Begegnung mit der Tradition

Von Alexandra Mangel |
In „My City“, einem Projekt des „British Council“, haben Künstler aus fünf europäischen Ländern in fünf türkischen Städten Arbeiten eingerichtet. Es zeigt, wie Kunst im öffentlichen Raum funktionieren kann.
Konya im Zentrum Anatoliens, 700 Kilometer von Istanbul entfernt, eine der konservativsten Städte der Türkei. Hier, auf dem Marktplatz, im Schatten der Moschee, hat die polnische Künstlerin Joanna Rajkowska ihr Kunstwerk installiert: Textzeilen in drei Sprachen, die in einer Spirale auf das Pflaster geschrieben sind – man muss an ihnen entlang wandern, um sie zu lesen: Türkisch, deutsch – und ganz im Zentrum: Arabische Buchstaben – das alte, osmanische Türkisch, das Atatürk 1928 von einem Tag auf den andern durch das lateinische Alphabet ersetzten ließ. Eine radikale Sprachreform, die die Künstlerin beschäftigt hat.

Joanna Rajkowska: „”Der Gebrauch dieser Sprache an diesem Ort ist politisch aufgeladen. Wenn man das Osmanische Türkisch verwendet, ist man anachronistisch, konservativ und anti-republikanisch. Im Grunde gegen all die Reformen der 20er-Jahre. Es ist ein politisches Statement! Und es ist sehr, sehr wichtig, dass das Osmanische Türkisch die Sprache des Koran ist, des Heiligen Textes. Es war fast unmöglich, sie auf dem Pflaster anzubringen, denn wenn man darauf tritt, handelt man gegen die Heiligkeit dieser Sprache."“

Also hat Joanna Rajkowska den alten osmanischen Text mit Wasser bedeckt. Der Text ist Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“. Sein Essay über die Frage, wie die Sprache mit ihrer Bedeutung verbunden ist. Er hätte ihn in den Zwanzigern in Konya schreiben können, findet Joanna Rajkowska. Was bewirkt der verordnete Wechsel des Alphabets in einem ganzen Volk? Auf dem Marktplatz von Konya umstehen die Männer des Ortes die Textspirale – einer der Männer beginnt, die alten Buchstaben laut zu entziffern und vorzulesen:

Mann aus Konya: Rezitation des Benjamin-Textes

Die Umstehenden lauschen, nur sehr wenige Türken können die alte osmanische Schrift noch entziffern – es geht um die liebende Übersetzung, die durchscheinend ist, das Original nicht verdeckt. Nazan Ölcer, Direktorin des Museums der Sabhanci-Universität von Istanbul ist begeistert von der Wirkung des Werks.

Nazan Ölcer: „Ich meine, es ist sehr wichtig, so ein zeitgenössisches Kunstwerk in diese Stadt auf so geniale Weise zu bringen. Zum ersten ist es sehr zurückhaltend. Es soll nicht im Widerstand sein mit der beherrschenden Kultur, mit den beherrschenden Glaubensbekenntnissen und es berührt auch die Herzen der Leute, der Passanten. Heute habe ich die ganze Zeit die Einwohner der Stadt beobachtet, die mit Interesse den Text zu verstehen versuchten. Es ist eine Einladung, ein anderes Fenster für die moderne Welt zu entdecken.“

Um das möglich zu machen, hat das British Council in fünf türkischen Städten seit zwei Jahren Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit geleistet, Gespräche und Podiumsdiskussionen organisiert, entscheidend geholfen haben Partner vor Ort. Es sollte nicht darum gehen, westliche Gegenwartskunst mit großer Geste in anatolische Städte zu setzen. Sondern um die Begegnung mit der Tradition vor Ort: In Konya war das einmal der tolerante Islam Mevlana Rumis, von dem die türkischen Nationalisten heute nicht mehr hören wollen, wie Yassin Aktay, Soziologie-Professor an der Seljuk-Universität von Konya erklärt.

Yassin Actay: „Seit einiger Zeit leidet die türkische Kultur unter einer starken nationalistischen Bewegung. Aber in der islamischen Kultur, im Koran, gibt es einen Vers: Wir haben Euch unterschiedlich erschaffen, damit Ihr Euch begegnen könnt!

Wenn Ihr alle gleich wärt, könntet Ihr Euch nicht begegnen. Dann könntet ihr nichts voneinander erfahren und lernen, aber wenn ihr euch unterscheidet, gibt es die Möglichkeit, euch zu begegnen, Euch kennenzulernen!“

Fast 1000 Kilometer von Konya entfernt, im Nordosten der Türkei, in Trabzon am Schwarzen Meer. Das Cömlekci-Viertel ist das älteste und ärmste der Stadt. Ein Ruinenmeer, dessen Abriss die Stadt schon beschlossen hat, das Viertel soll „aufgewertet“ werden.

Nicht nur der Ruf des Muezzin dringt an diesem Abend zu den Bewohnern, sondern auch das Licht einer Leuchtschrift der finnischen Künstlerin Minna Henriksson, angebracht an einer Autobahnbrücke, auf die die Bewohner tagtäglich schauen. Auf Türkisch steht da: „Der, der liebt, spricht die Wahrheit. Und muss Ungerechtigkeit anklagen.“ Minna Henriksson hat die Textzeile in einem Song der türkischen Rockgruppe „Üc Hürel“ gefunden, die sich in den Siebzigern in Trabzon gegründet hat.

Minna Henrikson: „”Den Namen Trabzon habe ich das erste Mal im Zusammenhang mit dem Mord an Hrant Dink gehört, der armenische Journalist, der 2007 ermordet wurde – der Mörder kam aus Trabzon. Ich hatte auch gehört, dass es in der Türkei große Unterschiede gibt: Während eine Stadt wie Mardin den Ruf hat, sehr multikulturell zu sein, gilt das für Trabzon überhaupt nicht! Der Nationalismus ist hier ein großes Problem – also habe ich beschlossen, mich mit diesem Image von Trabzon auseinanderzusetzen."“

Dafür hat Minna Henriksson mit Jugendlichen aus Trabzon gearbeitet, ihnen Kameras gegeben, ihre Texte und Gedichte in einem Buch veröffentlicht. Um die Liebe zu Trabzon und zum Schwarzen Meer, um Hoffnungen für die Zukunft geht es da. Ein paar Jungs haben eine Band gegründet, die zur Eröffnung auf dem Marktplatz spielt.

Die Reise zu den fünf Kunstwerken ist nicht nur eine Reise durch sehr verschiedene Regionen der Türkei – es ist auch eine Zeitreise durch die Geschichte. Und tatsächlich hat der britische Künstler Mark Wallinger 1500 Kilometer weiter westlich von Trabzon eine Zeitmaschine installiert. Eine Kammer aus rostigem Metall auf der Hafenpromenade von Canakkale, an der Meerenge der Dardanellen, die die Grenze zwischen Europa und Asien markiert. Hier kämpften die Türken 1915 gegen Briten, Australier und Neuseeländer und erklärten ihren Sieg zur Geburtsstunde der modernen Türkei.

Mark Wallinger: „Als ich zuerst für dieses Projekt angesprochen wurde, fand ich es gradezu einschüchternd – die ganze Geschichte, die Mytologie dieses Ortes, wo Europa und Asien miteinander gekämpft haben. Es erschien mir gradezu überladen mit Bedeutung, sodass es mir schwer fallen würde mit diesem Ort zu arbeiten!

Wir schauen hier genau auf die Grenze zwischen Osten und Westen und meine Arbeit funktioniert fast wie eine Camera Obscura, man läuft in eine dunkle Kammer hinein und erst denkt man, man schaut durch ein Fenster hindurch, auf die Szenerie draußen, aber in Wirklichkeit wird man 24 Stunden zurückversetzt, die ganze Zeit!“

Genau einen Tag lässt Mark Wallingers Kino seine Besucher zurück durch die Zeit reisen, die Zeitspanne, die für James Joyce „Ulysses“ eine Lebensreise war, und die in der Schlacht von 1915 den Verlust Tausender Leben bedeutete. Wie das Angebot zur Zeitreise in Canakkale angenommen wird, muss sich erst noch zeigen.

Das Projekt des British Council ist jedenfalls ein mutiger Versuch: Es zeigt mit seinen besten Werken, wie Kunst im öffentlichen Raum funktionieren kann: Nicht als reine Provokation, nicht als Dekoration, sondern als Begegnung. Eine Strategie, die nicht nur in Anatolien funktionieren könnte.