Bekannte Thesen

Rezensiert von Günter Müchler |
Der Historiker Paul Nolte bietet sich als Beobachter und Anwalt des gesellschaftlichen Wandels auch in seinem neuesten Buch an. Die Risiken der Globalisierung sind für ihn Herausforderung, nicht Bedrohung. Noltes Erkenntnisse sind plausibel und gut lesbar - klingen allerdings nicht gerade unbekannt.
"Wir haben uns die Utopien abgeschminkt". So äußerte sich kürzlich der Historiker Paul Nolte im Berliner "Tagesspiegel". Tatsächlich sucht man Utopien in den Veröffentlichungen des mit zweiundvierzig Jahren noch jungen, soeben von Bremen an die Berliner FU gewechselten Wissenschaftlers vergeblich. Nolte letztes Buch, das große Aufmerksamkeit erlangte, trug den Titel "Generation Reform". Und wenn es diese Generation wirklich gibt, eine Generation mit selbst verfügtem Traum-Verbot, dann ist Paul Nolte ihr Idealtypus.

Als Beobachter und Anwalt des gesellschaftlichen Wandels bietet sich Nolte auch in seinem neuesten Buch an. Es heißt "Riskante Moderne", und Assoziationen mit Ulrich Becks "Risikogesellschaft" sind durchaus gewollt. Allerdings versteht sich Nolte eher als ein Antipode zu Beck, dessen im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe erschienener Bestseller die Ängste einer ganzen Altersgruppe versammelte und zum Brevier der Ökologiebewegung wurde.

Becks Buch buchstabierte die Moderne als eine umfassende Bedrohung. Zwanzig Jahre später bestreitet Nolte die Risiken einer technologisch hochgerüsteten, komplexen Gesellschaft, die sich zudem im Bezugsrahmen der Globalisierung zu behaupten hat, keineswegs. Sie sind für ihn aber nicht Bedrohung, sondern Herausforderung. Dementsprechend ist der Grundton, den das Buch anschlägt, Dur. So heißt es in der Einleitung des 300-Seiten-Oeuvres:

"Dieses Buch schlägt sich vorbehaltlos, aber hoffentlich nicht vordergründig, auf die Seite der Optimisten. Das ist mit Blauäugigkeit nicht zu verwechseln. Denn am Anfang steht immer eine nüchterne Bestandsaufnahme. Warum hat sich Deutschland mehr als andere, vergleichbare Nationen aus dem Vertrauen in die Zukunft verabschiedet, warum sind bei uns Deutschen die Ängste vor Herausforderung der Moderne geradezu lähmend übermächtig geworden?"

Nach dem Ende des Kalten Krieges sind die Herausforderungen nicht weniger zahlreich geworden. Neue traten hinzu, beispielsweise der internationale Terrorismus. Auch Naturkatastrophen beunruhigen uns mehr und mehr, weil unsicher ist, ob sie Zufall oder das Ergebnis veränderter Umweltbedingungen sind. Nicht gewachsen ist in den letzten zwei Jahrzehnten nach Auffassung Noltes die Souveränität im Umgang mit dem Risiko. Eine "Grundmentalität des Aufschubs" habe sich verfestigt, überall auf der Welt.

"Dennoch haben sich die Deutschen – wenigstens darin international noch Spitze – der Strategie der Risikovermeidung auf beispiellose Weise hingegeben. Ein klassisches Sicherheitsdenken hat den Sieg davongetragen, wir sind ein risikofeindliches Land geworden. Die Risikogesellschaft hat sich in eine Risikovermeidungsgesellschaft verwandelt."

Wann haben wir die Moderne verloren? Nolte offeriert einen ganzen Strauß von Antworten. Im Kern richtet er die Lanze auf Achtundsechziger und Grüne, die Protagonisten der Postmoderne. Sie haben sich durch Verinnerlichung und Technikfeindlichkeit letztlich von der Politik als Gestaltung abgewandt und die Bestandsverwaltung befördert. So konnte, folgert Nolte, "die Diagnose von den Grenzen des Wachstums zur self-fulfilling prophecy werden."

Das klingt alles ziemlich plausibel und bekannt. Man nehme nur den jüngsten Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst und den Kampf gegen eine geringfügige Erhöhung der Arbeitszeit. Jahrzehntelang wurde von Seiten der Gewerkschaften die Politik der Arbeitszeitverkürzung als Allheilmittel gegen die Massenarbeitslosigkeit verkauft. Jahrzehntelang hat das Mittel nicht gewirkt, doch auch das Erreichen der Fünf-Millionen-Grenze bei den Arbeitslosen führt nicht zu einem Wechsel der Arznei.

"Dornröschen-Krankheit" würde Nolte sagen, der zu Märchenmetaphern neigt. Wer das Buch durchblättert, ist immer wieder geneigt, sich bestätigt zu fühlen. Sonderbar glatt gleitet Noltes Feder dahin. Die Beschreibung der Krise ist allumfassend: Wachsende Unterschiede zwischen Arm und Reich, Rentenloch, demographische Katastrophe, Migration, Bildungsmisere, Generationenkonflikt. Der Systemkritiker spart kein Phänomen aus.

Aber das Relief ist flach. Nolte schürft seine Erkenntnisse gewissermaßen im Tagebau. Tiefenbohrungen finden nicht statt. Es fehlen die Stützbalken der Empirie. Ein paar Zahlen vertrüge das Buch. Und wer darauf gehofft hatte, Nolte würde Thesen, die seine "Generation Reform" zur spannenden Lektüre machten, weiterführen und mit Material unterfüttern, sieht sich getäuscht.

In der "Generation Reform" hatte Nolte die Herausbildung einer neuen Unterschicht apostrophiert. Eine Unterschicht ohne Leidensdruck, sich selbst genügend, ohne Vorbild und Aufstiegsambition. Eine neue Klasse, die sich zuvörderst nicht materiell definiert, sondern durch Bildungsferne, durch eine deprimierende Esskultur und den maßlosen Gebrauch des Unterschichtenfernsehens.

Nolte greift diese These nur beiläufig wieder auf. Im Eiltempo durchmisst er die Topographie der postmodernen Gesellschaft, und wenn er einmal innehält, dann, um Pirouetten zu drehen. Das Buch verdankt seinen Umfang in nicht geringem Maße Redundanzen.

In seinem "Plädoyer für eine Wiedergewinnung der Moderne" widmet sich Nolte auch den großen politischen Lagern. Was ist von ihnen zu erwarten? Am größten sind seine Zweifel bei der Sozialdemokratie. Ihr empfiehlt er ein neues Menschenbild; ihr hält er vor, die Reformpolitik abgebrochen zu haben.

"Die Reflexe der Angst, der Schutzsuche vor den Zumutungen einer dynamisch, und gewiss in mancher Hinsicht bedrohlich sich wandelnden Welt haben wieder die Oberhand gewonnen."

Den bürgerlichen Parteien traut Nolte bei allen Einschränkungen am ehesten zu, das Projekt der Bürgergesellschaft voranzutreiben. Viel verspricht er sich von Angela Merkel, die er mit dem Etikett "anti-konservativ" versieht. Ihre Vision ist für ihn

"die Vision einer offenen Gesellschaft, jenseits von ungerechtfertigter Hierarchie, jenseits der Fesselung von Individuen, von Verkrustung und Erstarrung. Auf subtile Weise mag man darin sogar eine Fortsetzung des rot-grünen Projekts sehen, das ebenfalls im Zeichen einer – gleichwohl ganz anders akzentuierten – offenen Gesellschaft angetreten ist."

Die Perspektive, die Nolte sieht, liegt jenseits des Konsums. Von einer "investiven Gesellschaft" ist im Schlusskapitel die Rede. Sie rückt ab vom Konsum und Ressourcenverbrauch und setzt auf Bürger, die Kompetenzen und Fähigkeiten für ihr privates Leben, aber auch für die Gemeinschaft zur Verfügung stellen. Bei Nolte ist die neue, tragende Schicht fest verortet:

"Bürgerliche Gesellschaft ist im Kern ein Projekt von Mittelklassen, von mittleren Schichten der sozialen Hierarchie gewesen, nicht in einem strengen, exklusiven, abgeschotteten Sinne, sondern im Sinne einer offenen Mitte, als Kristallisierungskern, an den anderes sich anlagern kann. Es sind nicht die Armen und auch nicht die Superreichen, die sich zuerst und beständig engagieren."

Nach rasch bewältigten 300 Seiten wird man Paul Nolte bescheinigen, abermals ein gut lesbares Buch geschrieben zu haben. Der nüchterne, ideologiefreie Blick und die Weigerung, in den Chor depressiver Weltschau einzutreten, machen es sympathisch. Indessen werden Noltes Erkenntnisse das Publikum schwerlich wie eine Erleuchtung treffen. Sie vermitteln ihm jedoch das positive Gefühl, mit seiner Meinung nicht allein zu stehen.

Paul Nolte: Riskante Moderne – Die Deutschen und der neue Kapitalismus
C. H. Beck Verlag, München 2006