Beginn der Fastenzeit

"Wir brauchen eine gepflegte Ungeduld"

Eine junge Frau wartet am späten Abend vom 06.11.2014 am Bahnhof in Hildesheim (Niedersachsen) auf einen Zug.
Nur die Ruhe, meint die Evangelische Kirche. Ja, aber ein wenig Ungeduld ist gar nicht schlecht, sagt der Soziologe Dirk Baecker. © pa/dpa/Stratenschulte
Dirk Baecker im Gespräch mit Nicole Dittmer und Julius Stucke · 28.02.2017
Zu Beginn der Fastenzeit mahnt die Evangelische Kirche: Entschleunigt euch! So könne man dem zunehmenden Ruf nach "Sofort" in der Arbeitswelt begegnen. Soziologe Dirk Baecker hält dagegen: Wir sind gar nicht im Sofort, sondern prokrastinieren fleißig.
Julius Stucke: Kulturtipps waren das von Tobias Wenzel hier bei "Studio 9".
Nicole Dittmer: Ja, und jetzt noch schnell das nächste Interview, dann haben wir die Stunde auch wieder geschafft. Komm, mach, sofort!
Julius Stucke: Nee. Ich würde an dieser Stelle viel eher an den Appell der evangelischen Kirche Deutschlands erinnern, anlässlich der ab morgen beginnenden Fastenzeit, nämlich: ohne sofort, bitte, und zwar die nächsten sieben Wochen. Man muss auch mal ein bisschen langsamer innehalten, Geduld haben.
Nicole Dittmer: Dann geht aber nichts voran.
Julius Stucke: Das glaube ich nicht. Ich glaube nicht an quick & dirty, sondern vielleicht ist es nicht unbedingt gut, wenn man alles immer schnell macht, sofort erledigen muss. Zumindest sieht die Kirche in diesem Sofort, in der Ungeduld ein Symbol der Moderne, und sie meint, Entschleunigung sei der bessere Weg.
Wir wollen darüber sprechen mit Dirk Baecker, Soziologe an der Universität Witten-Herdecke. Schönen guten Abend!
Dirk Baecker: Hallo, Herr Stucke!
Julius Stucke: Sehen Sie das auch so, ist die Ungeduld, der Ruf nach dem Sofort so ein Symbol unserer heutigen Zeit?
Baecker: Ja, das kann man natürlich so sehen, auch wenn man gleichzeitig sehen kann, dass die evangelische Kirche da herrlich gegen den Strom der Zeit schwimmt. Denn ich meine, die Sorgen darum, dass wir laufend, gerade an Universitäten, gerade an den Schulen, prokrastinieren, also die Dinge vor uns herschieben, nichts tun, immer wieder etwas auftauchen lassen, was uns sozusagen noch bessere Ideen gibt, ist ja genauso berechtigt wie diese Hektik, in die wir uns von anderen Leuten stürzen lassen.

"Wir sind gegenüber uns selbst ungeduldig"

Nicole Dittmer: Aber folgt dem Ruf nach dem Sofort auch immer ein Sofort?
Baecker: In den seltensten Fällen. Es ist ja, glaube ich, schon so, dass die einen "sofort" rufen und den anderen daraufhin entweder was Besseres einfällt oder einfällt, dass sie sich ärgern, schon wieder aufgefordert zu werden, sofort etwas zu tun.
Wir sind gegenüber uns selbst ungeduldig, das ist schon richtig. Aber wir sind gegenüber denen, die uns ungeduldig machen, noch ungeduldiger, das heißt, wir versuchen zu bremsen.
Julius Stucke: Gut, das klingt aber jetzt doch irgendwie nach viel Ungeduld, habe ich das Gefühl, da würde ich jetzt schon wieder mit der Kirche sagen, wir brauchen eine Entscheidung, wie Sie sagen, aber eben eine entschleunigte, in Ruhe, oder?
Baecker: Wir leben ja in einer Welt, die auf eine Art und Weise komplex geworden ist, die viele überfordert, und zwar zu Recht überfordert, und nicht deswegen, weil sie irgendwie anders ist als vorher, weil unsere Praktiken andere wären, sondern weil unsere Begriffe nicht mehr so passen wie vorher.
Wir wussten ja noch bis vor 30, 40 Jahren sehr genau, was wir unter Politik, unter Wirtschaft, unter Religion, unter Bildung, unter Kunst oder sonst etwas zu verstehen hatten, und merken jetzt, dass alle diese Kategorien einander durchdringen, einander ergänzen und uns so zum Springen zwingen, um überhaupt noch irgendwelche Verbindungen herstellen zu können.
Die evangelische Kirche, die gegen dieses Sofort plädiert, plädiert eigentlich auch dafür, sich wieder auf bestimmten Begriffen, auf bestimmten Wahrnehmungen, auf einer bestimmten Weltsicht sozusagen auszuruhen und erst mal zu sagen, ich schaue aus dem Fenster, das ist ein Fenster, das ist eine Welt, das bin ich, der da schaut, und das genieße ich jetzt erst mal.
Dieses In-Sich-Ruhen einer in sich sicheren Weltsicht, die wird ja eigentlich damit eingeklagt, was die evangelische Kirche dort empfiehlt.

Auf gelassene Art schnell reagieren

Julius Stucke: Und das ist aber eine, würden Sie sagen, die würde uns voranbringen, weil wir dann in Ruhe gute Entscheidungen treffen können?
Baecker: Nein, um Himmels willen, das ist allenfalls eine Korrekturform! Das, was wir unter Wellness verstehen, das, was wir als Meditation betreiben, kann uns nur darauf vorbereiten, auf eine gelassene Art und Weise dann wieder sehr schnell auf Gelegenheiten und sofort auf etwas zu reagieren, was eben ja auch dummerweise im Nu an uns vorbeizieht und entsprechend schnell behandelt werden müsste.
Das heißt, wir brauchen beide Gesten. Wir brauchen eine gepflegte Ungeduld und eine ungepflegte, ruhige, gelassene Form des – na ja, des sozusagen An-sich-vorbeiziehen-Lassens.
Nicole Dittmer: Das heißt aus Ihrer Sicht, die Dinge sofort anzugehen muss nicht unbedingt negativ sein, wenn ich Sie da richtig verstehe. Auf der anderen Seite setzt uns dieser Ruf nach dem Sofort zum Beispiel im Arbeitsleben aber ja auch absolut unter Stress. Wann weiß ich denn, dass ich auf das Sofort reagieren muss, und wann ist Entschleunigung der bessere Weg? Wie finde ich da den Mittelweg?
Baecker: Den Mittelweg gibt es, glaube ich, nicht. Ich kann mir nur anschauen, wer da welche Forderungen an mich stellt und mich entscheiden, ob ich diesen Forderungen der entsprechenden Leute genügen will oder nicht. Oft haben wir keine Wahl. Wir müssen reagieren, wenn wir von Vorgesetzten entsprechend aufgefordert werden.
Wir können uns aber auch bei Kollegen vergewissern, dass diese Aufforderung eher die Unruhe des Vorgesetzten abarbeitet und nichts mit der Sache zu tun hat. Wir können uns die Sache selbst anschauen und sagen, ja, in der Tat, hier ist sofortiges Eingreifen nötig, oder umgekehrt, nein, das kann sich noch ein bisschen entwickeln, da kann ich noch ein bisschen drauf warten.
Und wir können natürlich drittens immer auch fragen, in welcher Situation bin ich selbst eigentlich im Moment? Bin ich der Richtige, der jetzt zugreifen soll und jetzt reagieren soll auf etwas, oder sollte ich nicht jemand anderen bitten, an meiner Stelle zu reagieren? In diesen Dimensionen sind wir ja laufend unterwegs, und es gibt dummerweise zumindest aus Soziologensicht keine eindeutigen Entscheidungen in dieser Fragestellung.
Julius Stucke: Nun ist es ja immer schön, wenn man sich einen Schuldigen sucht. Und einen Schuldigen, den man sich besonders gern sucht derzeit, ist mein Gefühl zumindest, ist die digitale Welt. Da kann man viel hinschieben. Aber wie ist es in diesem Fall? Ist dieses "Sofort" in der digitalen Welt, also E-Mails, von denen man sich gedrängt fühlt, sofort zu antworten, WhatsApp-Nachrichten oder irgendwas, was man postet und sofort Reaktionen darauf bekommt. Ist das ein großer Anteil dieses Drucks, der auf uns lastet gerade, oder schieben wir das ein bisschen ungerechtfertigt ab in die digitale Welt?

Digitale Welt ist nicht schuld am zunehmenden Druck

Baecker: Nein, ich glaube, das kann man schon so sagen, dass wir nicht nur unter Druck gesetzt werden von den schnellen Algorithmen, mit denen wir da konfrontiert werden, sondern dass wir selbst ja auch fasziniert sind davon. Ich meine, wann wäre es denn jemals möglich gewesen, irgendeine Recherche im Internet abzusetzen und nach einer Zehntelsekunde bereits eine Antwort zu haben? Wann wäre es möglich gewesen, jemandem eine Nachricht zu schicken, und tatsächlich im selben Moment, in dem die Nachricht abgeschickt wird, schon darauf zu warten, dass man Antwort bekommt.
Das sind ja nicht nur Dinge, die uns unter Druck setzen, sondern das sind auch Dinge, die uns einen enormen Spaß machen. Wir kitzeln ja die Welt auf diese Art und Weise, mit unseren eigenen, oft sehr kleinen Postings und Likes, mit unseren Maßnahmen, um zu schauen, wo lässt sie sich kitzeln, wann reagiert sie, wie reagiert sie, wer reagiert auf mich, wer reagiert nicht auf mich. Also da halten sich Faszination und Erschrecken, glaube ich, sehr schön die Waage.
Nicole Dittmer: Aber führt das "Sofort" nicht auch manchmal zu mehr Oberflächlichkeit?
Baecker: Oberflächlichkeit ist in einer Welt, die ihre Tiefe verloren hat, ja gar nicht so schlecht. Ich meine, die evangelische Kirche ist nicht umsonst jetzt dabei, gegen dieses Sofort zu plädieren, weil sie für eine Tiefe plädiert, die ja auch etwas mit Religion zu tun hat. Aber wie viele Menschen sind noch religiös in unserem aufgeklärten Westen zumindest?
Wie viele Menschen halten sich nicht an einer Oberfläche auf, die die Fläche der Welt selber ist, die sozusagen nur noch darin besteht, die komplexen Möglichkeiten des Berufs und des Alltags, der Freizeit und der Wellness miteinander zu kombinieren, ohne an jeder Stelle nach irgendeiner Tiefe zu suchen, die uns zu etwas auffordert, auf uns wartet, uns mit einem höheren Sinn desselben versorgt oder sonst eine schöne ehemalige Angelegenheit.
Julius Stucke: Sie haben ja auch zur Neurosoziologie geforscht, haben ein Buch darüber geschrieben, sich also gefragt, was macht denn unsere Art zu leben mit unserem Gehirn und der Entwicklung unseres Gehirns? Verändert denn das Sofort oder auch nicht in unserer komplexen Welt auch unsere grauen Zellen?

Verschiedene Geschwindigkeiten der Wahrnehmung

Baecker: Das ist noch schwer zu sagen, zumal von einem Soziologen, der das nicht wirklich versteht. Was man sagen kann, ist, dass wir viel stärker als vorher, und das kann man als Soziologe sagen und das war auch Teil dieses Buches, dass wir viel stärker als vorher darauf achten, dass die Geschwindigkeiten unseres Denkens, die Geschwindigkeiten unserer neuronalen Reaktionen und die Geschwindigkeiten unseres Redens fundamental unterschiedlich sind.
Dieser klassische Renaissance-Mensch, der ja immer dachte, ich denke, während ich wahrnehme und während ich auch schon rede, ich bin eins mit mir selbst, zeitlich eins mit mir selbst, der ist ja Dank der Neurosoziologie, also seit 150, 180 Jahren auseinandergefallen in ein rasend schnelles neuronales System.
Wir haben immer schon etwas wahrgenommen, bevor wir auch nur sehen, was wir gesehen haben, in ein sehr viel langsameres Bewusstsein, das sozusagen seinen eigenen neuronalen Impulsen nur mit Mühe hinterherkommt, und in ein noch langsameres Reden, das wiederum – in welcher Größenordnung, ist schwer zu sagen - aber wesentlich langsamer funktioniert als das Bewusstsein.
Und diese Diskrepanz, die macht uns natürlich zusätzlich nervös, weil wir nie wissen, an welcher Stelle bin ich denn nun ich, und wer ist das? An welcher Stelle bin ich denn nun wirklich unterwegs.
Julius Stucke: Sagt Dirk Baecker, Soziologe an der Universität Witten-Herdecke. Danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Baecker: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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