Begegnungen mit dem britischen Autor Graham Swift

"Solange es noch eine einzige Geschichte gibt"

29:45 Minuten
Graham Swift in einer Aufnahme vom Juni 2016.
Der britische Schriftsteller Graham Swift: "Ich beschreibe das, was vor meiner Haustür liegt." © imago/Leemage
Von Thomas David · 07.06.2019
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Graham Swift ist einer der großen britischen Gegenwartsautoren. Kürzlich feierte er seinen 70. Geburtstag. Bei einem Besuch in London spricht er über seinen jüngsten Roman "Ein Festtag" - und beschreibt die Leichtigkeit der Arbeit daran.
In "Ein Festtag", seinem jüngsten Roman erzählt der englische Schriftsteller Graham Swift eine Geschichte aus alter Zeit. Im Mittelpunkt: "Jay", das junge Dienstmädchen Jane Fairchild, und ihre Liebe zu Paul, dem einzigen verbliebenen Sohn der wohlhabenden Sheringhams, nachdem Pauls Brüder im Ersten Weltkrieg gefallen sind.
In Upleigh, dem Landsitz der Sheringhams, liegt Jane nach einem sonntäglichen Schäferstündchen auf Pauls Bett und sieht ihm zu, wie er nackt durch das sonnendurchflutete Zimmer geht, um seine Zigaretten zu holen. "Zu keinem Zeitpunkt im Verlauf ihres Lebens, falls überhaupt jemals, verwendete sie leichtfertig für einen Mann das Wort 'Hengst'. Aber das war er", heißt es im Buch.
In "Ein Festtag" erzählt Swift von jenem frühsommerlichen Tag im März, der schließlich Janes gesamtes Leben überstrahlen wird – von der märchenhaften Entwicklung des anfangs noch um Worte verlegenen Dienstmädchens hin zu einer gefeierten Schriftstellerin.
"Es war der 30. März. Ein Sonntag. Es war Muttertag, der damals 'Mothering Sunday' genannt wurde."

Beste Kritiken für den Roman

"Lassen Sie mich nachsehen, ob ich den Order mit dem Manuskript von 'Ein Festtag' finden kann", sagt Swift. "Na bitte. So sieht es also aus. Ziemlich unleserlich. Aber ich kann auf den ersten Blick erkennen, an welchen Stellen sich das Manuskript vom fertigen Buch unterscheidet: 'Vor langer Zeit', und dann 'Vor dem Krieg.' Das steht nicht im Roman, diesen spezifischen Hinweis auf den Krieg habe ich später also weggelassen."
In seinem Haus im Londoner Vorort Wandsworth steht Graham Swift vor dem Schreibtisch, in seinen Händen das Manuskript, und sagt:
"'Ein Festtag' hat keine Kapitel, nichts als die Abstände zwischen den Absätzen. So habe ich es beabsichtigt. Nichts, das den Lesefluss anhält."
Swift ist unter anderem der Autor von "Letzte Runde", des 1996 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Romans über vier Männer, die von London nach Margate pilgern, um die Asche eines verstorbenen Freundes im Meer zu verstreuen.
Für "Ein Festtag" bekam Swift die vielleicht besten Kritiken seiner Karriere.

Eine Feier der Wahrnehmung

Im Interview spricht er über den außergewöhnlichen Drive bei der Arbeit an "Ein Festtag". Das instinktive und freie, weder auf Notizen noch Entwürfe zurückgreifende Schreiben, das sich in der Struktur des zwar an einem einzigen Tag spielenden, aber zwischen Rück- und Vorausblicken auf Janes beinahe 100-jähriges Leben wechselnden Romans widerspiegele.
Swift beschreibt die Leichtigkeit und Freude der Arbeit, die vollkommen im Einklang gewesen sei mit der Lebensfreude, die Jane am Muttertag 1924 empfindet, als sie nackt durch das leere Anwesen der Sheringhams streift, nachdem Paul sich angezogen und sie verlassen hat, um in einem Hotel an der Themse seine begüterte Verlobte zum Lunch zu treffen. Das Ticken der Uhren und der Gesang der Vögel, der von draußen ins Haus dringt, während Jane durch die Zimmer geht. Die Sinnlichkeit ihrer Wahrnehmung. Das Leuchten der Landschaft, als Jane schließlich zurück zum Haus ihres Arbeitgebers radelt, der ihr etwas Schreckliches eröffnet, das ihrem Leben eine plötzliche Wendung gibt.
In "Ein Festtag" schildert Swift nicht nur die heimliche Intimität eines unvergesslichen Tages. Er zelebriert auch die Erotik einer die feinsten Sinneseindrücke in sich aufsaugenden Sprache, um "genau das einzufangen", wie es am Ende des Romans heißt, "was Lebendigsein bedeutete."
Swift sagt dazu: "Die Szene in Pauls Schlafzimmer und die Passagen, in denen Jane nackt durchs Haus geht, waren für mich schon beim Schreiben von einer unglaublichen Unmittelbarkeit und Präsenz. Es fällt mir nicht schwer, mit meiner Figur dort zu sein. Vielleicht ist es mir in 'Ein Festtag' auf besondere Weise gelungen, aber auch früher schon hatte ich den Eindruck, dass es beim Erzählen von Geschichten vor allem darum geht, den Leser in die Intimität eines anderen Lebens hineinzuziehen. Es geht darum, eine Erzählung, eine Story, die von anderen Leuten zu handeln scheint, zur Geschichte des Lesers zu machen."

Die Melancholie über ein im Verschwinden begriffenes England

"Graham wird sehr stark als Schriftsteller wahrgenommen, der über England und Englishness schreibt," sagt Vesna Goldsworthy, mit Swift befreundete Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. "Und in gewisser Weise handeln sowohl 'Waterland' als auch 'Letzte Runde', seine beiden wohl bekanntesten Romane, von unterschiedlichen Visionen dieser Idee des 'Englischen'", fügt sie an. "Weil Grahams Romane aus einem flüchtigen, außerordentlich genau beobachteten Moment der Gegenwart auf das blicken, was gerade verschwindet und Vergangenheit, Geschichte wird, haftet ihnen etwas Melancholisches an. Ich habe Grahams Werk immer als melancholische Erzählung über ein im Verschwinden begriffenes England verstanden. Sehen Sie sich zum Beispiel 'Ein Festtag' an – einen Roman, der in seiner Fähigkeit, diesen Augenblick zu erfassen, beinahe leuchtet."
"Ich glaube, sein Werk ist sehr englisch und das durchaus mit Absicht. Er will vermitteln, dass er über England und seine Menschen schreibt," findet auch seine deutsche Übersetzerin Susanne Höbel.
Und Swift entgegnet darauf: "Ich kann nicht anders als über England zu schreiben, weil ich englisch bin. Ich beschreibe das, was vor meiner Haustür liegt. Leben ist, was in einem bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort stattfindet. Manchmal, wie in 'Ein Festtag', auf eine sehr intime Weise. Aber das gilt für das Leben überall, weshalb ich hoffe, dass meine Romane nicht nur von englischen, sondern von universellen Dingen handeln."

"Solange es noch eine einzige Geschichte gibt"
Begegnungen mit Graham Swift
Autor: Thomas David
Ton: Thomas Monnerjahn
Regie: Beate Ziegs
Besetzung: Cristin König, Anika Mauer, Joachim Schönfeld und Axel Wandtke
Redaktion: Dorothea Westphal

Zum ersten Mal wurde das Feature im Juli 2017 ausgestrahlt.
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