"Gott schuf sie als Mensch"
Religiös und transgender? Für manche Menschen passt das nicht zusammen. Béla Doerr will das ändern. Er hieß früher Michaela und studiert Theologie. Die Kirche solle sich aktiver mit den Zweifeln von Jugendlichen auseinanderzusetzen, fordert er, denn: "Glaube kann nur aus Zweifel wachsen."
Kirsten Dietrich: Neue Anfänge, die können ganz unterschiedlich aussehen. Mich hat interessiert, wie ist das eigentlich, wenn man sich als junger Mensch ganz neu erfindet, aber das im Rahmen einer Religion, die selbst schon 2000 Jahre auf dem Buckel hat, nämlich des Christentums, und neu anfängt im Rahmen einer Institution, die auch nur unwesentlich jünger ist, nämlich der Kirche. Und deswegen habe ich mich vor der Sendung verabredet mit Béla Doerr. Béla Doerr ist 21 Jahre alt, er ist Vorsitzender der Evangelischen Jugend in der Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, er hat gerade das Theologiestudium angefangen und begonnen, öffentlich als Transgender zu leben. Viel Aufbruch also, aber auch viel Tradition, und das in einem Lebensalter, in dem sowieso das Ausprobieren quasi erwartet wird. Ich wollte von Béla Doerr deshalb erst mal wissen, ob er sich denn überhaupt noch irgendetwas fürs neue Jahr vornehmen musste.
Béla Doerr: Hauptsächlich möchte ich meine erste Sprachprüfung in Latein abschließen, da bin ich jetzt gerade dabei, den ersten Lateinkurs zu belegen an meiner Universität, und hoffe, dass ich den abschließen kann und dann in den Zweierkurs komme, um nicht mehr jeden Morgen um 8:30 Uhr im Lateinkurs sitzen zu müssen.
Dietrich: Das heißt, die Pläne fürs neue Jahr sind vor allen Dingen ganz praktische Dinge.
Doerr: Genau.
Dietrich: Hat das neue Jahr auch so was für Sie wie ein Neuanfang oder einen Neuaufbrauch, hat das für Sie eine Bedeutung?
Doerr: Also ich hatte das Gefühl, dass ich im letzten Jahr ganz neu aufgebrochen bin, und hab das Gefühl, dass ich das genau dieses Jahr auch weiterführen möchte und freue mich auf jeden Fall auf den neuen Weg und die neuen Möglichkeiten, die ich im neuen Jahr auch haben werde.
Dietrich: Der Neuanfang im letzten Jahr, der hat vor allen Dingen damit zu tun, dass Sie vielleicht sich, aber auf jeden Fall Ihrer Umgebung gesagt haben, nennt mich nicht mehr bei dem Namen, unter dem ihr mich bisher gekannt habt, nennt mich Béla. Erzählen Sie mal ein bisschen, was das bedeutet.
Doerr: Ich hab im letzten Jahr ganz viel an mir selbst gearbeitet, hab mich ganz neu kennengelernt und hab dann festgestellt, dass ich Transgender bin, also eine Transidentität habe. Das heißt, dass ich mich nicht mehr als feminin, sondern als maskulin identifiziere. Und das war für mich ganz ein Neuanfang, dass ich zu meiner Familie, zu meinen Freunden, zu meinen Kommilitonen gegangen bin und ihnen halt mitgeteilt habe, ich möchte ab jetzt nicht mehr Michaela genannt werden, sondern Béla, was ein neuer maskuliner Name ist, und ich möchte auch mit "er" und nicht mehr mit "sie" angesprochen werden.
Doerr nutzt einen männlichen und einem weiblichen Namen
Dietrich: Das ist aber wahrscheinlich ein Prozess eher und nicht so eine ganz abrupte Veränderung, weil Sie benutzen den alten Namen ja noch, und sei es nur, um zu sagen, wer Sie nicht mehr sind.
Doerr: Genau. Also ich mach's mittlerweile so, dass häufig, wenn Leute mich noch nicht so gut kennen, dass ich mich einfach mit beiden Namen vorstelle, um so ein Gespür dafür zu bekommen, ist die Person eigentlich offen für dieses Thema oder muss ich das jetzt noch mal neu thematisieren, wissen die Leute, was es bedeutet, eine Transidentität zu haben, oder kann ich mich einfach gleich mit meinem neuen Namen vorstellen.
Dietrich: Wahrscheinlich hat das auch ganz viel mit ganz schlichtem Vokabellernen zu tun oder eine neue Sprachform zu finden und vielleicht die Sprachform auch anderen weiterzubringen einfach, damit man eben deutlich machen kann, dass so ein Begriff wie Transgender oder transident eben nicht heißt, dass irgendjemand in einem Körper vom falschen Geschlecht gefangen ist.
Doerr: Genau. Also das, was ich häufig erlebe, dass es vor allem meiner Familie oder meinen Freunden erst mal schwerfällt, den neuen Namen anzunehmen, mich nicht mehr mit "sie", sondern mit "er" anzusprechen, aber ich hab das Gefühl, das ist, genau wie Sie schon gesagt haben, das ist wie beim Vokabellernen: Man übt es einfach, und dann irgendwann geht es in den normalen Sprachgebrauch mit über.
Dietrich: Und Sie sind kirchlich sozialisiert aufgewachsen. Glauben, Bibel, Kirche, das bedeutet Ihnen etwas. Ist das für Ihren persönlichen Aufbruch eine Kraftquelle gewesen oder ist das eher etwas gewesen, was Sie auch gehindert hat?
Stand in der Bibel wirklich "Gott schuf sie als Mann und Frau"?
Doerr: Für mich persönlich war das eine ganz große Kraftquelle, wobei ich auch mit Leuten zu tun hatte, die, wenn ich ihnen davon erzählt habe, das sehr ins Negative gezogen haben, die versucht haben, sozusagen mit der Bibel zu argumentieren, dass das, was ich fühle, nicht richtig sein kann, und dann sind es Situationen, in denen ich das Gefühl hab, dass mich das dann natürlich schon stark belastet. Aber für mich persönlich, für meinen Glauben war es eigentlich so, dass ich das Gefühl hatte, dass mich das sehr gestärkt hat.
Dietrich: Gibt's da irgendwelche bestimmten Stellen oder so was, wo Sie sagen, das ist genau ein Vers, der in meine Situation hineinspricht?
Doerr: Häufig wurde mir dann gesagt, dass Gott ja den Menschen geschaffen hat, und er schuf sie als Mann und Frau.
Dietrich: Wie es im Schöpfungsbericht des Alten Testaments steht, ganz am Anfang im ersten Kapitel der Bibel.
Doerr: Genau. Und das wird dann häufig dazu verwendet zu sagen, nein, es gibt nur das Geschlecht männlich und es gibt nur das Geschlecht weiblich, und alles, was es dazwischen gibt oder Menschen mit einer Transidentität, das kann nicht richtig sein, das ist von Gott nicht gewollt.
Dietrich: Und wie reagieren Sie auf solche Anfragen?
Doerr: Wenn man später in seinem Studium dann sich mit alten Texten auseinandersetzt, dann kann man viel darüber diskutieren, ob da wirklich "Gott schuf sie als Mann und Frau" oder ob da nicht erst mal "Gott schuf sie als Mensch" steht. Ich persönliche versuche dann einfach immer zu erklären, wie es mir geht und wie ich mich fühle, und versuche dann darauf zu kommen, was für mich meine Beziehung zu Gott bedeutet in diesem Kontext einfach.
Dietrich: Um dann zu sagen, das ist etwas, was zwischen mir und Gott ist, und da können Sätze wie die in der Bibel eine Anregung sein oder ein Material, sich damit auseinanderzusetzen, aber das ist nicht die Richtschnur, die da über mich gezogen wird.
Doerr: Genau. Also für mich bedeutet halt vor allem, sich mit der Bibel auseinanderzusetzen, immer den historischen Kontext zu kennen. Und wenn man den dann auch einfach sich immer vor Augen führt, dann muss es für mich nicht unbedingt bedeuten, dass jeder Satz in der Bibel ja über mein Leben richtet oder darüber richtet, wie Gott sich zu mir verhält.
Jugendliche wollen in der Kirche eine Heimat finden
Dietrich: Sie sind aktiv in der Kirche, Sie sind aktiv in der Evangelischen Jugend, sind Vorsitzender der Evangelischen Jugend der Berlin-Brandenburgischen Kirche und haben mit dieser Evangelischen Jugend im letzten Jahr 15 Jugendthesen tatsächlich an alle evangelischen Kirchentüren in Berlin, teilweise auch in Brandenburg gehängt. Ging es da auch um Aufbruch bei dieser Aktion?
Doerr: Genau. Es war eine Aktion, wo Jugendliche sich ganz klar zur Kirche bekannt haben. Die Jugendlichen haben ganz deutlich gezeigt, uns ist Gott wichtig und uns ist unsere ganz persönliche Gottesbeziehung wichtig. In den Thesen geht es viel darum, dass Jugendliche zweifeln möchten, dass Jugendliche mit alten Bildern brechen möchten, einfach um in dieser Kirche in den einzelnen Kirchengemeinden auch eine Heimat zu finden und nicht bloß anwesend zu sein.
Dietrich: Es geht aber vor allen Dingen ganz vorrangig darum, eben einen Ort für den Glauben zu finden, es geht nicht so sehr darum, wie Kirche in welcher Form in die Gesellschaft wirken soll.
Doerr: Genau. Also wir haben uns in den letzten zwei Jahren ganz viel damit beschäftigt, was bedeutet Reformation eigentlich für uns, und da kam einfach ganz klar raus, dass für uns als Jugendliche oder junge Erwachsene die ganz persönliche Gottesbeziehung im Mittelpunkt steht.
Dietrich: Ist das eine sehr fromme Wendung? Ich erinnere mich an meine Zeit, ich bin selber in der Evangelischen Jugend groß geworden, das war aber allerdings vor 30 Jahren, und da ging es darum, Frieden zu schaffen, sich gegen diese und jene Ungerechtigkeit einzusetzen, es war also mehr ein Blick nach außen, nicht der Blick nach innen auf den persönlichen Glauben.
"Glaube kann nur aus Zweifel wachsen"
Doerr: Also zu uns kommen Jugendliche, die meistens ganz so auf der Sinnsuche sind. Sie suchen nach sich selbst und sie suchen nach Gott. Und sie machen dann in Kirchengemeinden häufig Erfahrungen, wo ihnen das Gefühl gegeben wird, es ist schön, wenn Jugendliche irgendwie mit anwesend sind, aber wenn Jugendliche dann auch noch Arbeit bedeuten, dann, ja, müssen Jugendliche erst mal irgendwie zurückstecken oder sie müssen um Räume kämpfen, dass sie sich überhaupt treffen können. Und deswegen ist sozusagen dieser Blick auf Gott das, was bei ihnen gerade so das Wesentliche ist, das, was es ausmacht.
Dietrich: Betonen Sie deswegen in Ihren Jugendthesen auch so sehr den Stellenwert des Zweifels?
Doerr: Genau. Also für uns kann Glaube einfach nur aus Zweifel wachsen. Jugendliche machen häufig die Erfahrung, dass sie mit Fragen in die Kirchengemeinden kommen und ihnen dann gesagt wird, ja, aber das ist das Bild, was wir von Gott haben, und so muss das sein. Und dann stoßen sich Jugendliche aber häufig daran den Kopf und sagen, na ja, aber das hilft mir einfach in meinen persönlichen Zweifeln nicht weiter. Und deswegen sind wir der Meinung, muss es einfach eine ganz aktive Form des Zweifels und des Austauschs über Zweifel geben.
Dietrich: Das hat ja fast ein bisschen was Absurdes. Sie fordern von der Kirche das Recht, als Jugendliche Gott begegnen zu können und eine persönliche Gottesbindung aufzubauen, und das fordern Sie von der Institution, die eigentlich deswegen entstanden ist, um genau das zu ermöglichen.
Doerr: Wir bekommen einfach mit, dass Zweifeln nicht unbedingt heißt, man geht in den Gottesdienst, man setzt sich rein, man hört sich eine Stunde lang an, was der Pastor oder die Pastorin zu sagen hat, und dann geht man wieder nach Hause. Für uns heißt Glaube, aktiv etwas zu machen, das heißt, Jugendliche wollen einfach ganz aktiv mit eingebunden werden in Gottesdienste, in Kirchengemeinden und dann nicht bloß an zweiter Stelle stehen.
Dietrich: Was heißt denn das konkret, haben Sie da bestimmte Formen vor Augen, die Ihnen angemessener erscheinen?
Die Kirche als Ort für Fragen und Zweifel
Doerr: Wir machen häufig auf unseren Landesjugendversammlungen etwas, das nennt sich Open Space, das heißt, jede und jeder darf Themen einbringen, die ihn oder sie gerade beschäftigen, und dann gibt es kleine Gesprächsgruppen. Und dann wird sich über ein Thema ganz aktiv ausgetauscht, teilweise über bloß zehn Minuten, teilweise sind es Zwei-Stunden-Gespräche. Und so können die Jugendliche einfach sich selbst damit auseinandersetzen, was ihnen wichtig ist.
Dietrich: Und das ist eine Form, von der Sie denken, dass das auch der Kirche, der ganzen Kirche gut tun könnte?
Doerr: Ich glaube einfach, dass es grundsätzlich gut tut zu schauen, was brauchen die Menschen, die zu uns in die Kirchen kommen.
Dietrich: Ist für Sie als junger Transgender, junger Mensch, Jugendlicher die Kirche eher eine Heimat oder eher ein Gegenüber?
Doerr: Für mich persönlich ist die Kirche definitiv eine Heimat, und deswegen ist es mir auch so wichtig, einfach an dieser Heimat weiterzuarbeiten. Ich finde, das ist genauso, wie wenn man in eine neue Wohnung zieht – dann muss man als Erstes auch gucken, wo möchte ich mein Bett hinstellen, wo möchte ich mein Regal hinstellen, wann fühle ich mich zu Hause. Und ich finde, genauso ist es auch in der Gemeinde.
Dietrich: Sie haben jetzt selber angefangen, Theologie zu studieren, mit welcher Perspektive machen Sie das?
Doerr: Ich möchte Theologie studieren und dann später in die Transberatung gehen, also nicht nur Transberatung, sondern einfach eine Beratungsstelle für queere Jugendliche, das heißt, die genau mit solchen Problemen oder auch Fragen, wie ich sie hatte oder habe, ja, dass sie dann einfach eine Anlaufstelle haben, gerade auch in der evangelischen Kirche.
Dietrich: Und warum studieren Sie dann Theologie und nicht zum Beispiel Sozialarbeit oder Psychologie? Was kann die Theologie dafür bieten?
Doerr: Ich finde einfach, dass die Theologie ganz viele Antworten gibt oder ganz viele Anregungen. Wenn man sich mit der Bibel beschäftigt, dann steht da einfach so viel drin, was für unser Leben wichtig sein kann, und ich finde, genau darum geht es einfach für mich.
(mw)
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.