Begegnung mit dem Jenseits

04.01.2007
Charley Benetto, der Protagonist in Mitch Alboms Roman "Nur einen Tag noch", will sich in den Tod stürzen. Doch anstatt sich ins Jenseits zu befördern, überlebt er und begegnet auf dem schmalen Grad zwischen Leben und Tod seiner verstorbenen Mutter.
Charley (Chick) Benetto ist am Ende. Seine Ehe ist ohne viel Getöse zerbrochen, seine Tochter hat sich von ihm abgewendet, er hat seinen Job verloren und er trinkt viel zu viel. Kurz entschlossen steigt er auf einen Wasserturm, um von dort in den Tod zu springen. Wie durch ein Wunder überlebt er jedoch schwer verletzt. Und traut seinen Augen kaum, denn er trifft auf seine Mutter Posey, die längst tot ist. Ihr gegenüber hegt Charley große Schuldgefühle, denn er hat sie an ihrem letzten Geburtstag, einen Tag vor ihrem Tod, voller Selbstsucht, wie er meint, im Stich gelassen.

Dafür will er sie jetzt um Verzeihung bitten, aber Posey sieht dafür gar keine Notwendigkeit, denn ein großer Teil der Schuld geht auf das Konto von Charleys Vater, der die Familie Hals über Kopf verlassen hatte, als Charley ein Jugendlicher war. Posey hat ohnehin etwas anderes mit ihrem Sohn vor und nimmt ihn mit auf eine nachdenklich stimmende "Reise", auf der sämtliche Probleme der Familie Benetto absolut aufwühlend noch einmal an die Oberfläche kommen.

Was so klingt wie ein Fantasy-Roman, in dem eine "untote Mutter" noch einmal in Erscheinung tritt, um die verkorkste Familiengeschichte auf gerade Bahnen zu lenken, ist – je nach Betrachtung – durchaus kitschig. "Nur einen Tag noch" ist ohne Zweifel ein sentimentaler Roman, in dem eine Feststellung im Mittelpunkt steht. Diese Feststellung lautet: "Es gibt keine größere Liebe als die zwischen Mutter und Kind", selbst dann, wenn das Kind längst ein erwachsener Mensch ist. Natürlich glaubt man als Leser keinen Moment daran, dass die Mutter des gescheiterten Helden Charley wieder unter den Lebenden ist, vielmehr merkt man recht schnell, dass sich Charley auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod befindet und – seien es wirre Todes-Phantasien oder sei es einfach eine clevere Konstruktion des Autors – dass Charley hier die einmalige Chance erhält, sein Leben Revue passieren zu lassen. Das kann man Kitsch nennen, und wenn man sich auf den Kniff des Autors nicht einlässt, dann ist es auch Kitsch.

Was das Buch allerdings aus der Gruppe seicht-kitschiger "Es-wird-sowieso-alles-gut"-Romane heraushebt, ist seine Fähigkeit, die Hauptfigur sehr sachlich, fast sogar technisch, über sein eigenes Leben nachdenken zu lassen. Plötzlich steht nicht mehr allein Charleys Schuldgefühl seiner Mutter gegenüber im Vordergrund, sondern Mitch Albom beschreibt sehr analytisch, ja nahezu unparteiisch eine Familiensituation, die aus den Fugen geraten ist. Der Leser kann sich hier wieder finden: Das schlechte Gefühl, wenn man einem verstorbenen Menschen noch etwas hat sagen wollen, die aus der Gegenwart heraus oft ernüchternde Analyse des eigenen Tuns in der Vergangenheit, verpasste Gelegenheiten, falsche Entscheidungen oder die fragwürdige Eigenschaft Egoismus. Das Buch kann den Leser berühren, wenn er feststellt, dass er ja auch nicht besser als Charley Benetto ist.

Trösten kann der Roman jedoch nicht minder: Man ist ja gar nicht immer schuld daran, wenn in der eigenen Familie oder in der unmittelbaren Umgebung etwas schief läuft. Charley wird von seinem Vater, bevor dieser die Familie verlässt, regelrecht zu einer Baseballkarriere gezwungen und merkt viel zu spät, dass er damit der Mutter weh tut, weil er ständig väterliche Anerkennung sucht. Man müsse sich schon entscheiden, ob man ein "Papakind" oder ein "Mamakind" werden möchte, wird Charley von seinem Vater auf die Probe gestellt. Hier wird dem Leser klar, dass es nicht Charleys Schuld ist, wenn er sich daraufhin Anordnungen seiner Mutter widersetzt. Vielmehr ist er als Kind Opfer eines Entscheidungsdrucks geworden, dem beide Eltern ihn niemals hätten aussetzen dürfen.

"Nur einen Tag noch" ist ein ausgesprochen amerikanisches Buch. Keine 250 Seiten, knappe Sätze, klare Sprache und punktgenaue Konfrontation mit einer handvoll Fragen ohne viele Zwischentöne.
Das Buch, im September in den USA erschienen, kletterte schneller als die vorigen Bücher des Autors auf Platz eins der Bestseller-Liste in der New York Times. Es wird perfekt vermarktet, das Hörbuch wurde vom Autor selbst gesprochen und der Roman verspricht durch starke Gefühle einen hohen Unterhaltungswert ohne allzu hohen Anspruch. Außerdem ist Mitch Albom in Amerika wirklich prominent. Sein Roman "Dienstags bei Morrie" (1998) schlug nach der Vorstellung in Oprah´s Book Club regelrecht ein, wurde mit Jack Lemmon verfilmt und war 1999 der meistgesehene Fernsehfilm in den USA.

2005 erschien der zweite Roman: "Die fünf Menschen, die Dir im Himmel begegnen". Wieder ein Bestseller, die Kritiker allerdings fanden ihn zu sentimental, ein Schicksal, das dem neuen Roman auch wieder blühen dürfte.

Mitchell David Albom wurde am 23. Mai 1958 in New Jersey geboren, ist Autor, Sportjournalist, Radiomoderator, Fernsehkommentator und Mitglied einer Rockband, die nur aus Schriftstellern besteht (The Rock Bottom Remainders).

Nach seinem Erfolg mit "Dienstags bei Morrie" gründete er eine Hilfsorganisation, die zugunsten der Detroiter Bevölkerung allmonatlich ein Projekt durchführt. Auf diese Weise entstanden Obdachlosenunterkünfte, Suppenküchen, Alten- und Waisenheime, und Mitch Albom gilt in Detroit als Synonym für großes freiwilliges Engagement. Auch das hilft sicher seinen Büchern.

Rezensiert von Roland Krüger

Mitch Albom: Nur einen Tag noch
Roman, Goldmann-Verlag, 2006
Deutsch von Sibylle Schmidt
235 Seiten, 18,00 Euro