Begeisterung sieht anders aus

Von Ralf Borchard · 27.05.2013
Bald wird Kroatien, das Land entlang der Adriaküste mit knapp 4,5 Millionen Einwohnern, der 28. EU-Mitgliedsstaat. Zehn Jahre haben die Menschen auf diesen Tag hingearbeitet, haben ihr Wirtschafts- und Rechtssystem auf den Kopf gestellt. Jetzt, wo es endlich soweit ist, gibt es Zweifel - in der EU und bei den Kroaten selbst.
In Bistra, einem Ort im Nordwesten Kroatiens, probt die Jugend-Folkloregruppe. Im Gemeindesaal spielen acht Schüler traditionelle Saiteninstrumente, 30 Jungen und Mädchen singen dazu im Chor.

Im Chor singt auch Klaudija. Sie geht in die achte Klasse und kann ziemlich gut Deutsch:

"Vom Fernsehen. Und ich lerne in der Schule."

Zweimal die Woche probt Klaudija mit der Gruppe. Und sie treten auch auf:

"Ja. Einmal den Monat. Das bringt mir Spaß. Sehr."

Dass Kroatien am 1. Juli der Europäischen Union beitritt, hat sie auch schon gehört:

"Ja, ich weiß das!"
"Ist das gut?"
"Ich weiß nicht."

Damit steht sie nicht allein. Ob es gut ist, EU-Mitglied zu werden, was der EU-Beitritt am Ende bringt - da sind sich auch viele Erwachsene in Kroatien nicht sicher.

Marija Bazulic leitet den Kulturverband Bistra. Die Jugendlichen, die hier mitsingen, hören zu Hause alles Mögliche - Popmusik, Hardrock - sagt sie. Ganz einfach ist es nicht, die jungen Leute für traditionelle Musik zu gewinnen, aber die Tradition ist wichtig, meint sie, und die meisten kommen gern:

"Sehr, sehr gerne, wir haben gute Erfolge bei Veranstaltungen erzielt und auch schon Preise in Kroatien gewonnen. Und wir versuchen, die Kinder und Jugendlichen mit Auslandsreisen anzulocken. Vergangenes Jahr sind wir bei einem großen Festival in der Türkei aufgetreten. Und wir waren in Weißrussland. So versuchen wir, sie für die Folklore zu gewinnen."

Einige hundert Meter weiter führt der Bürgermeister von Bistra durch das Rathaus. Bistra - ein weit gestreckter Ort, viele Einfamilienhäuser, Felder dazwischen - besteht aus sechs Dörfern, die sich zusammengeschlossen haben. Bürgermeister Kresimir Gulic deutet auf die blaue Flagge hinter seinem Schreibtisch:

"Die sechs Wassertropfen auf der Flagge symbolisieren die Dörfer, aus denen die Gemeinde besteht. Die Wassertropfen sind außerdem Symbol der Klarheit und der Sauberkeit."

Bistras Wasser kommt aus dem Gebirgszug, der sich zwischen Bistra und der Hauptstadt Zagreb erhebt. Der Gemeinde geht es vergleichsweise gut. Kresimir Gulic zeigt stolz die umfangreiche Bibliothek mit Computernutzung und Internetzugang für alle.

Bistra scheint in mancherlei Hinsicht so zu sein, wie sich die Europäische Union Kroatien wünscht. Das gilt auch für den Betrieb von Ivan Sulog. Er hat mit einer ungewöhnlichen Geschäftsidee ein mittelständisches Unternehmen aufgebaut:

Sulog zählt exotische Früchte auf, die in seinen Gewächshäusern reifen, von peruanischen Erdbeeren bis Cocoyam, einer Kartoffel, die nach Kokosnuss schmeckt:

"Wir produzieren seit 16 Jahren exotische Früchte und exotisches Gemüse in Kroatien und exportieren nach ganz Europa. 90 Prozent gehen in den Export, weil die Leute hier in Kroatien wenig über exotische Früchte wissen. Am Anfang dachten Sie, ich bin völlig verrückt. Und nach der ersten und der zweiten Ernte gingen auch sämtliche Früchte kaputt. Sie haben mich für einen Idioten gehalten. Aber auch danach habe ich nicht aufgegeben."

Von Ivan Sulogs Unternehmergeist könnte Kroatien deutlich mehr brauchen. Denn der Wirtschaft des Landes geht es insgesamt schlecht. Zu viel Bürokratie, zu viele schwerfällige ehemalige Staatsbetriebe - Werften zum Beispiel - die mit Müh‘ und Not eine Umstrukturierung begonnen haben. In der Hauptstadt Zagreb beschreibt die Wirtschaftswissenschaftlerin Sandra Svaljek die Lage:

"Kroatien ist in wirtschaftlicher Hinsicht in ziemlich schwacher Form. Wir befinden uns seit 2009 in der Rezession. Die offiziell Arbeitslosenrate liegt bei 20 Prozent, das ist sehr hoch. Umgekehrt ist die Beschäftigungsrate sehr niedrig. Die Beschäftigungsrate ist im Vergleich mit anderen EU-Ländern derzeit die niedrigste."

Der Reformdruck darf nicht nachlassen
Kann sich die EU ein weiteres wirtschaftlich schwaches Mitgliedsland leisten? Zahlt der deutsche Steuerzahler - um ein gängiges Vorurteil zu zitieren - am Ende wieder drauf? Oder hat die EU auch etwas von Kroatien? Sandra Svaljek reagiert empört auf die Frage:

"Oh! Ich würde sagen, die jetzigen EU-Länder können vom EU-Beitritt viel mehr profitieren als Kroatien selbst. Ein Beispiel: Kroatien muss europäische Umweltstandards erfüllen. Das erfordert große Investitionen, etwa im Bereich von Abwässern und Kläranlagen. Uns fehlt die entsprechende Technologie. Das heißt, wir brauchen deutsche und andere Unternehmen, die uns hier versorgen. Die hier Geld verdienen können. Das heißt: die EU wird sicher von diesem Erweiterungsschritt profitieren."

Kritiker des kroatischen EU-Beitritts prangern nicht nur die schwache Wirtschaftsbilanz der vergangenen Jahre an, sie monieren auch Mängel im Justizsystem und vor allem: bleibende Korruption. Manch großer Fisch, voran der frühere Regierungschef Ivo Sanader, ist angeklagt und verurteilt worden, doch es liegt immer noch einiges im Argen - sagt Zorislav Petrovic. Er leitet in Zagreb das Büro von Transparency International:

"Ich finde es grundsätzlich gut, dass Kroatien EU-Mitglied wird. Aber ich habe auch Angst, dass es etwas zu früh passiert. Ich fürchte, dass die Reformen, die während der Beitrittsverhandlungen begonnen haben, jetzt stoppen könnten. Ja, es hat sich einiges verbessert. Aber die Einflussnahme der Politik stellt das Funktionieren der Justiz und vieler öffentlicher Einrichtungen und Behörden nach wie vor in Frage."

Petrovic erzählt auch von eigenen Erlebnissen. Von der plötzlich notwendigen Operation einer nahen Verwandten - für die es nur mit 1000 Euro Bargeld einen Operationstermin gab. Vom Grundbucheintrag nach dem Kauf einer Eigentumswohnung - der sich Monat um Monat hinzog, weil er nicht bereit war, Bestechungsgeld auf den Tisch zu legen. Der Reformdruck von außen darf nach dem EU-Beitritt nicht nachlassen, das sagen viele regierungsunabhängige Experten.

EU-Skepsis wegen Kriegserlebnissen
Das Dorf Turanj bei Karlovac, rund 50 Kilometer südwestlich von Zagreb. Hier verlief im Kroatienkrieg ab 1991 die Frontlinie, Turanj wurde weitgehend zerstört. Heute sind fast alle Häuser neu aufgebaut oder renoviert, nur noch vereinzelt sieht man Fassaden, die von Einschusslöchern übersät sind. Auf einer Wiese sind Panzer und gepanzerte Fahrzeuge aufgereiht, auch das Wrack eines abgeschossenen Kampfflugzeugs ist zu sehen, es ist das Kriegsmuseum, eine Außenstelle des Stadtmuseums von Karlovac. Josip Jancic hat hier gekämpft vor gut 20 Jahren.

"Mir persönlich bedeutet das sehr viel hier. Es ist wichtig wegen all meiner Freunde, die ihr Leben für dieses Land gegeben haben. Insgesamt haben in meiner Einheit 300 Leute gedient, von diesen 300 sind 30 getötet worden, von Verwundeten gar nicht zu reden. Es ist eine Erinnerung an all meine Freunde, Verwandten, Cousins, Paten die hier gefallen sind, genau hier."

Karlovac lag an der Frontlinie zur so genannten serbischen Republik Krajina, die serbische Rebellen, unterstützt von der jugoslawischen Armee, 1991 ausgerufen hatten. Die Kriegsschuld lag aus kroatischer Sicht allein beim serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic und seiner aggressiven Expansionspolitik. 1995 eroberte die kroatische Armee die Gebiete zurück. Da es auch dabei zu Kriegsverbrechen kam, wurde beim Tribunal in Den Haag Anklage gegen die kroatischen Generäle Ante Gotovina und Mladen Markac erhoben.

Sie wurden zunächst verurteilt, doch später freigesprochen. Die meisten Kroaten hat das in ihrer Haltung bestätigt, dass man sich nur gegen serbische Aggressoren verteidigt hat. Bei vielen Kroaten tragen die Kriegserlebnisse zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der EU bei. Kroatien ist ein junges Land, erst seit gut 20 Jahren unabhängig, dann musste diese Unabhängigkeit in einem verlustreichen Krieg verteidigt werden. Jetzt in ein neues Bündnis einzutreten, in dem Souveränität verloren geht - für Josip Jancic der falsche Weg:

"Meine persönliche Meinung ist, dass es schlecht ist. Ich denke nicht, dass die EU etwas Positives ist. Es eine moderne Art des Feudalismus, jemand hat die Macht über dich, und du bist ohnmächtig. Ich denke, das ist es, was uns erwartet. Die großen Länder herrschen und Kroatien wird der Knecht sein. Es ging immer vor allem um Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Mir scheint, Deutschland hat es geschafft, die Oberhand zu gewinnen. Und Frau Merkel versteht das sehr gut zu nutzen."

Eine Landnase bei Dubrovnik
Die Region um Dubrovnik ist vom Rest Kroatiens getrennt, eine Landnase, die Bosnien den Zugang zum Meer sichert, schiebt sich dazwischen. An den Grenzübergängen von Neum leuchten nagelneue blaue Grenzhäuschen - hier die Kontrollen EU-Standards anzupassen, gehört zu den letzten Aufgaben, die Kroatien vor dem Beitritt im Juli zu erfüllen hat.

Die bosnischen Grenzbeamten winken die Autos gelangweilt durch, die Kroaten dagegen interessieren sich pflichtbewusst bei Aus- und Einreise für den Pass.

In der Altstadt von Dubrovnik schieben sich hunderte Touristen durch die Gassen, oder genießen beim Rundgang auf der restaurierten Stadtmauer den Ausblick auf die roten Ziegeldächer und das Meer.

Bei einer Parteiveranstaltung der konservativen HDZ wirbt die frühere Bürgermeisterin Dubrovniks, Dubravka Suica, für ihre künftige Arbeit im Europaparlament. Suica hat Deutsch studiert und ist eine von zwölf Abgeordneten, die Kroatien ab 1. Juli im EU-Parlament vertreten. Ihr Ziel Nummer eins: eine Brücke vom Festland auf die Halbinsel Peljesac, um die bosnische Landnase bei Neum zu umgehen.

"Die wichtigste Sache für Dubrovik ist die Brücke, jetzt nennen wir sie die kroatische Brücke, weil wir wollen, dass Kroatien in einem Teil ist. Das ist auch eine symbolische Sache, nicht nur Verkehr, Kroatien in einem."

Das zweite große Thema in Dubrovnik ist ein Golfzentrum, das ein israelischer Investor auf einer Hochebene über der Stadt bauen will. Oben auf dem Srdj, dem Hausberg Dubrovniks, sollen Golfplätze, Hotels, Villen und Luxusapartments entstehen. Die Rentnerin Maja Milovcic ist skeptisch.

"Die Grenze zu Bosnien-Herzegowina ist sehr nah. Dies ist das einzige Stück Land zwischen der bosnischen Grenze und Dubrovnik. Wir wissen genau, was dort vor 20 Jahren passiert ist, im Krieg. Wir verlieren unsere Rückendeckung. Es findet ein Ausverkauf statt. Das ist das Problem. Die Frage ist: Verlieren wir unser Territorium?"

Bei aller Kriegserinnerung - den EU-Beitritt Kroatiens findet Maja Milovcic richtig.

"Die EU wird ganz Kroatien verändern. Wir müssen die Gesetze respektieren.
Wir können zwar heute schon sagen, dass wir Demokraten sind. Aber in Wahrheit müssen wir noch eine Menge lernen über Demokratie."

So bündeln sich auch hier, ganz am Süden Kroatiens, die großen Themen im Jahr des EU-Beitritts: Tourismus, Kriegsvergangenheit, Hoffnung auf EU-Gelder, gleichzeitig Zweifel, was der Beitritt bringt. Und in Dubrovnik wird deutlich, wie weit die anderen Regionen Kroatiens entfernt sind, im direkten wie übertragenen Sinn, von Istrien, weiter oben an der Adriaküste, über die Hauptstadt Zagreb, bis Vukovar, tief im Binnenland, ganz im Nordosten. Eine Haltung allerdings teilen fast alle Kroaten: zum Balkan gezählt werden wollen sie nicht:

"Nein, nein, und noch mal nein! Wir sind ein mitteleuropäisches, mediterranes Land. Balkan - das ist ein politischer Begriff. Balkan heißt Konflikt. Das ist negativ. Wir sollten auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch miteinander sprechen!"
Blick auf Dubrovnik, Kroatien
Blick auf die kroatische Hafenstadt Dubrovnik© picture alliance / dpa Foto: Matthew Williams-Ellis
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