Befreiungstheologe Ulrich Duchrow

Warum die Reformation radikaler werden muss

Playmobil-Figur von Martin Luther zum Reformationsjahr 2017
Playmobil-Figur von Martin Luther zum Reformationsjahr 2017 vor der Thesentür an der Schlosskirche in Wittenberg © picture alliance / Universität Jena
Moderation: Philipp Gessler · 08.01.2017
Die evangelische Kirche vermarktet das Reformationsjubiläum mit Luther-Gartenzwergen und Ähnlichem. Der Theologieprofessor Ulrich Duchrow will stattdessen die Systemfrage neu stellen. Mit der Initiative "Radicalizing Reformation" fordert er, den Kapitalismus zu überwinden, der Urheber zahlreicher Krisen sei.
Philipp Gessler: Das mit dem schnöden Mammon, dem leidigen Geld, der Kohle, dem Zaster, Sie wissen schon, das ist so eine Sache. Geld regiert die Welt, sagen viele, und der evangelische Professor Ulrich Duchrow, einer der führenden Befreiungstheologen, würde dem zustimmen – leider, denn wie Jesus ist er der Meinung, dass das Geld uns nicht beherrschen darf. Duchrow hat mit anderen Theologinnen und Theologen aus der ganzen Welt schon mehrere Tagungen organisiert, auf denen diese Botschaft Jesu, aber auch die Reformation und die Theologie Martin Luthers ins Heute übertragen wurde. Was bedeutet das etwa für die internationalen Finanzmärkte?
"Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise", so nennt der 81-jährige Theologe das Programm dieser Tagungen. In Wittenberg - wo sonst? - treffen sich engagierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an diesem Wochenende wieder. Meine erste Frage an Ulrich Duchrow war, wie "Radicalizing Reformation" zu verstehen sei: War die Reformation nicht radikal genug – oder ist es die Erinnerung an sie?
Ulrich Duchrow: Die Reformation selber war radikal, aber in der Reformation gab es dann zunehmend auch Tendenzen, die nicht radikal genug waren. Und später ist aus Luther insbesondere dann ein sehr konservativer Kollege geworden. Und das heißt, man muss sich neu erinnern, wie dieses Gedenken geschehen soll.
Gessler: War nicht alles an Luther konservativ? Also, er war doch so sehr ein Mann des Mittelalters mit seinen … sagen wir mal, mit seiner Judenfeindlichkeit zum Ende hin, mit seinem Schimpfen über die Bauern, mit seiner Affinität auch zur Gewalt? Das ist doch im Grunde alles konservativ?
Duchrow: Das ist zwar dann der Eindruck, der dann später entstanden ist, das stimmt aber überhaupt gar nicht am Anfang. Insbesondere in einer Frage, die heute nach wie vor hoch aktuell ist, er hat nämlich mit seinen Thesen bereits bekanntlich gegen die Käuflichkeit des Heils protestiert und hat dann später sehr intensiv den Frühkapitalismus, den entstehenden Frühkapitalismus und seine Akteure kritisiert. Und genau das wird heute in Deutschland und im Westen überhaupt verschwiegen.
Gessler: Hätte er denn wirklich das auch so gewertet wie Sie? Also, im Nachhinein kann man ja sagen, manche Leute tun Dinge, die wir heute anders verstehen, als sie es vielleicht selber verstanden haben. Aber war wirklich sein Anliegen nicht in erster Linie ein theologisch-religiöses?
Duchrow: Ja, aber das Theologische wird ja bekanntlich in der Bibel und in der christlichen Kirche mit dem ersten Gebot verhandelt. Und das erste Gebot legt er im großen Katechismus aus so, dass man Gott nicht verstehen kann, wenn man - wie er sagt - seinen Widerspieler, also den Gegengott nicht versteht. Und den nennt er genau wie Jesus damals im Römerreich Mammon. Das heißt, er bezeichnet Mammon als den eigentlichen, allgemeinsten, wie er sagt, Gott auf Erden, und wenn man dann über Gott redet, kann man nur gleichzeitig sagen: Der Gott der Bibel ist das Gegenteil von dem, was in der Welt herrscht, nämlich Mammon. Und das ist nun heute, denke ich, ziemlich aktuell, wird aber von der Kirche im Reformationsjubiläum so nicht klar gesagt.

"Wer verursacht Krieg, Terror und die Klimakatastrophe?"

Gessler: Das heißt, wir können aus der Reformation heute lernen, dass die Kirche in gewisser Weise radikaler werden muss?
Duchrow: Ja, auf jeden Fall. Wobei dann noch dazu zu sagen ist, dass an sich diese Position Luthers inzwischen gesamtökumenisch erreicht ist. Wir haben seit den 80er-Jahren im konziliaren Prozess, dann sogenannten Bekenntnisprozess in allen evangelisch-orthodoxen Gremien – also Weltrat der Kirchen und Reformierter Weltbund, Lutherischer Weltbund – diese klare Verwerfung des imperialen Kapitalismus vollzogen. Und im Jahre 2013 ist das dann bei der letzten Vollversammlung des Ökumenischen Rates in vielen Dokumenten dargestellt worden. Und in dem gleichen Monat, November 2013, hat der Papst Franziskus seinen berühmten apostolischen Brief "Die Freude des Evangeliums" geschrieben und darin steht der Satz: Diese Wirtschaft tötet, darum Nein zur Herrschaft des Geldes.
Gessler: Sie glauben also nicht, dass das – das wird ja dem Papst oft vorgeworfen, weil zumindest die katholische Kirche ja immer noch relativ reich ist –, dass dieser Satz, "diese Wirtschaft tötet", mehr ist als ein Lippenbekenntnis? Das glauben Sie?
Duchrow: Ja, allerdings, bei Papst Franziskus allemal. Denn er hat ja das Ganze ausgeführt in dem apostolischen Brief. Er hat dann weiter die Enzyklika "Laudato Si‘" nachgeliefert, worin die ganze Wirkung dieser Herrschaft des Geldes auf die Natur dargestellt wird und gleichzeitig auf die Spaltung zwischen Arm und Reich und die Zerstörung der Armen. Das heißt, das ist sein Herzensanliegen, das ist eine wesentliche Botschaft. Er spricht zusammen mit den Jugendlichen, also bei den Weltjugendveranstaltungen, bei den Veranstaltungen mit den sozialen Bewegungen immer genau darüber und spezifisch auch die Wirkung dieses Systems auf die Herstellung von Flüchtlingen, ja? Das ist ja auch unser Hauptthema jetzt in Wittenberg. Also, wir fragen eben: Wer verursacht eigentlich die Krisen, die Menschen in die Flucht treiben? Also die soziale Ungleichheit, Krieg, Terror und die Klimakatastrophe. Und da sind wir wieder beim Thema.
Gessler: Jetzt unterstützt die EKD die Tagungen von "Radicalizing Reformation", aber sie sind nicht öffentlich, zumindest zum Teil nicht öffentlich. Da hat man den Gedanken: Schämt sich die EKD dieser Tagungen? Will sie etwa mit diesen radikalen Ansichten besser nicht direkt in einen Zusammenhang gebracht werden?
Duchrow: Das hoffe ich nicht. Im Übrigen müssten Sie da die Vertreterinnen und Vertreter der EKD fragen und nicht mich. Zunächst mal ist klar: Wir haben unser Projekt im Jahr 2010 begonnen, als wir wahrnahmen, dass die EKD spezifisch das Reformationsjubiläum vermarkten will, mit Schokoladen-Luther, inzwischen auch Playmobil-Luther und so weiter, Gartenzwerge in Form von Luther und dergleichen. Und da haben wir gesagt, da müssen wir versuchen, noch etwas Kritischeres entgegenzustellen und vor allen Dingen die tolle Chance zu benutzen, die dieses Jubiläum darstellt, dass wir nämlich diese Systemfrage neu stellen. Luther stand ja am Anfang dieser modernen Zivilisation, die jetzt die Erde zerstört, und wir stehen sozusagen am Ende, weil diese Selbstzerstörung fortschreitet. Und das war unser Ansatz; deshalb haben wir ja den Titel unserer Unternehmung nicht nur genannt "Die Reformation radikalisieren", sondern Gedankenstrich: "– provoziert von Bibel und Krise".
Das heißt, wir sehen das Radikalisieren – radix ist die Wurzel – als Zurückführen auf die kritische prophetische Perspektive der Bibel, genau wie Luther; und dann aber im Zusammenhang, dass jeder Rückgriff auf die Bibel immer lebendiges Wort – viva vox, sagte Luther – sein muss, dass entsprechend auch diese kritische Botschaft heute zu hören ist. Und genau das haben wir versucht in diesen Jahren seither. Wir haben fünf Bände produziert, 94 Thesen, die alle diesem Ziel dienen, dass die Brisanz dieser reformatorischen Botschaft auch heute gehört wird, auf der anderen Seite aber auch massiv zu kritisieren ist, was da fehlgelaufen ist in der Reformation und auch nach der Reformation.

"So, wie es jetzt läuft, kann es nicht auf Dauer weitergehen"

Gessler: Sie machen ja den globalisierten Kapitalismus als den großen Zerstörer der Menschen und der Natur aus. Das ist jetzt ein tatsächlich mächtiger Gegner, den Sie da haben. Welche Hoffnung haben Sie denn, dass er überwunden werden könnte?
Duchrow: Ja, das ist natürlich die zentrale Frage. Also, wir sehen, das … Ich sage jetzt einfach mal wir, also, das sind diese 40 Wissenschaftlerinnen weltweit, aber auch inzwischen dann konkrete Praxispartner, wir haben ja die letzten zwei Jahre nach den Bänden, der Studien praxisbezogen konkrete Ansätze gewählt mit betroffenen Menschen. Also, wenn wir jetzt diese Frage stellen, dann sagen wir ungefähr Folgendes: Langfristig muss die kapitalistische, imperiale Zivilisation überwunden werden, denn sonst wird es zunehmend das Leben auf der Erde oder jedenfalls ein Leben, das lebenswert ist, nicht mehr geben. Der klarste Beweis dafür ist die Klimakatastrophe. Dass aber natürlich eine solche lange Zivilisationsentwicklung nicht von heute auf morgen einfach umgeschaltet werden kann; das heißt, wir müssen schauen, welche konkreten kleinen, kurzfristigen Schritte, aber auch mittelfristigen Schritte möglich sind. Dazu gehört zunächst das klare Nein. Und es ist zu beobachten – ich komme ja viel an der Basis herum, in Gemeinden und so weiter –, das hat sich ganz klar verändert, das Bewusstsein, dass nämlich deutlich ist: So, wie es jetzt läuft, kann es nicht auf Dauer weitergehen. Das heißt, dieses Bewusstsein ist gewachsen.
Zweitens, es gibt ganz viele, weltweit, lokale, und regionale Initiativen, die das andere schon leben. Also, die zum Beispiel solidarisch wirtschaften vor Ort. Das geht. Also, mit regenerativen Energien, mit genossenschaftlichen Ansätzen und so weiter. Dann gibt es aber auch klare Perspektiven mittelfristig, wo man hoffen kann, dass mehr Menschen wahrnehmen, wo und wie wir uns ändern müssen. Und der Kernpunkt ist, dass Grundversorgungsgüter und -dienste nicht privatisiert werden dürfen, sondern politisch, demokratisch, gemeinsam bewirtschaftet werden. Das können Sie daran sehen, dass da ein zunehmendes Bewusstsein entsteht und auch Handlungsbereitschaft: Als die EU vor zwei Jahren wieder einmal Wasser privatisieren wollte, war in ein paar Monaten eine Unterschriftensammlung mit 1,5 Millionen Unterschriften. Und die EU hat das zurückgezogen.
Das heißt also, wo Menschen direkt betroffen sind wie in den Grundversorgungsgütern – also Transport, Gesundheit, Wasser und so weiter –, dass an diesen Stellen Menschen inzwischen gelernt haben, dass hier rein profitorientiertes Wirtschaften in die Katastrophe führt. Also, was ich damit sagen will, ist, dass wir in Fristigkeiten denken müssen. Langfristig muss die imperiale kapitalistische Zivilisation überwunden werden, aber wir können sozusagen ansetzen an konkreten Punkten und darauf hinsteuern.

"Die Gegenkräfte sind noch zu stark"

Gessler: Jetzt ist ja Ihre Kapitalismuskritik so formuliert, dass manche den Eindruck haben, das kenne ich doch schon länger. Das sind sozusagen Formulierungen, die zum Teil aus den 70er-, 80er-Jahren kommen. Haben Sie denn den Eindruck, dass auch junge Leute mit dieser radikalen Kapitalismuskritik etwas anfangen können?
Duchrow: Das können Sie daran sehen, dass niemand erwartet hätte, dass in den USA ein Bernie Sanders fast gegen die etablierte Hillary Clinton gesiegt hätte. Und jeder hat hinterher in der Analyse lesen können, dass, wenn Bernie Sanders gegen Trump angetreten wäre, Bernie Sanders gewonnen hätte. Und Sie haben das gleiche Phänomen in England, das kommt bloß in Deutschland etwas spät an, weil in Deutschland eine gewisse spezifische Tradition dadurch herrscht, dass wir eben das Problem DDR in der direkten Nachbarschaft hatten und da sozusagen ideologisch einfach dann immer gesagt wird: Wenn du Alternativen willst, geh doch nach drüben! Also, das heißt, diese falsche Vorstellung, die einzigen Alternativen seien die damaligen Verhältnisse in der DDR gewesen, und das ist natürlich Unsinn.
Von daher gesehen denke ich, dass solche Anzeichen wie Bernie Sanders und Corbyn in England zeigen, dass Menschen sehen: Es muss anders werden und wir werden das versuchen. Aber noch sind die Gegenkräfte zu stark und vor allen Dingen die Verführung durch den Populismus; dass eben entsprechend dann einfache Lösungen vorgeschlagen werden und die Leute auf sich selber zurückfallen, also AfD in Deutschland und so weiter. Das heißt also, da geht die eigentliche Entscheidungsschlacht und deshalb ist es entscheidend, dass Menschen wieder verstehen, was wirklich abläuft, und auch praktizieren lernen, wie man es anderes machen kann.
Gessler: Okay, vielen Dank! Das war ein Gespräch mit Ulrich Duchrow. Die fünfteilige Buchreihe "Die Reformation radikalisieren" können Sie erhalten unter www.lit-verlag.de. Dort kann man auch eine E-Mail hinschicken, an diesen Verlag: vertrieb@lit-verlag.de.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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