Belarussen in Litauen

Schockiert aber nicht sprachlos

24:28 Minuten
Demonstranten halten eine grosse traditionelle rotweisse belarussische Flagge in Vilnius, Kinder laufen darunter. Weiß-Rot-Weiß sind die Farben der Opposition. Sie fordern Freiheit für den Journalisten Roman Protasevich. 23. Mai 2021.
Mit den Farben der belarussischen Opposition: Menschen demonstrieren in Vilnius für die Freilassung von Roman Protassewitsch. © AFP / Petras Malukas
Von Markus Nowak · 03.06.2021
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Seit Beginn der Massenproteste flohen Tausende Belarussen ins Nachbarland Litauen. Sie suchten in der EU Schutz vor Repressionen. Doch die aktuellen Ereignisse rund um die Flugzeugentführung nach Minsk zeigen, dass niemand vor Lukaschenko sicher ist.
Zwei Dutzend Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer versammeln sich an einem frühlingshaften Sonntagnachmittag auf dem Lukiškės Platz in der litauischen Hauptstadt Vilnius. Zusammen besprechen sie die Route. Währenddessen geht der 39-jährige Aleksandr herum und verteilt kleine Schleifen in weiß-rot-weißer Farbe.
Mit dem Hupsignal startet die Tour durch die Gassen der Unesco-prämierten Altstadt. Vor dem Rotušė, dem historischen Rathaus von Vilnius, bleibt die Fahrradgruppe stehen und bildet einen Kreis. Aleksandr, der eben noch Schleifen verteilt hat, hat seinen Sohn auf dem Fahrradsitz gepackt, und erklärt, was es mit dem Fahrradkorso auf sich hat.

Wie weiter nach Protassewitsch? Die Flugzeugentführung hat auch die geflüchteten Belarussen in Warschau ins Mark getroffen, erzählt Felix Ackermann von Deutschen Historischen Institut Warschau. Das spüre er in allen Gesprächen. Doch trotz des Ausnahmezustandes und des Sitzens auf gepackten Koffern müssten die vor allem jungen Menschen weiterleben – und existenzielle Entscheidungen über Familiengründung oder Karriere treffen. Das ganze Interview hören Sie am Ende dieser Weltzeit.

"Es ist mehr als eine Fahrradtour", erklärt er. "Wir haben immer wieder solche Aktionen auf der Straße. Von klassischen Kundgebungen über Radtouren bis hin zum Autocorso. Jedenfalls wollen wir damit die Aufmerksamkeit auf die belarussische Sache lenken. Uns ist es sehr wichtig, dass auch die Litauer uns unterstützen. Und das tun sie! Sie hupen uns zu oder geben andere positive Zeichen."

Weiß-Rot-Weiß sind die Farben der Opposition

Aleksandr und die anderen sind Belarussen, und die weiß-rot-weißen Schleifen sowie die gleichfarbigen Flaggen an den Rädern zeichnen sie als Oppositionsbewegung gegen den in Minsk herrschenden Alexander Lukaschenko aus.
Schon vor der Präsidentschaftswahl im August 2020, die vom Westen nicht anerkannt wurde, und dem selbsterklärten Sieg von Lukaschenko galten jene Farben als das Symbol der prodemokratischen Bewegung.
Sie sind angelehnt an die Flagge der belarussischen Unabhängigkeit am Ende des Ersten Weltkrieges. In der Sowjetzeit wurde die Flagge verboten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde Weiß-Rot-Weiß für wenige Jahre wieder offiziell genutzt, doch der damals frisch gewählte Staatschef Alexander Lukaschenko hatte sie 1995 zugunsten einer an die Sowjetzeit angelehnten Flagge wieder geändert.

"Auf Fahrrädern ist man schnell"

Ein Symbol für die Rückwärtsgewandtheit des Machthabers, der seit 1994 regiert, sagt Anastazija. Dem sind sogar Fahrräder in Minsk ein Dorn im Auge, erfuhr die 42-Jährige. Denn die wurden letztes Jahr ebenfalls zu einer Form des Protests gegen das Regime genutzt. Klar, dass sie daher die Radtour durch Vilnius anführt.
Anastazija posiert sitzend für ein Foto.
Die Minskerin Anastazija kam im Dezember 2020 nach Vilnius.© Deutschlandradio / Markus Nowak
"Auf Fahrrädern ist man schnell, und mit einer geringen Anzahl von Leuten kann man so eine größer wirkende Gruppe organisieren. Und wenn die Polizei kommt, kann man einfach vor ihr wegfahren", erzählt sie.
"Wir haben uns dazu die Flaggen ans Fahrrad geheftet oder über die Schulter gezogen, viel geklingelt oder gehupt. Und alle Leute auf der Straße sagten: Hey, Zivat Belarus. Es lebe Belarus! Wir konnten so viele Orte in Minsk innerhalb kurzer Zeit anfahren. Und ab September haben sie dann damit begonnen, Jagd auf uns Radfahrer zu machen."

Durch Flucht nach Litauen der Verhaftung entkommen

Der Inhaftierung ist die 42-jährige Minskerin im Dezember 2020 entkommen, indem sie nach Vilnius floh. Rund 4000 Belarussen sind laut der NGO Freedom House seit Spätsommer 2020 nach Vilnius geflohen. Damals begann das Regime, gewaltsam gegen die Proteste vorzugehen.
Sie flohen teils über den von Litauen eröffneten sogenannten humanitären Korridor, der politisch Verfolgten einjährige Schutzvisa ermöglichte – wie den beiden Radfahrer-Protestierenden Alaxandr und Anastazija. Damit dürfen sie zwar arbeiten, werden aber Einheimischen gegenüber benachteiligt, was viele in illegale Beschäftigung oder in die Selbstständigkeit zwingt. Auch sind sie bisher bei den Anti-Corona-Schutzimpfungen nicht vorgesehen.
Das will Swetlana Tichanowskaja ändern – die Gallionsfigur der demokratischen Opposition von Belarus, die auch nach Vilnius geflohen ist. Sie hatte nach der Verhaftung ihres Mannes bei den Präsidentschaftswahlen im August 2020 kandidiert und musste gleich nach dem Urnengang das Land verlassen.

"Ich vermisse das alles"

Nun wirkt sie mit ihrem Team von Litauen aus – sowohl für die belarussischen Geflüchteten in Litauen als auch für die Regimegegner in ihrer Heimat.
Swetlana Tichanowskaja spricht bei einer Demonstration in Vilnius
"Meine Kinder fragen mich täglich, wann gehen wir zurück nach Hause", sagt Swetlana Tichanowskaja.© Deutschlandradio / Markus Nowak
"Ich liebe mein Land, meine Stadt, meine Wohnung, meine Eltern und meine Familie. Ich vermisse das alles. Meine Kinder fragen mich täglich, wann gehen wir zurück nach Hause. Da sind ihre Spielsachen und ihre Freunde. Das zu hören, tut weh", sagt sie.
Aber ich bin ja nicht die Einzige, es trifft ja Tausende Menschen. Man hat halt nur eine Heimat. Und Litauen ist nun mein Zufluchtsort. Ich erfahre sehr viel Hilfe und Unterstützung, ebenso wie die anderen Menschen, die hierhergekommen sind. Aber ich fühle mich so, dass ich auf gepackten Koffern sitze und warte und warte, dass ich bald nach Hause kann."

Sitzen auf gepackten Koffern

Das von Tichanowskaja beschriebene Gefühl kennen viele Exilbelarussen. Vilnius liegt nur 30 Kilometer entfernt von der Grenze und die Hauptstadt Minsk ist mit dem Auto in zweieinhalb Stunden zu erreichen. Es scheint so nah und ist doch unerreichbar, erklärt Svietlana Kubrak.
Die 19-Jährige floh im Oktober 2020 über den humanitären Korridor aus Belarus, weil sie an Studentenprotesten teilnahm und kurze Zeit in einer Art Untersuchungshaft saß. Gegen sie soll Anklage erhoben werden.
"Wir alle kamen hierher mit der Überzeugung, in einer Woche ist das vorbei. Oder in einem Monat. Alle tragen in sich das Gefühl, dass wir diesen politischen Krieg gewinnen und dann zurückkehren werden", erzählt sie.
"Aber auf der anderen Seite geht das Leben für uns alle auch weiter. Hier in Vilnius. Familien, die Kinder haben, müssen diese in die Schule schicken. Die Menschen müssen ja auch etwas essen und Geld verdienen. Aber wir alle hier vergessen unsere Landsleute und die Proteste in Belarus nicht."

Gemeinsame Geschichte seit dem späten Mittelalter

Die Straße "Mindaugo Gatve" ist benannt nach dem mittelalterlichen König der Litauer, Mindaugas. Dass die beiden Nachbarländer Belarus und Litauen eine gemeinsame Geschichte seit dem späten Mittelalter verbindet, zeigt sich auch in den staatlichen Symbolen.
Der schwertschwingenden Ritter auf einem Pferd reitend, der "Vytis", stammt aus jener Zeit und ist das Staatswappen Litauens. Die identische Reiterfigur nennt sich auf Belarussisch "Pahonia" und war auch in Belarus nach der Unabhängigkeit 1991 Staatswappen, wurde aber von Lukaschenko verboten.
Hier in der Mindaugo Gatve versammelten sich Anfang August, als in Belarus die Proteste losgingen, Hunderte Menschen zu Protestkundgebungen, mit weiß-rot-weißen Flaggen und dem Reitersymbol Pahonia darauf. Denn gleich gegenüber befindet sich die Botschaft von Belarus.

"Es lebe Belarus" rufen sie in Vilnius

"Zywjet Belarus", es lebe Belarus, wird skandiert und aus den Boxen dröhnen Lieder, die in der belarussischen Landesvertretung auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht gern gehört werden. Protestsongs wie das Lied "Peremen" der Sowjetrock-Legende Viktor Tsoj.
Bei fast allen Protesten dabei ist Svietlana. Die 19-Jährige sieht sich als Oppositionsführerin ihrer Altersgruppe und filmt alle belarussischen Events für ihren Telegram-Kanal, auf dem sich die Exilbelarussen organisieren.
"Ich war anfangs frustriert. Denn einerseits habe ich hier Freiheit erfahren! Aber andererseits vermisse ich meine Heimat und möchte mehr dafür machen. Ich habe darüber nachgedacht, was ich tun kann, und so begann ich verschiedene Happenings und Treffen zu organisieren und auch den Belarussen hier zu helfen", erzählt sie.
"Mache haben traumatische Erlebnisse hinter sich, und nicht alle gehen zum Psychologen, um darüber zu sprechen. Manche greifen zum Alkohol oder zu Drogen, und das ist schlimm. Ich denke, unsere Happenings helfen den Menschen, mit dem Stress umzugehen."
Svietlana posiert für ein Foto.
Die Videobloggerin Svietlana filmt alle belarussischen Events für ihren Telegram-Kanal.© Deutschlandradio / Markus Nowak
Diese Wirkung soll etwa das Fahrradkorso durch die Innenstadt von Vilnius haben oder Flashmobs vor der belarussischen Botschaft, bei denen etwa ein Dutzend Menschen weiß gekleidet auftreten und rote Luftballons aufblasen. Dieses Mal kommt die Musik nicht vom Band, sondern ist live: Ein Trompeter stimmt "Mury" an, die Hymne des antikommunistischen Widerstands der polnischen Gewerkschaft Solidaroność. Es war auch das Wahlkampflied von Swetlana Tichanowskaja im Präsidentschaftswahlkampf.

Belarussische Exil-Universität in Vilnius

Die Savičiaus Gatve in der Altstadt von Vilnius verwandelt sich im Frühjahr in eine Art Open-Air-Bar. Am Ende der Straße steht eine alte sanierungsbedürftige Kirche und ihr gegenüber das ehemalige Augustinerkonvent.
"Europos humanitarinis universitetas" steht darauf. Europäische Geisteswissenschaftliche Universität, kurz EHU. Gegründet 1992 nach der Unabhängigkeit von Belarus als Privatuniversität in Minsk, um nach dem Kollaps der UdSSR einen ideologiefreien Ort für die Wissenschaft zu schaffen.
Doch Machthaber Alexander Lukaschenko ließ sie 2004 schließen. Im Jahr darauf eröffnete sie neu in Vilnius als Exiluniversität. Geboten werden Bachelor-, Master- und Doktorandenprogramme in Sozial-, Geistes- und Rechtswissenschaften. Die Studierenden haben hier auch die Möglichkeit – anders als an belarussischen Universitäten –, am Erasmus-Programm teilzunehmen. Eine Art Kaderschmiede für die künftige Elite eines freien Belarus, sagt Almira Ousmanova, Professorin der Sozialwissenschaften.
"Der erste, der gesagt hat, dass die EHU die politische Elite des künftigen Belarus ausbilde, war ausgerechnet Lukaschenko, und zwar im September 2004. Damit wollte er deutlich machen, wieso er einen Monat zuvor die Universität schließen ließ", sagt sie.
"15 Jahre später ist es aber so gekommen. Ich will nicht sagen nolens volens. Aber als akademische Einrichtung teilen wir alle, sowohl die Fakultät als auch die Studenten, die gleichen Werte und demokratischen Ideen. Und wir haben eine besondere Beziehung zur belarussischen Situation."
So nahm die Mehrheit der EHU-Studenten, die vergangenen Sommer ihre Semesterferien bei ihren Familien in Belarus verbracht hatte, auch an den Protesten auf den Straßen teil. Mehrere wurden inhaftiert, zwei EHU-Studenten und zwei Alumni sitzen weiterhin in belarussischen Gefängnissen.

Flugzeugentführung bringt Opposition nicht zum Schweigen

Die Abendnachrichten im litauischen Rundfunk vom Sonntag vergangener Woche. International kam die EHU in die Schlagzeilen und die Causa Belarus auf die Agenda der internationalen Politik, als der Ryanair-Flug FR 4978 wegen einer angeblichen Bombendrohung in Minsk landen musste.
Der von Lukaschenko gesuchte Blogger Roman Protassewitsch saß in der Maschine und wurde verhaftet. Ebenso seine Freundin Sofia Sapega. Sie ist zwar russische Staatsbürgerin, aber – und da schließt sich der Kreis – auch Studentin der EHU.
"My trebuyem sankcji", "Wir fordern Sanktionen", skandieren die belarussischen Protestierenden. Seit den Geschehnissen vergangene Woche ist die Opposition in Vilnius wieder lauter geworden – während sie zuvor, genauso wie in Belarus, ruhiger geworden ist. Jetzt geht es mehrfach am Tag zur Demo, auch vor den Botschaften der großen EU-Länder.

"Wir können uns nicht mehr sicher fühlen"

Denn, so die junge Oppositionelle Svietlana, der Konflikt holt nun auch die Exilanten in Vilnius ein.
"Was da passiert ist, ist für alle Belarussen, die ihr Land aus politischen Gründen verlassen haben, unglaublich. Wir können uns nicht mehr sicher fühlen, auch hier in Litauen nicht. Man sollte nicht vergessen, dass hier in der Stadt das größte KGB-Büro in der EU ist", sagt sie.
"Ich hätte nie gedacht, dass Lukaschenko so verrückt ist, Menschen aus einem Flugzeug zu entführen!! Niemand weiß, was als nächstes passiert. Auch hier in Vilnius. Belarussen, die das Land verlassen haben, sind nun ängstlich. Auch ich."
Vergangenen Sonntag auf dem Lukiškės Platz. Keine Fahrraddemo mehr, sondern rund 200 bis 300 Demonstranten mit belarussischen und litauischen Flaggen. Anlass der Kundgebung ist der Jahrestag der Inhaftierung von Swetlana Tichanowskajas Mann Sergej. Liegengelassene Flipflops sollen symbolisieren, dass viele Belarussen direkt aus ihren Wohnungen von der regimetreuen Milicja abgeholt werden. Swetlana Tichanowskaja spricht in ihrer Rede den Belarussen Mut zu und dankt den Litauern für die Gastfreundschaft im Exil.

"Je suis Roman Protassewitsch"

Gemeinsam wird der Protestsong "Mury" gesungen, und auch die junge Svietlana Kubrak filmt mit dem Handy für ihren Telegram-Kanal. Das Thema Flugzeugnotlandung und die Inhaftierung von Roman Protassewitsch ist auch eine Woche nach den Ereignissen heißes Thema.
Protestierende halten ein Schild mit der Aufschrift: "Journalism ist not Terrorism / Journalismus ist kein Terrorismus".
"Journalismus ist nicht Terrorismus": Protest gegen die Inhaftierung von Roman Protassewitsch auf dem Lukiškės Platz.© Deutschlandradio / Markus Nowak
Demonstranten halten Plakate hoch: "Do not ask for Freedom. Fight for it." Man solle nicht nach Freiheit fragen, sondern für sie kämpfen. Oder: "Je suis Roman Protassewitsch". Vielleicht beginnt jetzt eine neue Phase für die Opposition in Vilnius, meint der litauische Politikredakteur Vytautas Bruveris. Denn mit der Flugzeugentführung werde der Westen in den Konflikt direkt hereingezogen.
"Dieser neuerliche 'Inzident', wenn man so die terroristische Flugzeugentführung bezeichnen mag, wurde von einem diktatorischen Staat organisiert, um eine der wichtigsten Oppositionsstimmen festzunehmen", erklärt er.
"Wenn ich sage, dass die Flugzeugentführung Litauen am meisten trifft, dann daher, weil mehr als hundert der Passagiere litauische Staatsbürger sind – und sie waren Geiseln eines terroristischen Spiels. Und als Lukaschenko erreicht hat, was er wollte, durften sie nach Hause. Das ist eine sehr klare Erinnerung daran, dass egal, was in Belarus passiert, es alle Nachbarländer und auch ganz Europa betrifft."
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