Bekleidungsindustrie

Mode als Spiegelbild der Gesellschaft

Die Ausstellung "My name is Prince" zeigt unter anderem einen Kleiderschrank mit Kostümen des US-Sängers Prince.
Kleidung im Überfluss © dpa/Ray Tang/ZUMA Wire
Gerd Müller-Thomkins im Gespräch mit Dieter Kassel  · 30.01.2018
Mode-Experte Gerd Müller-Thomkins beklagt angesichts der Massenproduktion von Kleidung deren Werteverlust. Er hofft darauf, dass sich ähnlich wie bei Nahrungsmitteln in Zukunft ein Bewusstseinswandel durchsetzen könnte.
Jeder Deutsche kauft im Schnitt 60 neue Kleidungsstücke im Jahr und trägt diese nur halb so lang wie noch vor 15 Jahren, sagen Konsumstudien. Bis 2030 erwartet die internationale Modestudie "Pulse of the fashion industry" ein weiteres Wachstum von 63 Prozent. Genutzt wird die neue Kleidung aber immer weniger. Fast 40 Prozent der Kleidung in deutschen Kleiderschränken wird selten oder nie getragen, zeigt eine Umfrage von Greenpeace aus dem Jahr 2015. Auch die Secondhand-Märkte sind angesichts der Kleiderberge weltweit übersättigt.
Gerd Müller-Thomkins, Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts
Gerd Müller-Thomkins, Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts © picture alliance/dpa/Deutsches Mode-Institut

Schaufenster-Deko wechselt ständig

Einen Wertverlust von Bekleidung als Kulturgut beklagt der Modeexperte Gerd Müller-Thomkins im Deutschlandfunk Kultur. "Es wird immer mehr und immer schneller produziert", sagte der Geschäftsführer des Deutschen Mode-Instituts in Köln. "Die Schaufenster wechseln wöchentlich mindestens, wenn nicht zwei Mal."
Bekleidung sei in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern preiswerter. "Hier wird der größte Umschlag produziert, aber hier entstehen auch Müllberge."

Die Instagram-Gesellschaft

Die Konsumenten wollten sich individuell darstellen, sagte Müller-Thomkins. Dies geschehe in einem Umfeld der fortgesetzten Medialisierung. "Das hat irgendwann vielleicht mal mit Fernsehen und Bezahlsendern angefangen, aber jetzt sind wir bei Social Media", sagte der Modeexperte. "Jetzt sind wir bei einer Instagram-Gesellschaft, die Bilderwelten produziert." Dadurch gebe es einen ständigen Wechsel von Selbstvisualisierung und Kommunikation, der natürlich von Bekleidung begleitet werde.
"Sie können sich unter Umständen, wenn sie sich täglich posten, auch nicht immer in den gleichen Klamotten, sagt man heute schon – das ist ja schon ein abwertender Begriff - also in der gleichen Mode darstellen." Das bedeute, dass wir sprachlich und visuell einer gewissen ästhetischen Inflation unterlägen, die immer weiter angetrieben werde. Müller-Thomkins setzt aber darauf, dass es ähnlich wie in der Nahrungsmittelindustrie zu einem Bewusstseinswandel kommen könnte.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Mode ist ja eigentlich ein sehr sinnliches Thema, mit einigen Zahlen werde ich jetzt aber jeden Anflug von morgendlicher Sinnlichkeit vertreiben. Die weltweite Bekleidungsproduktion hat sich von 2000 bis 2014 verdoppelt, jeder Deutsche kauft inzwischen im Schnitt 60 Bekleidungsstücke pro Jahr, getragen werden sie aber in Deutschland nur noch ungefähr halb so lange wie vor gerade mal 15 Jahren.
Und das wird auch so weitergehen, denn laut durchaus seriösen Prognosen wird die Textilproduktion bis 2030 um 63 Prozent steigen – weltweit, das heißt, die Ursachen dafür liegen auch in der Bevölkerungsentwicklung und wachsendem Wohlstand in den Schwellenländern. Aber in den Ländern, in denen sich die Menschen Klamotten eigentlich immer schon leisten konnten, also in Deutschland beispielsweise, wird Mode tendenziell immer mehr zum Wegwerfprodukt – ein Thema, über das wir jetzt mit Gerd Müller-Thomkins reden wollen. Er ist der Geschäftsführer des Deutschen Modeinstituts. Schönen guten Morgen, Herr Müller-Thomkins!
Gerd Müller-Thomkins: Guten Morgen nach Berlin, guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Also es ist völlig klar, dass sich hier Umwelt- und andere Fragen stellen, aber aus Sicht von Bekleidungsproduzenten sind das alles doch eigentlich gute Nachrichten, oder etwa nicht?
Müller-Thomkins: Nein, das müssen sie nicht unbedingt sein oder das können sie vor allen Dingen nicht sein in einer Zeit, in der Bekleidung zwar vom Volumen her, von der Masse, von der Menge her wächst, aber der Wert permanent schrumpft, das heißt, auch der Umsatz pro Einzelteil relativiert sich natürlich über eine solche Entwicklung. Wir sprechen da zu Recht von Down Traging, vom Wertverlust an Bekleidung oder der Bekleidung als Kulturgut. Das heißt, es wird immer mehr und immer schneller produziert.
Die Schaufenster wechseln wöchentlich mindestens, wenn nicht zweimal, und wie gesagt, der Verkaufspreis steigt deswegen nicht. Bekleidung ist in Deutschland mit Sicherheit sogar im Verhältnis zu europäischen Anrainerstaaten günstiger im Vergleich und günstiger auch im weltweiten Vergleich, das heißt also, hier wird der größte Umschlag produziert, aber hier entstehen auch Müllberge wie andernorts. In den Vereinigten Staaten, wenn wir da rüberschauen, dann ist die Entwicklung dort schon weiter.
Ich will da gar keine Zahlen nennen, aber man kann sehen, dass sich hier eine Entwicklung fortsetzt, die bis hin in die von Ihnen eben genannten und zitierten Schwellenländer geht. Auch da steigt natürlich der Bedarf an Mode, an Bekleidung mit dem wachsenden Wohlstand, und das kann man den Menschen da und will man ja auch nicht verwehren. Das ist vergleichbar mit anderen Entwicklungen – bei Lebensmitteln, in der Autoproduktion und -nutzung – und deswegen auch der Abfall, der dadurch entsteht.
Eine Verkäuferin kniet vor einem Kleiderständer mit vielen kurzen Hosen. 
Gerade große Marken locken ihre Kunden mit immer neuen Billigangeboten. Eine Verkäuferin reduziert die Preise von Hotpants© AFP/Anne-Christine Poujoulat

Globalisierung der Bekleidungsindustrie

Kassel: Ich habe aber in Deutschland gerade in den letzten Jahren noch mal eine Entwicklung festgestellt, die mich doch ein bisschen überrascht und die ich gar nicht so leicht zu erklären finde: Ketten-, auch Einzelläden, die besonders billige Bekleidung verkaufen, gibt es schon sehr lange, und die hatten oft natürlich Kunden, die gesagt haben, ich kann mir auch nicht mehr leisten, und die auch nicht besonders stolz darauf waren, dass sie gerade in diese Läden gegangen sind. Und dann kam eine große weltweit aktive irische Modekette, die inzwischen etliche Filialen in Deutschland hat, und da habe ich das Gefühl, da gehen Leute hin, die sogar sagen, ich interessiere mich für Mode, ich finde das toll, jeden Tag was anderes an zu haben, aber ich sehe es trotzdem nicht ein, mehr als sieben Euro für ein T-Shirt auszugeben.
Müller-Thomkins: Ja, man muss jetzt natürlich betrachten, was sind die Rahmenbedingungen dieser Entwicklung in der Gesellschaft oder auf der gesellschaftlichen Ebene. Parallel zur Globalisierung in der Bekleidungsentwicklung, des Vertriebs und des Konsums sind große Systeme entstanden, wie die von Ihnen beschriebenen, aber auch andere.
Das sind vertikale Unternehmen, die in sich schon Beschleunigungsfaktoren in der Umschlaggeschwindigkeit von Kollektionen haben. Dazu kommt aber auch der Konsument, der auch heute immer noch sehr bezeichnender Weise als Verbraucher verunglimpft wird, also derjenige, der quasi die finale Entwertung von Bekleidung oder von Konsumgüterprodukten erledigt sozusagen, und der hat sich individualisiert. Der möchte sich heutzutage sehr individuell, sehr persönlich im Ausdruck seiner selbst darstellen, und das in einem Umfeld der fortgesetzten Medialisierung.
Das hat irgendwann vielleicht mal mit Fernsehen und Bezahlsendern angefangen, aber jetzt sind wir bei Social Media, jetzt sind wir bei einer Instagram-Gesellschaft, die Bilderwelten produziert und publiziert, die auch über Facebook dann noch kolportiert werden. Das heißt also, wir haben einen ständigen Wechsel an Selbstvisualisierung und Kommunikation, der natürlich von Bekleidung begleidet wird.
Das heißt, Sie können sich unter Umständen, wenn Sie sich täglich posten, auch nicht immer die gleichen, ja, Klamotten sagt man heute schon, das ist ja schon ein abwertender Begriff, also in der gleichen Mode darstellen. Also wir sehen, sprachlich, aber auch visuell unterliegen wir hier einer gewissen ästhetischen Inflation, die auch durch die Umschlagsgeschwindigkeit immer weiter angetrieben wird.

Überdruss am Überfluss

Kassel: Aber ist das nicht ein erstaunlicher Widerspruch, Sie haben die sozialen Medien ja gerade angesprochen, dass es wahrscheinlich mehr Fashion-Blogs, mehr Austausch – seriösen und weniger seriösen, spaßigen und ernsten – über Mode gibt denn je zuvor, dass aber auch eigentlich der Spaß an der Mode eher nachgelassen hat.
Müller-Thomkins: Na ja, das ist ja häufig, wenn der Überdruss am Überfluss eventuell einsetzt. Wir brauchen da eigentlich auch nur in das hineinzuschauen, was uns noch mehr berührt, das ist die Ernährung, die Lebensmittel. Und da haben wir eine Entwicklung hinter uns, die wir in der Mode hoffentlich noch vor uns haben, nämlich die Wertschätzung, nicht nur der Wertschöpfungskette, also auch derjenigen, die an der Entwicklung von Lebensmitteln und Bekleidung beteiligt sind ganz wesentlich, sondern eben auch dieses Lebensmittel als Lebensgut an sich.
Und wenn wir uns heute vielleicht nur noch einmal, zweimal in der Woche ein Bioei leisten, was dann aber auch 1,20 Euro kosten darf, dann ist das etwas, was wir uns für die Bekleidung auch noch vorschreiben sollten.
Eine junge Frau richtet am 18.01.2017 in Berlin bei der Modemesse Fashiontech im Rahmen der Berliner Modewoche eine Kreation des Designers Anouk Wipprecht aus den Niederlanden. Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Eine junge Frau richtet bei der Berliner Modewoche eine Designer-Kreation. © picture alliance/dpa/Britta Pedersen

Vergleich mit Lebensmitteln

Kassel: Aber wenn Sie jetzt gerade den Vergleich mit den Lebensmitteln ziehen, man kann es vielleicht auch mit ein, zwei anderen Branchen tun, es gibt viele Branchen, in denen inzwischen ganz billig funktioniert und ganz teuer funktioniert auch wieder, nur alles dazwischen nicht mehr so richtig. Das zeichnet sich in der Mode langsam auch ab, oder?
Müller-Thomkins: Ja, das ist in der Mode wie in der Gesellschaft schon seit Längerem der Fall. Die Mode ist ja nonverbale Kommunikation, auch ein Spiegelbild von gesellschaftlichen Entwicklungen. Wenn wir die Spaltung der Gesellschaft in reich und weniger reich oder reich und arm, wenn wir die Politik betrachten, die sich ja auch polemisch polarisiert in Fraktionen, die keine Mitte mehr vorhalten, und wenn wir vielleicht selbst in uns gehen und feststellen, dass uns auch hier und dort die Mitte fehlt, dann ist das auch etwas, was sich in der Mode widerspiegelt.
Das heißt, klar, wir haben eine Entwicklung auf der einen Seite hin zu Wertigkeit, das sieht man auch sehr deutlich an der Mode selbst, im Ausdruck der Mode. Also wir sprechen hier wieder von Samt und von einer neuen Weiblichkeit, von einer Eleganz und von Wohlangezogenheit auf der einen Seite Auf der anderen Seite von einer Trashisierung, die beispielsweise dann durch Bewegungen aus dem Rap forciert wird, und der Hipster wird heute schon verunglimpft, also derjenige, der sich sophisticated anzieht.
Wir haben eine Spaltung auf der Ebene von Gesellschaft, die sich in der Mode und auch im Konsum von Mode darstellt. Wir unterliegen dem Verlust der Mitte, wir müssen zur Ruhe kommen, auf jeden Fall. Wir müssen unser Bewusstsein wandeln, und das muss auf vielen Ebenen stattfinden. Ich denke, wir sollten vielleicht auch in der Schule wieder Fächer einführen, die sich mit Ernährung und auch mit Bekleidung beschäftigen, damit da mehr Bewusstsein entsteht und wir nicht nur dem Konsumdruck und dem Vertriebswollen multinationaler Konzerne unterliegen – mit den Folgewirkungen, die dazugehören.
Kassel: Gerd Müller-Thomkins, der Geschäftsführer des Deutschen Modeinstituts, über den Trend zur Mode als Wegwerfartikel und seine etwas optimistische Hoffnung, dass das auch nur ein vorübergehender Trend ist. Ich finde es optimistisch, Herr Müller-Thomkins, aber ich wünsche mir natürlich trotzdem, dass Sie recht haben mit dieser Hoffnung. Danke Ihnen sehr fürs Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema