"Bedürfnis nach kollektiver Identität"

Von Knut Cordsen |
In der Hanns-Seidel-Stiftung wird seit geraumer Zeit eine Werte-Debatte geführt. Unter dem Titel "Werte 21" wird der Frage nachgegangen, was eigentlich die deutsche Identität ausmacht. Am Donnerstag war nun Hagen Schulze, der Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London, in München zu Gast. Seine These: Gerade in Umbruchszeiten wachse das Bedürfnis nach einer kollektiven Identität.
Im Franz-Josef-Strauß-Saal der Hanns-Seidel-Stiftung, Lazarettstraße 33, München, wird seit geraumer Zeit eine Werte-Debatte geführt. Titel: "Werte 21". Geht da es nicht um Leberwerte - keine Maßkrüge werden geschwenkt, kein Bier, die Stimmung denkbar nüchtern und also überhaupt nicht alkoholgeschwängert - aber irgendwie dreht sich alles um den Patienten Deutschland, der nach Meinung der CSU darnieder liegt, weil etwas mit seinen Werten im 21. Jahrhundert nicht stimmt. Krisenversehrt ist er, den man da behandeln will – von wirtschaftlichen Existenzängsten ebenso gepeinigt wie von der Frage, wie es nun weitergehen soll.

Am Donnerstagabend war Hagen Schulze, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London zu Gast bei der Hanns-Seidel-Stiftung und hielt eine vernünftige Rede, in der er zunächst einmal feststellte, dass Werte-Debatten mitsamt der Frage, was eigentlich die deutsche Identität ausmacht, immer dann auftauchen, wenn man sich in Umbruchszeiten befindet. In einer solchen befindet sich die Bundesrepublik gerade wieder einmal – in ökonomischer, auch demographischer Hinsicht, und, so Hagen Schulze, die heutige Suche nach Identität ähnele der Phase nach 1989 sehr.

"In solchen Zeiten wächst das Bedürfnis nach kollektiver Identität."

Lange Zeit sei die Bundesrepublik "historisch abstinent" gewesen, so Schulze, das habe sich geändert, was allerdings nicht bedeutet, dass die Deutschen nun geschichtstrunken seien und von nationalem Bewusstsein womöglich besoffen. Das genaue Gegenteil ist nach Meinung Hagen Schulzes der Fall: Der "Geschichtsfelsen Nationalsozialismus", wie er sagte, biete eine - freilich negative - Identifikationsfläche.

"Gerade die Katastrophe des Nationalsozialismus gehört zu den Erinnerungen, die die Deutschen zusammenhalten, und zwar in hohem Maße. Hier sitzt uns unsere Geschichte wirkungsmächtig im Nacken und fordert unsere Anteilnahme. Zur geschichtlichen Identitätsfindung der Deutschen gehört eben nicht nur Zustimmungsfähiges, und die Stimmen, die fordern, Schluss mit der Erinnerung an diesen Teil unserer Vergangenheit zu machen, unterschätzen die traumatische Kraft der Erinnerung an die Verbrechen, die von Deutschen und im Namen von Deutschen geschehen sind. Der Versuch, hier auszusteigen, ist mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt, wie jeder weiß, der sich längere Zeit im Ausland aufgehalten hat; denn was uns Kontinuität verschafft, ist ja nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern auch der Blick unserer Nachbarn auf unsere Vergangenheit und Geschichte."

Bedauerlicherweise buk Hagen Schulze an diesem Abend viele Allgemeinplätzchen, etwa, wenn er zu verstehen gab, dass die Identität Deutschlands vornehmlich eine kulturelle sei und sich die Deutschen über ihre "Ikonen des nationalen Gedächtnisses" definierten.

"Das gemeinsame Erbe der Erinnerung ist in Deutschland vor allem mit Dichtern und Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern verbunden. Hier findet sich am ehesten ein Kanon von Namen und Werken, die den Wechsel von Ideologien und Regimes überdauert haben, von Bach bis Wagner, von Dr. Faustus bis Einstein, von Goethe bis Karl May."

Ja mei. Gern hätte man gehört, wie Hagen Schulze diffuse mentale Motivationskampagnen wie die "Du bist Deutschland"-Aktion einschätzt. Aber dazu wollte sich der Historiker nicht äußern, zu "zeitnah", das Thema, wahrscheinlich. Stattdessen sprach Schulze davon, dass eine "transatlantische Trivialkultur" das historische Gedächtnis bedrohe, und deutsche Identität sich ebenso auf "Grimms Märchen" wie Willy Brandts Kniefall in Warschau gründe, letzteres in der Hanns-Seidel-Stiftung sicherlich eine immer noch bemerkenswerte Aussage, auf die Fußball-Bundesliga genauso wie auf Albert Einstein. Das kam in seiner Banalität dann schon den "Du bist Johann Wolfgang von Goethe"-, "Du bist Alice Schwarzer"- bzw. "Du bist Beate Uhse"-Plakaten verdächtig nahe. Es gebe eben viele ganz unterschiedliche "Identifikationsknoten", so Hagen Schulze.

"Die Zahl solcher Identifikationsknoten, auch 'Erinnerungsorte' genannt, ist außerordentlich groß: alles Kristallisationskerne des kollektiven Gedächtnisses, von ganz unterschiedlichem Gewicht, sehr unterschiedlich bewertet, vieles furchtbar trivial, anderes kaum noch erinnert, dem Zugriff der Sinnstifter und Manipulateure preisgegeben und dennoch ein Netz von materiellen und immateriellen Erinnerungsorten, das das nationale Bewusstsein in einem ungenau bestimmbaren, aber sehr profunden Sinne zusammenhält. Wir haben erst damit angefangen, in Deutschland eine solche Topographie des gemeinsamen kulturellen Bewusstseins zu entwickeln, wie dies in Frankreich von Pierre Nora mit seinen "lieux de mémoire" bereits geschehen ist."

Am Ende schloss Schulze: Die Deutschen hätten viele Möglichkeiten zur Identifikation, und deshalb auch keine einheitlich zu bestimmende Identität.

"Mit der Wirksamkeit der Historiker und ihrer Produkte in der Öffentlichkeit ist es nicht weit her, muss ich leider zugeben."

Irgendwie kein Wunder, wenn Professoren sich so um Stellungnahmen drücken und auf die Frage einer Studentin der interkulturellen Kommunikation, worin sie denn nun bestünden, die deutschen Werte, die deutsche Identität, lapidar entgegnen, wie Hagen Schulze dies tat: Das sei ein so umfassendes Thema, darüber müsse er eine Vorlesung halten, jede andere Antwort sei "notwendigerweise falsch".