee Rockets" geht es um eine Gang 14-jähriger Jungs, die randalierend durch West Belfast ziehen, gewalttätig werden und Rentner überfallen.
Mit Anfang 20 lebte Brennan einige Jahre in Beechmount, einem katholischen Viertel in West Belfast. Dort spielt auch der Krimi. "Wee Rockets", kleine Raketen, nennt man die kleinen Gangster, die auch heute noch auf Belfasts Straßen unterwegs sind.
Gerard Brennan
Gerard Brennan© Deutschlandradio / Ole Siebert
Ausschnitt aus "Wee Rocket":
Die Straßen von Beechmount stanken nach nasser Hundescheiße. Der Effekt von trocknendem Regen im Frühsommer. In West Belfast wurde es langsam schummrig. Joe Philips gähnte und lehnte sich gegen die Backsteinmauer. Halb elf. Eigentlich hätte er lieber gemütlich im Bett gelegen, eine DVD eingelegt, um dann langsam weg zu dämmern. Aber er war der Anführer. Der Rest der Gang wartete auf ihn.
Brennan: "Ich wollte den Einfluss beider Eltern auf die Hauptfigur im Buch zeigen. Joe wächst in einem kaputten Elternhaus auf und wird von seiner Mutter allein erzogen."

Von Selbstmordstatistiken beunruhigt

Zehntausende hat der Bürgerkrieg geschädigt. Statistiken belegen das. Aber Alkoholismus, psychische Störungen, Selbstverletzungen und Selbstmorde betreffen auch die "Ceasefire Babies", die Waffenstillstands-Generation, die zu jung ist, um sich an die schlimmsten Zeiten des Terrors zu erinnern. Ihnen ist der direkte Horror des Krieges zwar erspart geblieben. Die Nachwirkungen verfolgen sie aber trotzdem. So hat Nordirland die höchste Selbstmordrate des Vereinigten Königreichs.
Kelly Creighton: "Weitaus mehr junge Männer haben nach den Unruhen Selbstmord begangen. Das ist ein Thema, mit dem man sich unbedingt auseinandersetzen muss."
Kelly Creighton
Kelly Creighton © Deutschlandradio / Ole Siebert
Die Autorin Kelly Creighton ist von den Selbstmordstatistiken, besonders unter protestantischen Männern in ihren Dreißigern, sehr beunruhigt. Das Thema ist die Grundlage ihres Debüt-Romans – dem Krimi "The Bones Of It".
"Diese Generation junger protestantischer Männer ist eigentlich verloren. Männer, die wenig Bildung haben. Mit Scott wollte ich ihnen eine Stimme geben."
Der 22-jährige Scott wird in Friedenszeiten geboren und von seiner Großmutter in einem malerischen Küstenstädtchen in County Down großgezogen. Seine Mutter ist tot, und sein Vater Duke sitzt als Ex-Paramilitär für einen Doppelmord im Gefängnis. Als Scott in England von der Uni fliegt, weil er mit geklauten Autos herumgefahren ist, kehrt er nach Hause zurück und muss zum ersten Mal, seit er ein Baby war, mit seinem Vater zusammenleben. Die beiden Männer können nicht über ihre Gefühle sprechen. Dukes gewalttätige Vergangenheit ist ein Tabuthema, und der Generationsunterschied zwischen ihnen scheint unüberwindlich groß.
Gerard Brennan: "Kinder stellen nun mal Fragen, aber es gab hier immer diese Regel: 'Was auch immer du sagst, sage nichts.'"
Auch in Gerard Brennans Familie wurde vieles unter den Teppich gekehrt. Wegen der bewegten Vergangenheit seines Vaters war der Bürgerkrieg bei ihm zu Hause ein Tabuthema. Die Charaktere in Brennans Roman sind starke, ruhige Männer, ähnlich wie sein eigener Vater oder Duke McCauley aus Kelly Creightons "The Bones Of It". Diese schweigsamen, versoffenen Kerle entsprechen in gewisser Weise dem Stereotyp des hartgesottenen Helden der klassischen Kriminalromane von Dashiell Hammett oder Raymond Chandler.
Das lange Schweigen hat in den Familien für starke Spannungen gesorgt, sowohl während des Bürgerkriegs als auch danach. Der zeitliche Abstand erlaubt den Menschen nun aber, darüber zu sprechen. Auch Brennans Vater Joe brach schließlich das eiserne Schweigen, sprach mit seinem Sohn über den Bürgerkrieg und begann sogar, wie sein Sohn darüber zu schreiben.

Roman "Resurrection Man" brach Tabus

Während Gerard Brennans Vater Jahrzehnte brauchte, um mit seinem Sohn über den Bürgerkrieg sprechen zu können, war es in Eoin McNamees Elternhaus nicht verpönt, über diese Zeit zu reden. Ganz im Gegenteil: Sein Vater hatte als Bürgerrechts-Anwalt hautnah mit einem hoch kontroversen Fall von Folter zu tun, in dem sich Irland und das Vereinigte Königreich im Jahr 1978 gegenüber standen.
Eoin McNamee erinnert sich, wie er seinen Freund, den irischen Maler Dermot Seymour, einmal in den 70er-Jahren an der Belfaster Kunsthochschule traf. Seymour zeigte plötzlich aus dem Fenster.
David Torrans
David Torrans© Deutschlandradio / Ole Siebert
McNamee: "Da gingen Soldaten über die Straße, da waren Hubschrauber in der Luft, da waren Bomben, da gab es all das, was man mit Bürgerunruhen in Verbindung bringt. Er sagte: Das sollten wir malen! Ich, als Schriftsteller, schreibe darüber."
So entstand der Roman "Resurrection Man". Die Story, die später verfilmt wurde, erzählt von den barbarischen Killern der protestantischen Miliz "Ulster Volunteer Force", den Shankhill Butchers. In den 70er- und 80er-Jahren ermordeten sie mehr als 30 Menschen, hauptsächlich Katholiken. Das Buch hatte eine enorme Wirkung, weil McNamee Tabus brach.
"Man schrieb über all das Schreckliche, das den Menschen im Bürgerkrieg zugestoßen ist. Vielleicht bin ich da manchen gegenüber etwas unfair, aber am Ende wurde eine moralische Schlussfolgerung erwartet. Dass Leute da rein gerutscht sind und ihre Fehler nun zutiefst bereuen. Aber manche Leute bedauern gar nichts. Die hatten Spaß dabei und würden es jederzeit wieder tun."
Gerard Brennan: "Diese Literatur, die jetzt aus Nordirland kommt, wird für viele Leute nützlich sein, die versuchen, unsere komplizierte Vergangenheit zu entwirren."
Vom No Alibis Buchladen, dem Treffpunkt des harten Kerns der Belfaster Krimiautoren, ist es nicht weit bis in den rauen Nordwesten der Stadt, wo abends immer noch die Tore geschlossen werden. Dort gibt es Wandbilder, so groß wie die Häuser, auf die sie gemalt sind. Sie zeigen Männer wie Bobby Sands, den hungerstreikenden IRA-Helden. Oder zwei maskierte loyalistische Paramilitärs mit Maschinengewehren. Unter dem Zeichen der Ulster Volunteer Force der Slogan "Vorbereitet auf den Frieden – Bereit für den Krieg".
Jeden Tag gehen die Kinder auf dem Weg zur Schule durch diese gewaltverherrlichende Galerie. Manchmal ist Belfast immer noch der düsterste Ort der Erde. Aber Belfast Noir bricht das Schweigen und bringt endlich Licht ins Dunkel.
Eoin McNamee: "Das reißt zwar keine Mauern ein, heilt auch nicht unbedingt Wunden. Aber das Gefühl, dass jemand Zeugnis ablegt, macht eine Gesellschaft stärker. Und dann ist da noch die schlichte Tatsache, dass man den Leuten Geschichten erzählt, die sie betreffen."
Belfast im Nordwesten: Wandbilder auf Häusern verherrlichen Paramilitärs.
Belfast im Nordwesten: Wandbilder auf Häusern verherrlichen Paramilitärs.© Deutschlandradio / Ole Siebert
(abr)
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