Beglückt von der Sprache des Tanzes

Von Gerrit Stratmann · 30.04.2013
Zum 50. Geburtstag des Élysée-Vertrags hat Laurent Chétouane das Tanzstück "M!M" entwickelt, das sich mit der deutsch-französischen Freundschaft befasst. Der Choreograf lebt in Berlin und glaubt an die politische Dimension des Tanzes - und war deshalb prädestiniert für diese Aufgabe.
Laurent Chétouane ist gefragt. Die Stücke des dunkelhaarigen, hochgewachsenen Franzosen erregen Aufmerksamkeit, sein Name weckt Erwartungen. Er inszeniert an großen Häusern und unterrichtet als Gastdozent an verschiedenen Universitäten. Und gerade jetzt, mit 40 Jahren, sieht er sich als Choreograf am Anfang einer spannenden Entwicklung:

"Also es entsteht für mich gerade eine Tanzsprache. Und das ist hochbeängstigend und hochbeglückend gleichzeitig."

Dabei sah zunächst nichts nach einem Leben für die Bühne aus. In seinem Elternhaus im westfranzösischen Angoulême gab es keinen nennenswerten Bezug zu Kunst oder Theater. Stattdessen absolvierte er ein Ingenieursstudium und lernte viel über Mathematik, Physik und Chemie. Bis er in einem 6-monatigen Praktikum in den USA das Gefühl hatte, im falschen Beruf zu sein:

"Und da wurde ich ganz traurig."

Nach dem Praktikum zog er der Liebe wegen nach Deutschland. Während er hier seine Diplomarbeit schrieb, fand er sich unversehens an einem Wendepunkt in seinem Leben.

Von der Theatersprache überwältigt
"Das war die Begegnung in Deutschland mit dem Theater und vielleicht auch Autoren wie Heiner Müller, die mich fast gezwungen haben, mit diesem Ingenieur aufzuhören."

Überwältigt von der Effizienz und Wortgewalt der Theatersprache entscheidet er sich im Anschluss für ein Studium der Theaterwissenschaft, zuerst in Paris, dann in Frankfurt. Heute lebt er ganz in Deutschland, allein in einer hohen, weißen Altbauwohnung mit Stuck an der Decke in Berlin-Mitte. In seinem Wohnzimmer gibt es außer einer langen Bücherwand, einem aufgeräumten Schreibtisch und einer kleinen Sitzgruppe mit zwei Sesseln keine Möbel. Darauf angesprochen schaut er mit seinen dunklen Augen hinter der Brille prüfend durch den Raum:

"Man braucht nicht viel. Ich mag auch schöne Sachen, und manchmal schöne Sachen sind sehr teuer. Deswegen hat man lieber nichts manchmal, als irgendeinen IKEA-Schrank. Wenn ich genug Geld habe, dann kauf ich mir ein schönes Stück."

Die schnörkellose Kargheit seiner Wohnung scheint einen Zustand der Ungebundenheit, des Aufbruchs und der Freiheit widerzuspiegeln. Ein Zustand, der für ihn ganz eng mit dem Tanz verbunden ist:

"Weil das Schöne am Tanz ist, es gibt zuerst nichts. Wir treffen uns mit Tänzern, jeder hat seine Biografie, seinen Körper, seine Art sich zu bewegen, seine Gedanken – ja. Aber trotzdem gibt es nichts. Deswegen verstehe ich Schauspiel fast wie einen Auftrag immer gegenüber einem Text, gegenüber einem Theater. Tanz für mich ist Freiheit."

Sein neustes Stück für zwei Tänzer, "M!M", ist eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Freundschaft, das zum 50. Geburtstag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages in jeweils drei Städten beider Länder aufgeführt wird. Als Franzose, der in Deutschland lebt, ist Laurent der ideale Regisseur für diesen Anlass. Auch wenn er sich selbst in keinem der beiden Länder ganz zu Hause fühlt:

"Frankreich ist mir ein bisschen fremd geworden. Ich blicke (auf) die Franzosen, wenn ich zurückkomme, wie ein Fremder, und die blicken auf mich auch so. Und ich finde das ganz toll. Ich glaube, dass diese Auflösung der einen Identität – das ist wie eine Befreiung."

Matthieu und Mikael sind die beiden Tänzer, die in M!M das Zusammenleben in wechselnden "Freundschaftsräumen" auf der leeren Bühne choreografisch erproben.

Die politische Dimension des Tanzes
"Letztendlich ist es sehr konkret, wie ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich. Es geht um Grenzen. Wo findet denn Krieg statt? Zuerst an der Grenze. An der Linie zwischen den zwei Ländern, und es geht um Grenzverschiebungen."

Politik und Tanz vermischen sich für Laurent ganz konkret. Nicht nur bei diesem Stück. Immer sieht er im Tanz auch eine politische Dimension.

"Ich würde sagen, die ganze Philosophie, die gerade hinter meiner Tanzsprache steckt, ist Geben. Und der Akt des Gebens ist ein politischer Akt. Wenn man denkt zuerst, du gibst, und dann schaust du, was passiert. Ist das Gegenteil von dem, was man gerade erlebt: Haben. Beherrschen. Ausschließen. Und da wird Tanz politisch."

Immer wenn Laurent ein neues Stück probt, begleiten ihn ein paar Bücher, oft von postmodernen Philosophen wie Deleuze, Roland Barthes oder Derrida. Er weiß, dass seine Inszenierungen oft etwas komplexer ausfallen und sich seine einer einfachen psychologischen Lesart verweigern. Das Feuilleton wirft ihm deswegen zuweilen vor, er mache intellektuelles Theater. Aber solche Kritik prallt an ihm ab:

"Theater ist nicht für alle. Jedes Stück kann sein Publikum haben. Aber damit die Leute haben große Schwierigkeiten. Sie verstehen Demokratie als Mittelmaß."

Das Mittelmaß aber, die altbekannte Schiene des Theatermachens, interessiert ihn nicht. Deshalb sucht er weiter auf den Proben nach einer neuen Tanzsprache auf dem Theater, in der es weniger um die Virtuosität der Darsteller geht, sondern die letztendlich das Zusammensein von Zuschauern und Performern neu definieren will.

"Ich glaube es geht drum, dass man an eine Form glaubt. Ob diese Form Tanz ist oder was anderes – pfft! Leute können sich sammeln um eine Form. Die Frage ist immer, wie diese Form politisch geladen wird."

Linktipp:
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