Begegnungen entlang der Großen Mauer

08.10.2009
Der US-Journalist Peter Hessler hat die chinesische Provinz bereist. Herausgekommen ist ein unterhaltsames und lehrreiches Buch über das hinter den chinesischen Megacities oft vergessene Land.
So gern die Griechen Herodot berichten ließen von den Barbaren und seltsamen Ungeheuern am Rand der ihnen bekannten Welt, so gern lesen wir vom so roten wie frühkapitalistischen Riesenreich China. Von ihm weiß Peter Hessler allerlei Seltsames zu erzählen. Der US-Amerikaner unterrichtete von 1996 bis 1998 Englisch in China und war von 1999 bis 2007 der erste Peking-Korrespondent des angesehenen Magazins "The New Yorker". Aus diesen Jahren erzählen die drei langen Reportagen im Band "Über Land".

Der Titel ist treffend. Hessler macht den chinesischen Führerschein und fährt mit dem Auto aus Peking hinaus. Weil er dafür als Journalist eine Erlaubnis bräuchte, schläft er nicht in Hotels, die ihre Gäste der Polizei melden müssen, sondern im Zelt oder in Unterkünften für Lastwagenfahrer. Das Auto gibt er oft beschädigt zurück: Die Verkehrssitten sind rau, die Fahrer ungeübt. China motorisiert sich rasant. Immerhin gewöhnt sich Hessler bald das Bremsen ab, wenn Getreidegarben auf dem Asphalt legen: Verbotenerweise nutzen die Bauern Autos als Dreschflegel.

Hessler fährt zunächst entlang der Großen Mauer bis nach Tibet. Er scheint jeden Anhalter mitgenommen und mit jedem havarierten Lastwagenfahrer ein Schwätzchen gehalten zu haben. Die Fahrtberichte mit Landschaftsbeschreibungen, vielen Begegnungen und Exkursen zeigen eine Gesellschaft in starker Bewegung. Die von den Chinesen oft als Ziegelvorrat betrachtete und geplünderte Mauer rückt in den Hintergrund angesichts der entvölkerten und verarmten Dörfer neben ihr.

In einem dieser Dörfer mietet Hessler einige Jahre lang einen Zweitwohnsitz, wovon die zweite Reportage erzählt. Ihre Hauptperson ist Hesslers Nachbar, ein Bauer, der mit einem Restaurant reich wird, als die Pekinger die umliegenden Dörfer als Sommerfrische entdecken. Hessler erlebt die Konflikte des Wirtes mit den Behörden, seinen Parteieintritt, die schwere Erkrankung des Sohnes und dessen Einschulung in der nahen Stadt hautnah mit.

Die dritte Reportage kreist um eine Fabrik für jene Ringe, die BH-Träger miteinander verbinden. Hessel schildert, wie die Unternehmer ihr Fabrikgebäude innerhalb von 64 Minuten auf einem Blatt Papier konstruieren. Er verfolgt den Bau, die Einstellung von Arbeitern und die anfänglichen Schwierigkeiten mit der Maschine, bei der es sich um ein Produkt einer nicht gänzlich erfolgreichen Industriespionage handelt. Immer wieder unternimmt er Ausflüge in die Provinz, in der jede Stadt ein einziges Produkt, ob Socken, Kinderspielzeuge oder Knöpfe, in millionenfacher Ausführung herstellt und Sprengmeister Berge planieren für neue Gewerbegebiete, an denen sich die Behörden eine goldene Nase verdienen.

Ho Wei, wie Hessler in China genannt wird, schildert mit wachem Sinn zahlreiche unauffällige Details und seltsame Dialoge. Er weiß, dass in einem Land, in dem viel unausgesprochen bleibt, Gesten wichtig sind: Wer Zigaretten annimmt, geht eine Geschäftsbeziehung ein. Von den Menschen, zu denen er zum Teil jahrelang Kontakt hält, erzählt Hessler plastisch. Zuweilen etwas routiniert, aber keinen Augenblick langweilig wechselt er vom Vorder- zum Hintergrund und mischt Biografien, Kuriosa sowie gesellschaftliche, historische und ökonomische Exkurse. Der Fremde hat sich der Nordamerikaner weit geöffnet. Es ist ein unterhaltsames und lehrreiches Buch über das hinter den chinesischen Megacities oft vergessene Land.

Besprochen von Jörg Plath

Peter Hessler: Über Land. Begegnungen im neuen China
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Griese
Berlin Verlag, Berlin 2009
556 Seiten, 24 Euro