Begeisterung sieht anders aus…

Von Cora Stephan |
Der Begriff der "Gerechtigkeit" ist eine wunderbare Wortschöpfung. Man kann sie flüstern, man kann sie schreien, man kann sie fordern, man kann sie versprechen. Es gibt kaum ein vielseitigeres Wort in der Sprache der politischen Öffentlichkeit, es ist immer und jederzeit einsatzfähig, von allen und zu jedem Zweck zu benutzen. Weniger höflich gesagt: das Wort Gerechtigkeit ist eine Wanderhure.
Gerechtigkeit fordert der, der nicht von seinen mehr oder weniger berechtigten Interessen sprechen will, um die er höchstens kämpfen könnte, deren Befriedigung aber nicht einzuklagen ist. Gerechtigkeit verspricht einer, der nicht zugeben will, dass es sie nicht gibt, nicht geben kann, nicht geben sollte, denn wer bestimmt, was gerecht ist? Da im Kampf ums Leben jeder etwas anderes darunter versteht, meistens seine ureigenen Belange, kann Gerechtigkeit nur jemand definieren, der nicht Partei ist, der über allem steht, alles überschaut und alles richtig einzuordnen weiß. Gottgleich!

Der aktuelle Bewerber um das Amt des "Gottes der sozialen Gerechtigkeit" heißt Jürgen Rüttgers und ist Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Ihm ist Erleuchtung zuteil geworden bei der Lektüre der Schriften des Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas, dem kürzlich der nordrhein-westfälische Staatspreis verliehen wurde. Von Habermas meint Rüttgers gelernt zu haben, dass wir statt der Logik der Sachzwänge in der Politik mehr Gerechtigkeit brauchten. Wenn die Menschen glaubten, es gehe ungerecht zu in dieser Gesellschaft, sei das "ein Alarmsignal".

Nun, die Menschen haben schon immer allerhand als ungerecht empfunden, weshalb der klügere Teil der Menschheit den Rechtsstaat erfunden hat. Der Rechtsstaat verspricht nichts, was nicht zu haben ist – zum Beispiel eine gerechte Welt –, er fordert nur, dass alle nach denselben Regeln leben. Oder, wie mein alter Vater, ein Landgerichtsrat, immer sagte: Gerechtigkeit gibt es nicht. Aber im Rechtsstaat hat jeder Anspruch auf ein Urteil im Rahmen von Recht und Gesetz. Das sei ein bisschen wenig? Das ist verdammt viel, wenn man an all das Blutvergießen denkt, das uns die großen gerechtigkeitsverheißenden Ideologien beschert haben.

Aber es klingt natürlich nicht kuschelig. Es klingt vielmehr ganz und gar nach dieser kalten Logik des Sachzwangs, die Rüttgers beklagt und unter der die Menschen beziehungsweise recht eigentlich die Wähler so leiden. Aber ist das nicht eigentlich eher umgekehrt? Ich für mein Teil leide gewiss nicht unter zu viel Logik im politischen Geschäft oder gar darunter, dass Politik der Lage der Dinge Rechnung trägt, sondern im Gegenteil: Ich leide an einer Gesundheitsreform, die überhaupt keiner erkennbaren Logik mehr folgt. An einer Europapolitik, inklusive Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die keiner mehr versteht. An der wachsenden Diskrepanz zwischen dem, was eine Regierung vor der Wahl sagt und was sie danach tut. An den semantischen Verrenkungen, mit denen dem Steuerzahler als solidarisch und gerecht verkauft wird, womit man ihn lediglich ausbeutet.

Ich leide, mit anderen Worten, an einer Politik der Wählergeschenke zwecks Mehrheitserhaltung. Um nichts anderes nämlich geht es bei Rüttgers Vorschlag, den er uns derzeit als "gerecht" verkaufen will.

Ältere Arbeitslose, sagt er, die schon lange in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, sollten im Falle ihrer Entlassung noch länger vom Arbeitslosengeld profitieren, als eh schon der Fall ist. Klingt lieb, total sozial und irgendwie richtig volksparteimäßig fürsorglich.

Mit Logik hat das natürlich nichts zu tun, ebenso wenig wie die jetzt schon vorhandene Staffelung. Denn auch die Arbeitslosenversicherung ist eine Versicherung gegen ein Risiko, ganz so wie jede andere auch. Wenn ich jahrzehntelang ohne Schadensfall in eine Gebäude- oder Hausratsversicherung eingezahlt habe, bekomme ich im Fall des Falles auch nicht mehr heraus als derjenige, dem das Malheur eines Einbruchs oder eines Brandes schon nach zwei Jahren Beitragszahlung ereilt. Das genau ist der Sinn einer Versicherung.

Doch derlei kühle Argumente verglühen am heißen Herzen von Landesvater Rüttgers. Ihn kümmert weder, dass völlig unklar ist, was das kosten würde oder wer das bezahlen soll, noch, dass wir unsere schlechten Erfahrungen längst haben mit noch mehr milden Gaben an die Älteren: sie erleichtern dem Arbeitsmarkt, sie auszuspeien und auf ewig zum alten Eisen zu verfrachten. Ein Grabnagel mehr für den immer weiter schwindenden produktiven Teil der Gesellschaft, der dafür zahlen soll.

Aber die zahlen eben nur, die zählen nicht, sie stellen schließlich nicht die Wählermehrheit. Gerechtigkeit? Ach was. Es geht um die nächsten Wahlen. Um sonst gar nichts.


Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".