Bekanntschaft mit dem Tod

31.08.2009
100 Jahre alt sollte ein Mensch nicht werden. Denn 100 Geburtstagskerzen passen nicht auf einen Kuchen. Der Ich-Erzähler des Romans "Herr Adamson" wird 94 und das ist – kerzentechnisch betrachtet – schon zu viel.
Wir schreiben den 21. Mai 2032. Zufällig wird das auch der 94. Geburtstag des Autors Urs Widmer sein, dessen Lebensdaten mit denen des Erzählers übereinstimmen. Und er sieht auch so aus: ein alter Mann mit Schnauzbart und wirren Haaren um einen Glatzkopf herum. Die Geschenke, die er von Frau, Tochter und Enkelin bekommt, sprechen eine deutliche Sprache: Ein Miniaturboot mit einem schwarzen Fährmann im Heck; ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift "Gute Reise"; Brot und Wein als Wegzehrung. Einen Tag später sitzt er im verwunschenen Garten seiner Kindheit und spricht eine Geschichte auf Band, um sein Leben zu beschließen. Diese Geschichte, in der es um den Tod geht, führt in die frühe Kindheit zurück. Der Tod ist nicht etwas, das am Lebensende warten würde: Er ist der Begleiter von Anfang an. Und so liest sich dieser Roman über eine Bekanntschaft mit dem Tod zunächst wie ein Kinderbuch.

Damals war der Erzähler acht Jahre alt, als ihm in eben diesem Garten ein seltsamer Herr begegnete: Herr Adamson. Die Leser begreifen schneller als der Junge, dass es sich um einen Toten handelt. Herr Adamson erklärt die Sache so: Wenn ein Mensch im selben Augenblick stirbt, wie ein anderer geboren wird, dann gehören diese beiden schicksalhaft zusammen, und der Lebende kann diesen einen Toten sehen. Von ihm wird er einst abgeholt werden, wenn seine Stunde gekommen ist. Deshalb müssen wohl auch der Autor und sein Erzähler im selben Moment geboren sein: Sonst wüsste der Autor ja nichts von all dem. Leben heißt erleben und davon erzählen. So einfach ist das. Und wenn das Erzählen endet, ist das Leben aus. Deshalb schreibt Widmer so unermüdlich Buch um Buch.

Hier aber läuft etwas schief, denn der Erzähler gerät – in Begleitung von Herrn Adamson – schon als Kind in die Welt der Toten. Dort tritt er eine bedrohliche Reise in eine schleimige, von tristen Toten verstellte Gegend an, kämpft sich durch finstere Schlüchte, zähen Schlamm und stürmische Schwerelosigkeit, bis er im griechischen Mykene wieder ans Tageslicht gespült wird. Ein Dorfpolizist bringt ihn auf dem Gepäckträger seines Fahrrades in Windeseile ins heimatliche Basel zurück. Zwei Tage dauerte das Abenteuer, das damit endet, dass die besorgten Eltern einen Kinderpsychiater aufsuchen.

Urs Widmer ist der Großmeister der Fantasie. Er ist gelegentlich aber auch ihr Opfer. So schön es ist, wenn erzählerisch auch das Unwahrscheinlichste möglich gemacht wird, so elegant er die Fäden seiner Gespinste zu verknüpfen versteht, so losgelöst, so beliebig, so ausufernd wirkt diese poetische Welt. Da wird im weiteren Fortgang der Geschichte noch der große Ausgräber Schliemann als raffgieriger Angeber entlarvt, die Sprache der Navajo-Indianer parodiert, eine Altersliebe (mit Herrn Adamsons auch schon alt gewordener Enkeltochter eingebaut) und ein Massaker an Indianern aufgeklärt – nebst vielen anderen liebevollen Details. Widmer macht aus Kindheitsträumen – dem Graben in der Erde, der Indianersehnsucht, dem Reden in einer ganz und gar eigenen Sprache – einen Lebensroman. Und doch steckt im Kindheitsmythos, der hier zugrunde liegt, auch viel Kitschiges. Der ewige Garten ist ein reichlich abgedroschener Ort. Die Schicksalhaftigkeit, die über allem waltet, ist ebenso großer Unsinn wie das Schreckbildnis der fröstelnden Toten, die auch die Lebenden frösteln lassen, wenn sie – in der U-Bahn etwa - durch sie hindurchgehen. "Herr Adamson" ist ein kleines, gedrechseltes Kunstwerk, das man besser nicht bei Licht betrachtet. Denn dann zerfällt es in seine Einzelteile.

Besprochen von Jörg Magenau

Urs Widmer: Herr Adamson
Roman
Diogenes, Zürich 2009
200 Seiten, 18,90 Euro