Bedingt schuldfähig

Der Hirnforscher Hans Markowitsch und der Journalist Werner Siefer vertreten in ihrem Buch "Tatort Gehirn" die These, dass Kapitalverbrechen fast immer einen hirnbiologischen Hintergrund haben. Damit stellen sie den freien Willen des Menschen in Abrede und machen organische Schäden für menschliches Handeln verantwortlich.
Das Thema wird seit einiger Zeit unter Hirnforschern heiß gehandelt: Wie viel freien Willen hat der Mensch? Ist sein Verhalten vorbestimmt? Diese Debatte beschäftigt auch Philosophen und Juristen: Muss aufgrund neuer Einsichten in die Natur des Menschen unser Rechtswesen geändert werden?
Darüber schreiben der Hirnforscher Hans Markowitsch und der Journalist Werner Siefer in ihrem populär verfassten Buch auf. Kapitalverbrechen, heißt es einleitend, hätten fast immer einen hirnbiologischen Hintergrund. Und weil das Vermögen, Gutes und Schlechtes zu unterscheiden, in den Schaltkreisen des Gehirns kodiert sei, müsse man fragen, ob "die eigentlichen Ursachen von Gewaltverbrechen im Gehirn” liegen.
Doch bevor die Autoren auf diese Frage kommen, muss sich der Leser durch weitere drei Kapitel hangeln, fast die Hälfte des Buches: Man erfährt Allgemeines zum "Würfelspiel der Natur”, gefolgt von einer kleinen Geschichte früherer Bemühungen von Wissenschaftlern, aus Schädelformen und Hirnwindungen auf die Persönlichkeit zu schließen; dann werden die verschiedenen Technologien dargestellt, die heute einen Blick in die Hirntätigkeit gewähren, sowie Forschungsergebnisse zur Fragwürdigkeit des Erinnerns und zum Irren von Zeugen, die sich ihrer falschen Erinnerung nicht bewusst sind.
Am besten liest man diese Kapitel diagonal. Denn das Buch ist in einem schwer erträglichen Pop-Stil geschrieben. Kein platter Kunstgriff wird ausgelassen, um aus jedem Thema eine Story zu machen, und sei es der, vom Flug des Professor Markowitsch nach Afrika zu erzählen, um über eine außergewöhnliche Krankheit zu berichten. Abgegriffene Erzählfiguren wiederholen sich, kein Kapitel beginnt ohne "personal story”, als hätte jemand eine Gebrauchsanleitung für lockeren Journalismus so lange benutzt, bis eine stilistische Einheitssoße entstand. Was zu dem besonnenen Erstautor nicht passt.
In Kapitel 5 kommt das Buch endlich zum Thema. Es beginnt - man ahnt es schon - so: Es war einmal ein sexuell perverser Mehrfachmörder namens XY. Dieser hatte mit 16 Jahren nach einem Motorradunfall ein Schädeltrauma. Er wurde für schuldfähig erklärt und verurteilt. Und erst im Gefängnis traf er auf einen weisen Mann, einen Neurologen, der eine Rückbildung des Frontalhirns entdeckte.
Das ist die Story, das Thema ist ernst. Die These lautet: Viele Täter sind hirnkrank. Ein Grund für ihr Handeln kann eine Verletzung des Frontalhirns sein, weil dann ein Mensch Impulse nicht hemmen kann. Schäden an der Amygdala, einem kleinen für die Emotionen entscheidenden Hirnteil, können zu unkontrollierten Aggressionsschüben führen, ebenso ein Tumor. Beides fand sich bei der Autopsie von Ulrike Meinhof.
Aber das erklärt nicht die RAF. Das wissen auch die Autoren. So geht ihr Buch hin und her zwischen dem Anspruch, Taten aus dem Hirn zu erklären, und einschränkenden Bemerkungen. Im Nationalsozialismus, schreiben sie, wurden normale Menschen aufgrund der Situation zu Massenmördern, ohne hirnkrank zu sein. Untersuchungen an Hinrichtungskandidaten aus den USA zeigen, dass fast alle als Kind missbraucht, vernachlässigt, misshandelt wurden, unter psychotischen Symptomen litten oder organische Hirnverletzungen hatten. Die beste Vorhersage für eine kriminelle Karriere seien daher Gewalt und Missbrauch im Elternhaus und eine Haft des Vaters. An dieser Stelle fragt man sich, warum das Buch nicht "Tatort Familie” heißt. Schließlich ist das Gehirn nur der Ort, an dem soziale und seelische Erfahrungen in Biologie umgeschrieben wird. Aber nicht der "Ursprung des Verbrechens”.
Neu sind weniger diese Erkenntnisse als die Technologien, die sich aus den Neurowissenschaften ergeben. Hirnuntersuchungen können heute zeigen, ob sich Menschen falsch an etwas erinnern, auch wenn sie glauben, es sei richtig. Dann sind andere Zentren im Hirn aktiv. Lügen lassen sich so eher identifizieren als mit dem klassischen Detektor. Die Autoren sehen daher neue Techniken in den Strafprozess einziehen. Vor allem aber plädieren sie für soziale Prävention als wichtigste Maßnahme gegen Gewalt - das ist das Humanistische an diesem Buch. Sie entwerfen eine Welt, in der Kinder schon auf genetische Schwachstellen für Gewalt untersucht werden, um sie dann zu fördern.
Das Buch beginnt mit der Geschichte des Amokläufers von Erfurt. Bis zum Ende wartet man auf eine Erklärung seines Falls vergeblich. Dass dieser zum Beispiel exzessiv brutale Computerspiele spielte, ist den Autoren bei den Ursachen der Gewalt keine Bemerkung wert.
Rezensiert von Ulfried Geuter
Hans J. Markowitsch, Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens
Campus Verlag, Frankfurt/Main, 2007
250 Seiten, 22,00 Euro
Darüber schreiben der Hirnforscher Hans Markowitsch und der Journalist Werner Siefer in ihrem populär verfassten Buch auf. Kapitalverbrechen, heißt es einleitend, hätten fast immer einen hirnbiologischen Hintergrund. Und weil das Vermögen, Gutes und Schlechtes zu unterscheiden, in den Schaltkreisen des Gehirns kodiert sei, müsse man fragen, ob "die eigentlichen Ursachen von Gewaltverbrechen im Gehirn” liegen.
Doch bevor die Autoren auf diese Frage kommen, muss sich der Leser durch weitere drei Kapitel hangeln, fast die Hälfte des Buches: Man erfährt Allgemeines zum "Würfelspiel der Natur”, gefolgt von einer kleinen Geschichte früherer Bemühungen von Wissenschaftlern, aus Schädelformen und Hirnwindungen auf die Persönlichkeit zu schließen; dann werden die verschiedenen Technologien dargestellt, die heute einen Blick in die Hirntätigkeit gewähren, sowie Forschungsergebnisse zur Fragwürdigkeit des Erinnerns und zum Irren von Zeugen, die sich ihrer falschen Erinnerung nicht bewusst sind.
Am besten liest man diese Kapitel diagonal. Denn das Buch ist in einem schwer erträglichen Pop-Stil geschrieben. Kein platter Kunstgriff wird ausgelassen, um aus jedem Thema eine Story zu machen, und sei es der, vom Flug des Professor Markowitsch nach Afrika zu erzählen, um über eine außergewöhnliche Krankheit zu berichten. Abgegriffene Erzählfiguren wiederholen sich, kein Kapitel beginnt ohne "personal story”, als hätte jemand eine Gebrauchsanleitung für lockeren Journalismus so lange benutzt, bis eine stilistische Einheitssoße entstand. Was zu dem besonnenen Erstautor nicht passt.
In Kapitel 5 kommt das Buch endlich zum Thema. Es beginnt - man ahnt es schon - so: Es war einmal ein sexuell perverser Mehrfachmörder namens XY. Dieser hatte mit 16 Jahren nach einem Motorradunfall ein Schädeltrauma. Er wurde für schuldfähig erklärt und verurteilt. Und erst im Gefängnis traf er auf einen weisen Mann, einen Neurologen, der eine Rückbildung des Frontalhirns entdeckte.
Das ist die Story, das Thema ist ernst. Die These lautet: Viele Täter sind hirnkrank. Ein Grund für ihr Handeln kann eine Verletzung des Frontalhirns sein, weil dann ein Mensch Impulse nicht hemmen kann. Schäden an der Amygdala, einem kleinen für die Emotionen entscheidenden Hirnteil, können zu unkontrollierten Aggressionsschüben führen, ebenso ein Tumor. Beides fand sich bei der Autopsie von Ulrike Meinhof.
Aber das erklärt nicht die RAF. Das wissen auch die Autoren. So geht ihr Buch hin und her zwischen dem Anspruch, Taten aus dem Hirn zu erklären, und einschränkenden Bemerkungen. Im Nationalsozialismus, schreiben sie, wurden normale Menschen aufgrund der Situation zu Massenmördern, ohne hirnkrank zu sein. Untersuchungen an Hinrichtungskandidaten aus den USA zeigen, dass fast alle als Kind missbraucht, vernachlässigt, misshandelt wurden, unter psychotischen Symptomen litten oder organische Hirnverletzungen hatten. Die beste Vorhersage für eine kriminelle Karriere seien daher Gewalt und Missbrauch im Elternhaus und eine Haft des Vaters. An dieser Stelle fragt man sich, warum das Buch nicht "Tatort Familie” heißt. Schließlich ist das Gehirn nur der Ort, an dem soziale und seelische Erfahrungen in Biologie umgeschrieben wird. Aber nicht der "Ursprung des Verbrechens”.
Neu sind weniger diese Erkenntnisse als die Technologien, die sich aus den Neurowissenschaften ergeben. Hirnuntersuchungen können heute zeigen, ob sich Menschen falsch an etwas erinnern, auch wenn sie glauben, es sei richtig. Dann sind andere Zentren im Hirn aktiv. Lügen lassen sich so eher identifizieren als mit dem klassischen Detektor. Die Autoren sehen daher neue Techniken in den Strafprozess einziehen. Vor allem aber plädieren sie für soziale Prävention als wichtigste Maßnahme gegen Gewalt - das ist das Humanistische an diesem Buch. Sie entwerfen eine Welt, in der Kinder schon auf genetische Schwachstellen für Gewalt untersucht werden, um sie dann zu fördern.
Das Buch beginnt mit der Geschichte des Amokläufers von Erfurt. Bis zum Ende wartet man auf eine Erklärung seines Falls vergeblich. Dass dieser zum Beispiel exzessiv brutale Computerspiele spielte, ist den Autoren bei den Ursachen der Gewalt keine Bemerkung wert.
Rezensiert von Ulfried Geuter
Hans J. Markowitsch, Werner Siefer: Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens
Campus Verlag, Frankfurt/Main, 2007
250 Seiten, 22,00 Euro