Bei Promotionen "ein Prozess in Gang gekommen"

Wolfgang Marquardt im Gespräch mit Ulrike Timm · 27.10.2011
Für promovierende Wissenschaftler muss die Unschuldsvermutung gelten, sagt Professor Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrats. Doch Qualitätssicherung bei Rekrutierung, Betreuung und Prüfung der Promovenden sei dringend erforderlich.
Ulrike Timm: Vielleicht hat der Plagiatsfall Guttenberg für die deutsche Universitätslandschaft sein Gutes: Er hat mächtig Staub aufgewirbelt – intern. Solch eine Krise kann hoffentlich das System mal kräftig durchlüften. Ob das tatsächlich so ist und wie es damit steht, das wollen wir besprechen mit Wolfgang Marquardt, Vorsitzender des Wissenschaftsrats, und Professor für Prozesstechnik an der Technischen Hochschule Aachen. Ich grüße Sie!

Wolfgang Marquardt: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Marquardt, was ist denn seitdem konkret passiert, jenseits des Gelöbnisses, es besser zu machen?

Marquardt: Sie wissen, dass die Veränderung von Rahmenbedingungen im Bereich der Hochschulen sich nicht mit einer hohen Dynamik ändert. Es sind Beratungsprozesse, die in Gruppenuniversitäten sozusagen von unten geführt und dann auch zu einem Beschluss geführt werden müssen, und es sind in einigen Universitäten intensive Diskussionen angestoßen worden. Es ist aber nicht so, dass wir jetzt in der Fläche sozusagen eine Veränderung der Qualitätssicherungsprozeduren bereits erleben oder feststellen können.

Timm: Das heißt, es ist im Grunde alles wie vorher, nur ein bisschen lauter?

Marquardt: So würde ich das nicht sagen. Ich habe, glaube ich, schon angedeutet, dass ein Prozess in Gang gekommen ist, der von allen möglichen Akteuren auch befördert werden muss – und der Wissenschaftsrat ist da sicher ein Akteur, der den Prozess befördert und befördern will –, um dann schließlich auch wirklich eine Veränderung herbeizuführen. Aber die Zeitskalen sind nicht so, dass man in einigen Monaten, ich sage mal, eine grundlegende Änderung der Qualitätssicherung des gesamten Promotionsprozesses – und um den geht es eigentlich, also Prozess mein ich jetzt von der Rekrutierung der Doktoranden, der Betreuung der Doktoranden bis hin zur Prüfung der Promotionsarbeit.

Timm: Trotzdem zeichnen sich innerhalb der Universitätslandschaft ja zwei Grundhaltungen ab, ich skizziere die mal: Die eine sagt, lasst an der Promotion nicht rütteln, schränkt die Freiheiten nicht ein, gebt schon gar keine Professorenprivilegien ab, also nicht zu viel Kontrolle. Die andere Haltung sagt: Nutzt alles, was irgendwie möglich ist, Software, Gutachter, Graduiertenschulen mit Präsenzpflicht für Doktoranden, damit die Glaubwürdigkeit wieder hergestellt wird. Das sind so etwa die beiden Pole. Dass es dazwischen viele Schattierungen gibt, ist klar. Aber welchen Rat gibt denn der Wissenschaftsrat?

Marquardt: Ich sehe diesen Gegensatz – Freiheit oder Kontrolle –, den sehe ich eigentlich nicht so. Zunächst mal müssen wir von einer Unschuldsvermutung im Grunde ausgehen und davon ausgehen, dass Wissenschaftler auch ihr Geschäft ernst nehmen und ehrlich umgehen mit den Dingen, die sie tun, und auch hohe Qualitätsmaßstäbe an sich selbst legen. Davon möchte ich ausgehen, und ich denke, es ist auch richtig, davon auszugehen, weil die weit übergehende Mehrzahl natürlich der Arbeiten diesen Standards auch genügt. Trotzdem ist es so, dass wir 25.000, ganz grob, Promotionen pro Jahr haben. Das ist schon eine recht große Zahl, und dass in einem solchen großen System eine homogene Qualitätssicherung eine Aufgabe ist, die man nicht mit links machen kann, das liegt eigentlich auf der Hand. Trotzdem würde ich nicht diesen Gegensatz Freiheit und Kontrolle aufmachen wollen. Wir brauchen die Freiheit, aber wir müssen ganz klar Kontrollmechanismen einführen, die dafür sorgen, dass einfach die Dinge, die wir als schwierig oder auch defizitär an manchen Stellen erkannt haben, dass man die ausräumen kann, und da haben wir uns konkrete Handlungsempfehlungen auch überlegt, die wir den Universitäten, den Fakultäten auch in den Empfehlungen weitergeben wollen, und diese Empfehlungen, die reichen wirklich von einer transparenten Rekrutierung, die an Qualitätsmaßstäben sich natürlich messen muss, über eine Veränderung der Betreuungsverhältnisse bis hin zu einer Prüfung der Promotion, die eben über die ganz enge Bindung des Betreuers zum Promovenden, zur Promovendin hinaus geht. Das heißt, dass also auch da eine weitestgehende Objektivierung der Bewertung, der Beurteilung der Qualität der Arbeit am Ende auch als Ziel stehen muss. Das sind so die wesentlichen Elemente, die wir uns da vorstellen, und wir müssen uns hüten natürlich, bei all diesen Qualitätssicherungsmechanismen in ein, ich sage mal, strenges Regelwerk zu verfallen, das den Aufwand für die Qualitätskontrolle so hoch macht, dass es nicht bewältigt werden kann und damit kontraproduktiv ist.

Timm: Können Sie als da Wissenschaftsrat eigentlich nur moderieren, oder haben Sie wirklich Macht?

Marquardt: Wir haben als Wissenschaftsrat hier nicht die Macht, die Dinge umzusetzen oder die Umsetzung zu erzwingen. Natürlich werden wir, nachdem die Empfehlungen da sind, auch versuchen, diesen Prozess weiter zu begleiten, den Dialog zu suchen mit der Politik, mit den Hochschulen, mit den Universitäten, hier insbesondere. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es auch eine Reihe von Universitäten, vielleicht auch ein Land gibt, das gewissermaßen im Sinne eines Pilotprojektes hier vorangeht und mal grundlegend versucht, die Promotionsordnungen der Universitäten entsprechend der von uns gegebenen Empfehlungen anzupassen und dann eben auch zu schauen, dafür zu sorgen, dass die Dinge in den Fakultäten umgesetzt und aufgenommen werden.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Professor Wolfgang Marquardt. Herr Marquardt, nun hat ja jede Promotion den Anspruch, eine eigenverantwortliche Forschungsleistung zu sein, also eine echte Neuigkeit, ein zu Ende gedachter Geistesblitz, etwas noch nie da Gewesenes, um es mal so zu formulieren, und es gibt – Sie sagten es – 25.000 Promotionen pro Jahr. 25.000 Neuigkeiten allein aus deutschen Unis, hoppla. Muss man da nicht auch mal die Systemfrage stellen, ob das schlicht zu viele sind?

Marquardt: Die Frage muss man stellen. Ist so viel Neues zu tun, dass überhaupt diese Masse gerechtfertigt oder sogar benötigt wird? Ich bin der Meinung, dass wir da nicht an der Sättigungsgrenze an der Stelle angelangt sind. Die Komplexität der Probleme, die Vielfalt der Fragestellungen, die ist nach wie vor da, vielleicht größer denn je. Die Spezialisierung schreitet immer weiter fort, das ist ein Problem. Man verliert vielleicht – das sehe ich eher als eine Schwierigkeit an bei dieser Vielzahl von Einzelfragestellungen – den Zusammenhang und den Blick fürs Ganze. Das ist ein Problem, dem sich Wissenschaft insgesamt gegenübersieht. Also ich glaube nicht, dass die Zahl der Promotionen, diese 25.000, per se es unmöglich macht, sozusagen neue, originelle Dinge zu tun. Und natürlich ist neu und originell, das ist eine relative Bemessung, es wird nicht in all diesen 25.000 Arbeiten ein Resultat, eine Erkenntnis drin sein, die die Gesellschaft, die Technik oder was auch immer revolutionieren wird. Viele Dinge müssen ausgearbeitet und im Kleinen sozusagen weitergebracht werden, nur sind sie es trotzdem wert, als eine originäre Forschungsleistung angesehen zu werden, die wirklich die Erkenntnis und damit auch die Translation von Erkenntnis in Anwendung befördert.

Timm: Lassen Sie mich da noch mal freundlich nachbohren: Die meisten Promotionen sind ja Gehört–Dazu–Promotionen, bei Chemikern, Medizinern, Juristen mit Karrierewunsch, Politikern mit Karrierewunsch – und die Unis werten sich letztlich doch auch noch freiwillig ab, wenn sie darum wissen und da nicht gegensteuern.

Marquardt: Das ist ein Problem, ein ganz dringendes Problem, meine ich. Sie haben ganz recht, die Promotion letztlich hat, wenn man ihre Funktion anguckt, de facto wirklich die zwei Komponenten. Das eine ist eben die originäre Forschungsleistung, und ohne die – die berechtigt eigentlich oder begründet eigentlich nur die Promotion, aber in der gesellschaftlichen Wahrnehmung ist mit der Promotion auch letztlich ein Merkmal verbunden, das die Person einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zuordnet, und wenn wir dann sozusagen in manchen Bereichen, Fällen, dieses zweite, funktionale Merkmal, das wir einfach konstatieren müssen, wenn das sozusagen mehr Gewicht bekommt als die originäre Idee, Zielsetzung hinter der Promotion, nämlich Neues zu schaffen, wissenschaftliches Neuland zu betreten, dann bekommen wir ein Problem. Und da gibt es natürlich strukturelle Bereiche, die eben in Gefahr sind, dieses Distinktionsmerkmal über die Leistungsnachweise zu stellen.

Timm: Also stimmt es: Die Unis werten sich letztlich freiwillig ab.

Marquardt: Wenn die Universitäten die Qualitätssicherung, und zwar unabhängig vom Fach, über alle Fächer hinweg, nicht ganz, ganz hoch in ihre Priorität hängen und hier deutlich nachsteuern, dann ist dieses Problem der Abwertung nicht nur ein Problem, sondern eine Gefahr, der es zu begegnen gilt. Und ich hoffe, dass die Universitäten sich dieser Aufgabe auch stellen werden, und die im Grunde bekannten, jetzt noch mal ins Bewusstsein aller getretenen Probleme auch anzugehen.

Timm: Über den Daumen und wissend, dass wir das hundertprozentig beide nicht klären können: Wie viel Prozent der Promotionen sind Promotionen?

Marquardt: Das ist Spekulation. Ich glaube, es hilft uns auch nicht weiter, wenn wir versuchen, das an Zahlen festzumachen. Ganz klar ist, dass bei einem Umfang von 25.000 Arbeiten das Aufrechterhalten homogener Qualitätsstandards eine nicht einfache Aufgabe ist, die braucht einen Haufen Zuwendung, und die müssen wir einfach angehen, und vor allem auch die Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Fächern und Fachkulturen im Auge behaltend vorangehen.

Timm: Die Mühlen der Wissenschaft sind langsam, ein Dreivierteljahr nach dem Guttenberg-Skandal ist die Unilandschaft in der Diskussion. Wolfgang Marquardt war das, Vorsitzender des Wissenschaftsrates und Professor für Prozesstechnik an der Technischen Hochschule in Aachen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema