Bedrückende Lust

30.03.2007
"Hilflos" ist in Barbara Gowdys gleichnamigem Roman nicht nur die vom dicken Mechaniker Ron entführte, neunjährige Rachel. Sondern auch der pädophil veranlagte Ron, der seine Sehnsüchte kennt und hasst und sich selbst zum Retter des Mädchens stilisieren will. Ein raffiniertes Buch der Lebenslügen, das auf simple Horrorszenarien verzichtet und dabei hoch spannend ist.
Die kanadische Autorin Barbara Gowdy ist wahrlich nicht zimperlich in der Wahl ihrer Themen und überaus delikat in der Ausführung. Zerstörungssucht und Liebesverwüstungen werden in ihren Romanen in filigran schöner Manier gemalt.

In ihrem neuen Roman geht es um Kindesentführung, um verbotene Männerlust auf kleine Mädchen. Und würde man Barbara Gowdy nicht kennen, scheute man sich wohl, das Buch überhaupt in die Hand zu nehmen - aus Furcht vor Unzumutbarem. Doch die Autorin ist viel zu gescheit und gewitzt, um sich auf simple Horrorszenarien einzulassen.

Ron, der pädophile Kindesentführer, ist daher auch kein Monster, sondern eine überaus komplexe Figur. Ein fetter Mechaniker, 37 Jahre alt, der kleine Mädchen liebt - und Staubsauger. Ron hat einen Reparaturladen für Elektrogeräte und eine Sammlung antiker Staubsauger – das ist die Passion, in die er sich stürzt, wenn die andere, die verderbliche, ihn lockt. Er kennt seine sündhaften Triebe und bekämpft sie. Hat sich sogar eine Freundin gesucht, die keine Kinder bekommen kann. Denn dann hätte er womöglich eine Tochter und wüsste nicht, was geschähe.

Hin und wieder fährt er bei Schulschluss an Mädchenschulen vorbei und ergötzt sich – weiter ist er noch nie gegangen. Bis er Rachel sieht. Das Mischlings-Mädchen mit der goldbraunen Haut, dem blonden Lockenkopf und den riesigen blauen Augen. Dünnbeinig, neun Jahre alt und außergewöhnlich schön. Er verliebt sich in sie. Väterlich natürlich. Er will sie. Er will sie retten.

Denn er weiß, dass die Mutter nicht genug auf sie aufpasst. Im Gegenteil, sie sogar singen lässt in einer Bar - vor fremden Männern. Das ist fahrlässig, fast schon Missbrauch in seinen Augen. Er weiß ja, was diese Männer wollen. Weiß es nur zu gut. Er wird das Kind schützen - und dafür muss er es haben.

Das ist ein raffiniertes Szenario für ein obszönes Thema. Ein Mann, der die Wirklichkeit seinen Bedürfnissen anpasst, seine abartigen Lüste hineinprojiziert in andere Männer, um aus sich einen hehren Retter zu schmieden. Der ein Kind entführt, um es in Sicherheit zu bringen, und dann wie ein Süchtiger um den Stoff herumschleicht und heldenhafte Kräfte mobilisieren muss, um nicht zuzugreifen.

Deshalb muss auch Nancy ins Spiel kommen. Kaum hat Ron das Kind entführt und bei sich im Keller eingeschlossen - der neu und mädchenhaft eingerichtet ist mit Flauschteppich, Himmelbett und Stofftieren - ruft er seine Freundin Nancy an. Er braucht Hilfe.

Und Nancy, die abgetakelte Kellnerin, wird ihm helfen. Sie liebt ihn, sie möchte ihn heiraten, und vor allem wäre sie so gern eine Mutter. Dies ist ihre Chance. Außerdem - wie passend - ist Nancy als Kind missbraucht worden. Sie wird wachsam sein. Ron baut kluge Barrieren gegen seine perverse Lust, von der er so verzweifelt glauben möchte, es sei reine Zärtlichkeit. Es ist auch ein Buch über Lebenslügen.

Und vor allem ein Buch, das einem den Atem raubt. Nein, er misshandelt das Kind nicht, sondern behandelt es mit Ehrfurcht. Und mit Furcht. Denn er ahnt die Rohheit in sich. Und wir spüren sie auch, als ständige Drohung. Unheimlich die Angst von Ron vor sich selbst, klaustrophobisch das Kellergefängnis des Kindes, beklemmend die Angst der schlaflos verzweifelten Mutter zu Hause - bewacht von der Polizei, belagert von Neugierigen, und beunruhigend die Verwirrung von Nancy, die fast bis zum Schluss im Chaos ihrer Gefühle jenseits jeglicher Logik umherirrt.

Nur Rachel bleibt auf eine fast vollkommene Art unschuldig und in dieser Unschuld herzzerreißend manipulierbar – obwohl zugleich auch sie selber zu manipulieren beginnt - mäandernd zwischen Lolita-Lockung und Kinder-Angst.

Die Autorin schreibt in einer kunstlos klaren Sprache ein rasantes Drama. Mit ruhigen Passagen beispielsweise über historische Staubsauger. Man holt Atem. Der Puls wird langsamer. Barbara Gowdy hat uns im Griff. Gewiss, hin und wieder ist die Geschichte ein wenig zu konstruiert, sehen Zufälle nach Reißbrett aus. Man ist kurz verstimmt und doch schnell wieder gefangen und gespannt, angespannt, nervenzermürbt bis zum Schluss, der – nein, der wird hier jetzt nicht erzählt.


Rezensiert von Gabriele von Arnim

Barbara Gowdy: Hilflos
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Becker
Antje Kunstmann Verlag, München 2007
335 Seiten. 19,90 Euro